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Was der Rechtspopulismus für Europa bedeutet

Kolumne,

Den europäischen Rechtspopulismus dürfe man nicht als vorübergehendes Phänomen einstufen, meint unsere Kolumnistin Ulrike Guérot. In schleichenden Prozessen würden überall in Europa liberale Grundfesten verschoben: Hin zu einem aggressiven Nationalismus mit verheerenden Abschottungsphantasien. Für ein liberales, offenes Europa verheiße das nichts Gutes.

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

(aus: Erich Kästner: Sachliche Romanze)

Dieses Gedicht aus Erich Kästners Lyrik für den Alltagsgebrauch könnte man heute auf die europäische Demokratie applizieren. Etwas weiter heißt es in dem Gedicht über das Paar, dem die Liebe abhandenkam: „(…) und rührten in ihren Tassen (…) und konnten es einfach nicht fassen.“

So ähnlich dürfte es den meisten europäischen Bürgern – die Nichtpopulisten und die Nichtnationalisten unter ihnen sind immer noch in der großen, aber leisen Mehrheit – heute gehen. Man kann es einfach nicht fassen, mit welcher Lautlosigkeit heute die liberale Demokratie in Europa verlustig geht. Schwupps – und auf einmal ist sie weg. Im Handumdrehen. Und man bemerkt den Verlust immer zu spät. Freiheit, Demokratie oder eben auch Europa, das ist wie Vertrauen, Gesundheit oder Liebe – etwas, dessen Verlust man meistens erst dann bemerkt, wenn es weg ist. Selten werden Dinge wertgeschätzt, wenn man sie hat; sind sie erst verloren, sind sie durch Geld nicht mehr wiederzuerlangen, eben weil sie alle sprichwörtlich unbezahlbar sind. Das dürfte ungefähr dem Zustand in Europa entsprechen, mit Blick auf eine EU, die durch Geld und gute Worte nicht mehr zu retten scheint. Die Hektik, die Aufgeregtheit, mit der die Zivilgesellschaft jetzt auf einmal aufzuwachen scheint, die Fülle an Diskussionen, Onlineforen oder Konferenzen zu dem Thema dürften Ausdruck der Fassungslosigkeit sein: Wie konnte es so weit kommen? Warum haben wir es nicht eher kommen sehen? Wieso konnten wir es nicht verhindern?

Populismus geht nicht vorbei wie ein Unwetter

Der Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa ist nichts Banales und nichts, was unter der Sonne wegschmelzen dürfte wie Erdbeereis. Die Hoffnung, dass der europäische Rechtspopulismus irgendwie vorbeigeht wie ein Unwetter, wenn es etwa ein bisschen mehr Wachstum gibt, dürfte eine müßige sein. Längst hat sich der Populismus verfestigt, längst sind zu viele Länder mit Blick auf die EU in eine Art innere Kündigung gegangen, ist die Liebe zu Europa in breiten Schichten der Bevölkerung abhandengekommen. Diese sich verstetigenden Prozesse dürften nicht mehr einfach zu drehen sein, zumal der Populismus seine Kinder erzieht: wo Zeitungen verboten (Ungarn) oder die Presse eingeengt wird (Polen), ist die Meinungsbildung eingeschränkt, wird die Demokratie gelenkt, verschwinden Argumente, wird vor allem die nachwachsende Generation auf eine neue nationale Erzählung geeicht, die vorher gar nicht im Angebot war. Vor diesem Hintergrund sind vor allem die Jugenddaten ebenso aufschlussreich wie erschreckend: Nein, der europäische Rechtspopulismus ist keine Angelegenheit von ausschließlich alten, weißen Männern; er ist mindestens ebenso eine Angelegenheit von einer vernachlässigten, meist ländlichen Jugend, der man die nationale Fahne wieder als Surrogat für die verpassten Lebenschancen anbietet und die genau deswegen bei der Jugend verfängt. Anders sind die glänzenden Augen von jungen Franzosen, die auf Veranstaltungen von Marine Le Pen die Trikolore schwenken, nicht zu erklären. In der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen liegt der Anteil der Wähler der Front National um 8 Prozent höher als beim Durchschnitt. Wenn Zukunft immer das ist, was die Jugend will oder denkt, spricht allein das dafür, den europäischen Rechtspopulismus nicht als vorübergehendes Phänomen einzustufen. Für Ungarn oder Polen gilt Ähnliches.

Im Zweifel Europa

Ulrike Guérot
Ulrike Guérot (Illustration: Irene Sackmann)

Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des European Democracy Lab an der European School of Governance (eusg). Sie arbeitet als Publizistin, Essayistin und Analystin zu Themen der europäischen Integration sowie zur Rolle Europas in der Welt. Sie ist Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems.

Ulrike Guérot hat europäische Forschungsstellen und Think Tanks in Frankreich und Deutschland aufgebaut, sowie an europäischen und amerikanischen Universitäten zur europäischen Integration geforscht und gelehrt. Sie berät seit vielen Jahren politische Entscheidungsträger im Bereich der Europapolitik, wobei ihr Schwerpunkt auf der Weiterentwicklung europäischer Institutionen und einem gemeinsamen Auftritt Europas in der Welt liegt. Ihre MERTON-Kolumne heißt Im Zweifel Europa, in der sie regelmäßig über aktuelle europäische Entwicklungen und Streitfragen schreibt. 

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Ulrike Guérot auf Twitter

Diese schleichenden Prozesse vollziehen sich oft subtil unterhalb des Radars von öffentlichem Protest oder der Protest bleibt folgenlos, wie in Polen, wo die Haushaltsgesetze, die die Demonstrationen gegen die PiS-Partei über Weihnachten 2016 entzündeten, letztlich doch vom Präsidenten unterschrieben wurden. Der Wind dreht sich, man fügt sich, Widerstand ist zwecklos, Ohnmacht greift um sich. Dann kommt der Rückzug ins Private, dann die Resignation, am Ende ist es niemand gewesen – und keiner konnte es verhindern. Das Schleichende dieser Prozesse ist aus früheren Epochen wissenschaftlich gut untersucht. Ganze Systeme kippen wie Seen, denen es an Sauerstoff mangelt, wenn eine gewisse kritische Masse erreicht ist. Was gestern noch tabu erschien, ist heute nicht mehr anstößig. Subtil werden Grundfesten verschoben. Wovon man dachte, es könne nie passieren, ist auf einmal geschehen, zum Beispiel der Brexit.

Der Brexit ist ein gutes Beispiel für die Eigendynamik eines politischen Prozesses, in dem ein ganzes Land eyes wide shut into disaster geht, der gesunde Menschenverstand nichts mehr ausrichten kann und dann etwas schöngeredet werden muss, von dem jeder weiß, dass es unschön ist. Die kollektive Leugnung ist selbst ein Element von Populismus und Nationalismus, wo mit Stolz kaschiert werden muss, was politisch Unfug ist. Dass das Land, dem wir die Erfindung der liberalen, repräsentativen Demokratie verdanken, vergisst, dass Verfassungsentscheidungen aus gutem Grund normalerweise mit Zweidrittelmehrheit gefällt werden, ist das eine; dass es seine wirtschaftsliberale Tradition fast trotzig einer nationalen Wende opfert, macht dann doch stutzig.

Die kollektive Leugnung ist selbst ein Element von Populismus und Nationalismus, wo mit Stolz kaschiert werden muss, was politisch Unfug ist.
Ulrike Guérot
Ulrike Guérot (Foto: Butzmann)

Ulrike Guérot

Europas Gesellschaften sind gespalten

Offenbar führt der Aufstieg des Rechtspopulismus Europa einerseits in die politische Verdummung, andererseits in die politische Verrohung. Der Ton zum Beispiel zwischen Großbritannien und der EU wird schärfer, erpresserisches Vokabular ist en vogue, es werden wieder Drohungen ausgesprochen; was sonst, wenn das Nationale wieder zum Konkurrenzmerkmal wird, wenn Nationen einander wieder übertrumpfen wollen? „Make America great again“ oder „Make the UK great again“ – britische Künstler sind unlängst von der Regierung May aufgefordert worden, ihre „British creativity“ in den Dienst des Brexits zu stellen – sind daher unheilvolle Botschaften: Denn wenn eine Nation great sein will, was sind dann die anderen? Die Sogwirkung ist verhängnisvoll.

Bei all dem darf indes eins nicht übersehen werden: Der Rechtspopulismus, gepaart mit Nationalismus, spaltet die Nationen, die er zu einen vorgibt. Wo die sogenannten Identitären – ob Geert Wilders, PiS, der Front National oder die AfD – angetreten sind, um die Identität ihrer Nation zu schützen beziehungsweise die Einheit der eigenen Nation in Abgrenzung zu anderen wiederherzustellen, ist in der Konsequenz das Ergebnis genau das umgekehrte: Selten, um nicht zu sagen nie, waren die europäischen Gesellschaften so gespalten wie heute. Ob Österreich oder Frankreich, ob Polen oder die Niederlande – gegenüber stehen sich eine progressive Zivilgesellschaft, die eine Agenda der europäischen Öffnung und das Erbe des europäischen Humanismus verteidigt, und die Identitären, die eine ethnisch konturierte Schließungsagenda propagieren. Wohin der europäische Populismus und der Nationalismus in Europa mithin führen werden, ist derzeit nur schwer vorherzusagen. Aber sicher nicht zur Rekonstitution von glücklichen und ethnisch homogenen Nationalstaaten, die in einer Art Rückwärtsrolle in der Geschichte wieder ihre Rolle und Position von vor 60 Jahren einnehmen können, als hätte es den Abschluss der Römischen Verträge nicht gegeben. Sondern eher zu einer Art – in den Worten von Hans Magnus Enzensberger – „molekularem Bürgerkrieg“, in dem sich einzelne Bevölkerungsgruppen bis in einzelne Familien hinein spinnefeind gegenüberstehen und dezidiert andere Vorstellungen darüber haben, wo die Zukunft des Landes liegt und wie sie gestaltet werden soll. Was immer das für Europa heißen mag, so doch sicherlich nichts Gutes!