Abstellgleis
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Berufsschulen auf dem Abstellgleis

Verzagt, mut- und ideenlos: Die berufsbildenden Schulen sind zwar Deutschlands größte Schulform, in der Bildungsdebatte aber gehen sie völlig unter. Dabei bilden sie eigentlich eine gleichberechtigte Säule in der dualen Ausbildung - nur nimmt das kaum jemand wahr.

Azubimangel, Akademisierungswahn, fehlende Ausbildungsreife - echte oder vermeintliche Negativschlagzeilen über die duale Ausbildung machen seit geraumer Zeit die Runde. „Studium läuft Ausbildung den Rang ab”, überschrieb etwa die Bertelsmann-Stiftung im vergangenen Jahr eine Studie mit Szenarien für den Ausbildungsmarkt im Jahr 2030. „Wenn sich der Trend zum Studium aus den vergangenen zehn Jahren ungebrochen fortsetzt, werden 2030 nur noch etwas mehr als 400.000 junge Menschen eine betriebliche Ausbildung beginnen. Das sind rund 80.000 weniger als heute, was einen Rückgang um 17 Prozent bedeutet”, heißt es in der Untersuchung. Der Philosoph und Bildungsforscher Julian Nida-Rümelin bestreitet mit dem von ihm kreierten Schlagwort vom „Akademisierungswahn“ eine Diskussionsrunde nach der anderen. Und alljährlich zum Beginn des Ausbildungsjahres im August häufen sich die Klagen der Betriebe über fehlende oder ungeeignete Bewerber.

Berufsschulen als bildungspolitische Mauerblümchen

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Eigentlich wäre das ein Umfeld, in dem berufsbildende Schulen offensiv auf ihren Anteil an einer gelingenden dualen Ausbildung hinweisen und Konzepte für eine zukunftsfähige Entwicklung des Ausbildungssektors einbringen könnten. Doch die Berufsschulen schweigen verzagt: Sie sind, so scheint es, zum bildungspolitischen Mauerblümchen verkommen. Dabei sind sind sie von den Entwicklungen auf dem Ausbildungsmarkt direkt betroffen und könnten massiv gegensteuern. Deshalb soll hier zunächst ein Blick auf einige strukturelle Probleme geworfen werden - und danach auf die möglich Antwort der Berufsschulen.

1. Fachkräftemangel

Seit 2007 ist die Zahl der Bewerber für alle Ausbildungsplätze bundesweit von 756.000 auf 613.00 gesunken - ein Rückgang um 19 Prozent. Die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze ging von 644.000 auf 563.000 zwar ebenfalls zurück, trotzdem bleiben Lehrstellen schon rein rechnerisch unbesetzt. Hinzu kommt die Demographie: Schätzungen zufolge werden bis 2030 rund 10,5 Millionen Beschäftigte mit abgeschlossener Berufsausbildung oder Fachabschluss aus dem Erwerbsleben ausscheiden.

2. Der Trend zum Bildungs-Upgrade

Die Wahl immer höherer Bildungsabschlüsse durch immer mehr Jugendliche führt zu einem Absinken der Ausbildungsquote - Julian Nida-Rümelin hat diese Entwicklung pointiert beschrieben. Doch es gibt eine Parallele auf Seiten der Arbeitgeber: Auch sie suchen nach immer höher qualifizierten Mitarbeitern und fördern so die Hinwendung zu höher qualifizierenden schulischen Ausbildungswegen. Nach DGB-Zahlen blieben 2014 von knapp 44.000 offenen Stellen etwa 62 Prozent Jugendlichen mit Hauptschulabschluss verschlossen. Obwohl viele Betriebe händeringend Auszubildende suchen, setzten sie nach wie vor auf eine Bestenauslese. Damit bleibt das System, das einst für die niedrigeren Schulabschlüsse prädestiniert war, vielen Jugendlichen verschlossen. 2005 begannen nur 48 Prozent der Bewerber mit Hauptschulabschluss direkt eine betriebliche Lehre oder vollzeitschulische Ausbildung.

3. Jugendliche mit Migrationshintergrund haben es noch schwerer

Nur 37 Prozent von ihnen finden direkt eine Lehrstelle – deutlich weniger als deutschstämmige Hauptschüler (54 Prozent). Prekäre Beschäftigung für lediglich angelernte Hilfskräfte ist die Folge, Zuwanderung in die betriebliche Ausbildung findet kaum statt. Integration über Ausbildung kann so nicht stattfinden.

4. Kaum durchlässige Bildungswege

Die strikte Trennung zwischen akademischer und betrieblicher Ausbildung entspricht nicht mehr der Realität. Trotzdem stehen sich Studium und Ausbildung meist konkurrierend gegenüber. Es fehlt eine bessere Verzahnung beider Ausbildungswege durch wechselseitige Anerkennung von Leistungen - es gibt zum Beispiel zu wenige Hochschulangebote für beruflich Qualifizierte.

5. Eine Nebenrolle in der Lehrerausbildung

Lehramtsstudiengänge haben es an den Unis ohnehin schon schwer, sie gelten oft nur als halbe Fachwissenschaft. Noch schwerer haben es die angehenden Berufsschullehrer: Ihre Ausbildung wird kaum beworben und selten als wirklich wichtig wahrgenommen. Kein Wunder, dass Bildungspolitiker immer wieder meinen, dass gerade an Berufsschulen die Nachwuchslücken mit Quereinsteigern gefüllt werden können - schließlich geht es ja „nur“ um die berufliche Bildung. Das ist ein Affront, denn es ist klar: Eine richtige Schule braucht richtige Lehrerinnen und Lehrer.

Die Berufsschule muss ihren Platz im sich verändernden Bildungssystem zwar erst noch finden, aber sie könnte diese Herausforderung mit Selbstbewusstsein angehen - denn sie bringt aus ihrer Geschichte heraus etliche Problemlösungskompetenzen mit, die an anderen Schulformen gerade erst mühsam erarbeitet werden. So hat sie zum Teil jahrzehntelange Erfahrungen mit etlichen der Herausforderungen, über die im Schulsystem derzeit diskutiert wird. Das reicht vom Umgang mit ausgesprochen diversen Schülergruppen und die damit verbundene Abkehr von Leistungshomogenität über die Individualisierung des Lernens bis hin zur nunmehr auch an Gymnasien diskutierten stärkeren Orientierung an der Praxis des Arbeitsmarkts. 

Extrem hoher Lehrkräftemangel im gewerblich-technischen Bereich.

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Hintergrund: Stimmen von der Kick-off-Tagung zur Berufsschullehrer-Initiative des Stifterverbandes.

Und anders als häufig wahrgenommen, bieten die berufsbildenden Schulen mit ihrer starken Ausdifferenzierung an Bildungsgängen die ideale schulische Plattform für ein Lernen, das die Option für eine weitergehende und höher qualifizierende Schul- oder Studienkarriere offen lässt.

Um als innovatives Schulsystem in sinnvoller, pädagogisch-fachlicher Differenzierung die Grundlage für eine nachhaltige Qualifikation seiner Schülerinnen und Schüler legen zu können, müssen die berufsbildenden Schulen die notwendigen finanziellen und pädagogischen Kapazitäten selbstbewusst einfordern. Und sie müssen offensiv zeigen, wie sie welche Herausforderungen bereits erfolgreich angenommen und in schulische Lernprozesse transferiert haben. Als Schulform mit den meisten Schülern in Deutschland brauchen die Berufsschulen eine starke Stimme – nicht zuletzt auch, um sich den Platz als gleichberechtigter Partner in berufsbildenden Prozessen zurück zu erkämpfen. Ein „weiter so” in einer selbstgewählten Abhängigkeit von nicht zu beeinflussenden gesellschaftlichen Wandlungsprozessen würde die Berufsschulen jeglicher Gestaltungsmacht berauben.

Stattdessen müssen sie die zahlreich vorhandenen positiven Beispiele ihrer Arbeit identifizieren, flächendeckend etablieren und damit von vorne herein jedem Versuch entgegen treten, die berufliche Schulbildung etwa durch eine Verkürzung der Berufsschulpflicht oder der Stundenzahl zu entwerten - wie es nicht wenige Arbeitgeber fordern. Berufspraktische Lernprozesse ohne schulische Beteiligung mögen denkbar sein – sinnvoll sind sie auf keinen Fall. Deshalb brauchen wir die Berufsschulen mehr denn je: als Motor und Ideengeber im Bildungssystem. Und vor allem als gute Lernorte für hunderttausende Jugendliche.

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Die Autoren sind Verfasser des Buchs:
Berufsschulen auf dem Abstellgleis. Wie wir unser Ausbildungssystem retten können.Von Katharina Blaß und Armin Himmelrath. Edition Körber Stiftung, 240 Seiten, 16 €, ISBN 978-3-89684-176-6.