Feather Grass
Roberto Verzo: "Feather Grass"(beschnitten), CC BY 2.0 via flickr.com

Bedienungsanleitung für das NEURONETZ

Kolumne,

Wir befinden uns im Jahr 2106. Das Internet ist Vergangenheit, nun gibt es das NEURONETZ. Es ist die konsequente Weiterentwicklung des Netzes, das viele Jahrzehnte von verheerenden Irrtümern und Falschannahmen durchgeschüttelt worden war. Doch um sich im NEURONETZ zurechtzufinden, gilt es einiges zu beachten. - Eine Zukunftsvision von Patrick Breitenbach.

Namaste! Dein Zugang zum NEURONETZ wurde dir soeben erfolgreich gewährt. Dein eigener Ego-Tunnel wurde hiermit an die kollektive Wirklichkeitskonstruktion 3.0, kurz NEURONETZ, erfolgreich angeschlossen. Dein künftiges Wirken und Nicht-Wirken im NEURONETZ wird sich in Echtzeit auf die Struktur des gesamten NEURONETZES und damit auch unmittelbar auf die jeweiligen Ego-Tunnel (Lebenswirklichkeiten) der angedockten User auswirken. Gerade weil eine derart enorme Verschränkung der Wirklichkeitskonstruktionen vorliegt, sind mittlerweile alle User von NEURONETZ sehr darauf bedacht, eine entsprechende Achtsamkeit bei der Bedienung dieser kollektiven Wirklichkeitstechnologie zu entwickeln. Dazu dient das folgende - auf deinen Ego-Tunnel - persönlich zugeschnittene Bedienungshandbuch.

1. Mind the unification

Die ersten User von NEURONETZ gingen von der aus heutiger Sicht absurd klingenden Annahme aus, dass die digitalen und analogen Wirklichkeitskonstruktionen voneinander strikt getrennt seien. Auf der einen Seite gäbe es „das Virtuelle“ und auf der anderen Seite „die Realität“. Es hat letztlich Jahrzehnte gedauert bis alle User von NEURONETZ begriffen hatten, dass die Wirklichkeitskonstruktionen erster, zweiter und dritter Ordnung stets nahtlos ineinander greifen. Es war wirklich nicht gerade einfach, alle teilnehmenden Ego-Tunnel in dieser Hinsicht miteinander zu synchronisieren. Daher ist es von großer Wichtigkeit, diese Regel trotz ihrer anscheinenden Trivialität auch hier und jetzt für dich zu wiederholen.

Die Vernetzung der Dinge

Patrick Breitenbach (Illustration: Irene Sackmann)

Die Vernetzung der Dinge heißt Patrick Breitenbachs regelmäßige Kolumne über Innovation, Digitalisierung und Wandel. Breitenbach ist derzeit Senior Manager Corporate Learning bei Bayernwerk und entwickelt dort Konzepte, Strategien und Formate zum Thema Lernen und unterstützt das Unternehmen im digitalen und nachhaltigen Wandel. Als gelernter Mediendesigner und langjähriger Podcaster beschäftigt er sich seit vielen Jahren autodidaktisch mit der soziologischen, ökonomischen, politischen, philosophischen, pädagogischen und kulturellen Perspektive der Digitalisierung.

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2. Remember Emotions

In einer älteren Variante des Bedienungshandbuchs (damals "Netikette" genannt), lautete die erste Regel zur Bedienung des NEURONETZES: „Remember the Human“. Da mittlerweile auch transhumane Entitäten an das NEURONETZ angeschlossen sind, wie z.B. Gegenstände, Algorithmen oder Institutionen, wurde diese Regel im Laufe der Jahre präzisiert und auf ihre ursprüngliche Intention reduziert: Achte auf Gefühle.

In den Anfängen des NEURONETZES kam es zu zahlreichen emotionalen Reiz-Reaktionsketten und Emotionsepidemien, die sogar für Kurzschlüsse in der Wirklichkeit erster und zweiter Ordnung sorgten. Heute wissen wir, dass eine unkontrollierbare Hyperemotionalisierung der Wirklichkeitskonstruktion 3.0 zu fatalen Auswirkungen in allen anderen Wirklichkeitskonstruktionen führen kann.

Bis heute verfügt NEURONETZ jedoch über keine emotionale Firewall. Emotionen sind nach wie vor eine unersetzbar spannende Komponente der Wirklichkeit erster, zweiter und dritter Ordnung. Daher sind die User von NEURONETZ - sofern sie denn über Gefühle verfügen - stets selbst für ihr Verhalten und dessen mögliche Konsequenzen verantwortlich. DIE universellen Entitätsrechte (basierend auf den vor einigen Jahrhunderten formulierten Menschenrechten) gelten auch im NEURONETZ uneingeschränkt für alle angedockten Entitäten.

3. Mind the gap!

Bei der Verwendung vereinfachter und abstrakter Zeichensysteme sei davor gewarnt, dass die User Gefühlsreaktionen aufgrund von fehlenden Feedbackkanälen (z.B. Mimik und Gestik des gegenüberliegenden Ego-Tunnels) nicht vollständig und ausreichend dekodieren können. Informationslücken (Gaps) werden mit Interpretationen und Vermutungen des eigenen Ego-Tunnels automatisch aufgefüllt und so zu neuen Wirklichkeitsszenarien interpoliert, die jedoch extrem von der gemeinten Wirklichkeitskonstruktion des Gegenübers abweichen können. Missverständnisse oder gar heftige Konflikte sind daher oftmals die Folge dieser Wirklichkeitslücken. Achte bitte darauf.

4. Remember the leak!

Die Struktur von NEURONETZ ist darauf ausgelegt, Informationen, Konversationen und damit Wirklichkeitskonstruktionen dauerhaft zu konservieren. Das sogenannte „Recht auf Vergessen“, welches erstmals Anfang des 21. Jahrhunderts als eine verzweifelte Forderung zur Bewältigung von Erregungsdynamiken formuliert wurde, ist trotz der Möglichkeit, Informationen auch mit Verfallsdatum zu formulieren, natürlich nie zu 100 Prozent implementierbar. Wo ein Wille ist, da ist im Zweifel auch ein Leck. 

5. Can't forget? Forgive!

Da ein ultimatives Vergessen in die allumfassende dezentrale Struktur von NEURONETZ technisch nicht implementierbar ist, steht daher die Verantwortung jedes einzelnen Users im Vordergrund. Daher gilt es zur Vermeidung möglicher Emotionskatastrophen eine den Ansprüchen kompatible Kulturtechnik zu erlernen: Gegenseitiges Verzeihen.

Werden Gefühle von Ego-Tunneln verletzt, so ist dies unverzüglich für Beobachter kenntlich zu machen. Erst dann besteht die Option einer gemeinsamen Klärung und einer Eindämmung des emotionalen Ausbruchs. Sind die Konfliktparteien nicht zu einer Klärung bereit, wird der betreffende Diskursstrang umgehend vom „EmoWatchBot“ des NEURONETZES als „Flame“ gekennzeichnet. Somit wissen Außenstehende, dass es sich hier nicht um eine sachliche Auseinandersetzung mit Hinblick auf eine mögliche erkenntnisreiche Synthese handelt, sondern um einen emotionalen Konflikt zwischen mehreren Ego-Tunneln. Das Betreten von „Flames“ erfolgt auf eigene Gefahr! Entitäten mit künstlicher Intelligenz (ausgenommen sind natürlich „MediationBots“) ist die Einmischung in „Flames“ strengstens untersagt. 

6. Caring of sharing

Es hat viele Jahrzehnte gedauert, bis die User von NEURONETZ begriffen haben, dass ihr eigenes Nutzungsverhalten (Sharing) unmittelbare Auswirkungen auf die Wirklichkeitskonstruktion aller anderen User hat. Die meisten User schenkten große Teile ihrer Aufmerksamkeit genau den Dingen und Themen, die sie ja eigentlich bekämpfen wollten und dadurch aber erst recht sichtbar und allgegenwärtig machten. Erst viel später erkannten die User dass es hilfreicher ist, den Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, die sie sich wünschten und von denen sie noch viel mehr sehen wollten.

Im Laufe der Zeit und nach mehreren schmerzhaften Erfahrungen erkannten die User, wie sie Wirklichkeit im NEURONETZ zielführender, konstruktiver und wertiger - vor allem für sich selbst - konstruieren konnten. Auch die Entkopplung der bis dahin eingeführten ökonomischen und psychologischen Belohnungssysteme, die ausschließlich Quantität mit hoher emotionaler Erregbarkeit belohnte, sorgte für eine Entspannung der eigenen und gesamten Wirklichkeiten und erzeugte so einen gigantischen soziokulturellen Fortschritt.

Blick zurück ins Jahr 2016

Foto: Jason Samfield - "Red"- CC BY-NC-SA 2.0 - via flickr.com

Liebe Nutzer des NEURONETZES, ein Blick in die Geschichte kann viel über die Gegenwart lehren. Wir veröffentlichen deswegen hier einen Text aus dem Jahr 2016. Er beschäftigte sich mit einem für das damalige Internet zentralen Problem: Der öffentlich per Web geäußerten Kritik, des Umgangs mit ihr und der Frage, wie Kritik das Netz und die Gesellschaft voranbringen könne. 

Christoph Kappes: Das Internet als Kritikmaschine

7. Last Exit: Off

In den ersten Dekaden von NEURONETZ entstand ein seltsames Abhängigkeitsverhältnis mancher User. Das Phänomen wurde damals mit „Always On“ beschrieben und entzieht sich nach heutigem Stand unserer Vorstellungskraft. Damals glaubte man als User tatsächlich, man müsse auf jeden Kommunikationsreiz reagieren - selbst wenn dieser nicht unmittelbar an den eigenen Ego-Tunnel adressiert war. Kombiniert wurde dieser Reiz noch mit der Auffassung, man müsse jeden Ego-Tunnel, der sich ein wenig anders als der eigene verhält ungefragt kritisieren, korrigieren und maßregeln. Feedback war damals keine Option, die man erbittet, sondern wurde als Bringschuld interpretiert, die man offenbar unaufgefordert immer und überall abliefern musste. User baten nicht um Feedback, erhielten es aber stets ungefragt.

Natürlich ergaben sich daraus zahlreiche Konflikte, die sich zu den großen Emotionskatastrophen am Anfang des 21. Jahrhunderts katalysierten. Im Zuge dieser emotionalen Dynamiken konnten zahlreiche User auch nicht mehr ihren persönlichen Zugang zur Wirklichkeit 3.0 abschalten. Sie fühlten sich zunehmend überfordert und ihre emotionale Balance geriet aus den Fugen. Es wurde in der damaligen Zeit sogar über gesetzlich verordnete Auszeiten nachgedacht - was angesichts der heutigen Benutzung ziemlich absurd klingt. Auch wenn es für viele an der Stelle banal klingen mag: NEURONETZ kann - im Gegensatz zur Wirklichkeitskonstruktion erster und zweiter Ordnung - auch ohne Meditationstechniken vom eigenen Ego-Tunnel jederzeit getrennt werden.

Danke für deine Achtsamkeit. Wir wünschen deinem Ego-Tunnel eine erhellende Zeit im NEURONETZ.