Porträt Christian Dustmann
Christian Dustmann (Foto: privat)

„An britischen Universitäten weht ein unternehmerischer Geist“

Der Ökonom Christian Dustmann ging vor 25 Jahren nach England, um empirisch forschen zu können. Deutschland hält er nach wie vor für überbürokratisiert und risikoavers. In seinem Fach erkennt der frisch gekürte Weizsäcker-Preisträger aber auch Lichtblicke.

Herr Prof. Dustmann, Sie haben gerade einen Preis für Politikberatung bekommen. Wann hat die Politik zuletzt auf Ihre Expertise als Ökonom gehört?
Die Politik hört selten direkt auf die Expertise von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen. In der Ökonomie zum Beispiel gibt es viele Forscherinnen und Forscher, die sich mit bestimmten Themengebieten auseinandersetzen, und die kommen natürlich nicht immer zu den gleichen Forschungsergebnissen. Die Politik bedient sich dann häufig dieser unterschiedlichen Ergebnisse so, wie es opportun ist. Auch muss die Politik oft den Spagat bewältigen zwischen dem, was aus wissenschaftlicher Sicht vielleicht angeraten ist, und dem, was die Menschen und verschiedene Interessenvereinigungen wollen. 

Hat die Corona-Pandemie nicht dazu geführt, dass die Stimme der Wissenschaft in der Politik mehr Gehör findet?
Es kommt darauf an. Die Erkenntnisse der Wissenschaft sind jetzt natürlich sehr wichtig für die Eindämmung der Pandemie. Und da haben wir erfreuliche Ergebnisse gesehen. In Großbritannien haben Vorhersagemodelle des Epidemiologen Neil Ferguson vom Imperial College London im März letzten Jahres dazu geführt, dass die britische Regierung von der ursprünglichen Strategie der Herdenimmunität abgerückt ist. 
Im globalen Vergleich haben Länder wie Taiwan, Australien, Neuseeland, China und Südkorea in der Pandemie eine ganz klar wissenschaftlich determinierte Richtung eingeschlagen. Die ökonomischen Folgen werden für diese Länder sehr wahrscheinlich nur ein Bruchteil von dem sein, was die Pandemie Großbritannien, Deutschland, Italien und auch die USA kosten wird. Hier war man eben nicht bereit, diesen Weg so konsequent zu begehen.

Was kann eine wissenschaftsbasierte Politikberatung denn leisten?
Ich denke, wir haben als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Verantwortung, der Politik zu sagen, wie Forschungsergebnisse zu interpretieren und zu gewichten sind. Was sind sehr überzeugende Forschungsergebnisse, welche sind eher kritisch zu beurteilen? Das kann die Politik nur schwer leisten. In den Naturwissenschaften funktioniert das etwas besser als in den Sozialwissenschaften, durch einen weitaus schnelleren Begutachtungsprozess der Top-Journale. Was zum Beispiel in „The Lancet“ oder „Science“ publiziert wird, ist durch einen rigorosen Begutachtungsprozess gegangen. In den Sozialwissenschaften, und vor allem in der Ökonomie, dauern diese Prozesse leider sehr viel länger. Die Debatten werden dann regelmäßig basierend auf Meinungen und eben nicht auf der Basis von begutachteter Forschung geführt. Ich denke, als Ökonomen haben wir die Verantwortung, für wichtige Debatten eine evidenz- und forschungsbasierte Grundlage zu schaffen. 

So wie Sie das in Großbritannien beim Thema Zuwanderung gemacht haben?
Ja, wir haben vor sieben Jahren am fiskalischen Effekt der Öffnung Großbritanniens für die Zuwanderung aus den A8-Ländern, also den osteuropäischen Staaten, gearbeitet.

Zur Person

porträt Christian Dustmann
Christian Dustmann (Foto: privat)

Christian Dustmann ist Professor für Volkswirtschaftslehre (Economics) am University College London (UCL) und gründete hier 2004 das Centre for Research and Analysis of Migration (CReAM). Mit seinen empirischen Studien wirkt der führende Arbeitsmarkt- und Migrationsökonom auch auf gesellschaftliche Debatten ein. Vom Stifterverband und von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina wurde der Forscher nun mit dem Carl-Friedrich-von-Weizsäcker-Preis 2020, der deutschen Auszeichnung auf dem Gebiet der wissenschaftsbasierten Politikberatung, bedacht.

Ich denke, wir haben als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Verantwortung, der Politik zu sagen, wie Forschungsergebnisse zu interpretieren und zu gewichten sind.
Porträt Christian Dustmann
Christian Dustmann (Foto: privat)

Christian Dustmann

Migrations-Ökonom

Das haben wir getan, weil horrende Geschichten im Umlauf waren. Die Zugewanderten würden wenig arbeiten, aber hohe Transferleistungen in Anspruch nehmen, den Menschen Krankenhausplätze wegnehmen und so weiter. Wir haben uns die Daten angeschaut und festgestellt, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Die Arbeitspartizipationsquote war sehr viel höher als bei den in Großbritannien Geborenen. Die Zugewanderten sind sehr viel jünger und besser gebildet und die Inanspruchnahme sozialer Leistungen war sehr viel geringer. Im Großen und Ganzen hat sich ergeben, dass diese Migrantengruppen erheblich mehr in das Wohlfahrtssystem einzahlen, als sie herausnehmen. 
Diese Ergebnisse haben für viel Aufruhr gesorgt. Gerade im rechten Spektrum wurden die Ergebnisse einfach abgelehnt und als falsch kritisiert. Aber an diesem Report, der begutachtet und in einem renommierten Journal publiziert wurde, kam man natürlich nicht mehr vorbei. Durch diese Arbeit haben wir also dazu beigetragen, die Debatte um die fiskalischen Effekte der Immigration zu versachlichen.

Vor Corona war Migration das Topthema. Wie blicken Sie als Bevölkerungsökonom auf die Pandemie? 
Die Pandemie wird sich, auch länderspezifisch, auf sehr unterschiedliche Bereiche auswirken. Sie beschleunigt die Einführung bestimmter Technologien in der Arbeitswelt. Denken Sie an den Handel über das Internet. Viele Berufssparten sind jetzt vollständig aufs Internet umgestiegen. Unternehmen haben über das letzte Jahr eine enorme Einsparung bei den Reisekosten gehabt. Firmen werden auch Bürokapazitäten eher abbauen. Das wiederum wird einen Einfluss auf den Immobilienmarkt haben. 
Es gibt aber natürlich auch starke negative Auswirkungen. Gerade jüngere Menschen, die noch in der Ausbildung sind, die aus sozial eher benachteiligten Verhältnissen kommen und dieses Jahr nicht dadurch kompensieren konnten, dass ihre Eltern sie unterrichtet haben oder dass sie Zugang zu guten Schulen oder guter Computerausstattung gehabt haben, sind extrem stark betroffen. Diese Entwicklungen können zu einer gestiegenen Bildungsungleichheit führen. Das beunruhigt mich sehr und hier müssen dringend Lösungskonzepte entwickelt werden. 

Intensiver Aufschwung wird kommen

Christian Dustmann am Tisch
Christian Dustmann (Foto: privat)

In Deutschland wird debattiert, ob Migranten durch die Pandemie stärker betroffen sind, weil sie häufig in Berufen arbeiten, die sich nicht ins Homeoffice verlegen lassen. Was sagt die Wissenschaft?
In Deutschland ist es meines Wissens nicht möglich, als Wissenschaftler Zugang zu demografischen Daten Infizierter und Verstorbener zu bekommen. In Großbritannien wussten wir schon nach der ersten Welle, welche ethnischen Gruppen und Berufe besonders stark betroffen waren. Ethnische Minderheiten arbeiten sehr häufig in den Serviceberufen, sitzen an der Kasse in den Supermärkten, machen Reinigungsaufgaben. Aufgaben, bei denen häufiger Kontakt zu anderen Menschen besteht und damit auch das Risiko, dem Virus ausgesetzt zu sein, höher ist. Das schlägt sich in den Erkrankungen und Todesfällen nieder. In der zweiten Welle hat man diese Gruppen angesprochen und zu Prioritätsgruppen bei der Impfung erklärt. Das hat in Großbritannien Leben gerettet. Deshalb ist es so wichtig, dass der Wissenschaft entsprechendes Datenmaterial zur Verfügung gestellt wird. Der Zugang zu entsprechendem Datenmaterial könnte in Deutschland noch deutlich verbessert werden. 

Die Pandemie ist hoffentlich irgendwann vorbei, aber wir werden noch lange mit den Folgen kämpfen – vor allem mit den wirtschaftlichen. Wie sieht die Welt Ihrer Meinung nach in fünf Jahren aus? Wo stehen Deutschland und England? 
Der ökonomische Schaden wird für Großbritannien sehr wahrscheinlich größer sein als für Deutschland. Wir haben in Deutschland im Vergleich sehr starke soziale Institutionen und ein sehr gutes Gesundheitssystem. In Großbritannien mussten innerhalb sehr kurzer Zeit Ressourcen geschaffen werden und das war sehr kostspielig. Auch eine Form des Kurzarbeitergeldes musste erst eingeführt werden. 
Wir werden andererseits aber auch einen intensiven Aufschwung sehen. Teilweise gibt es große Ersparnisse, die investiert werden können. Das gilt für Privathaushalte wie für Firmen. Sobald die Impfungen großflächig durchgeführt wurden und sich eine Normalisierung einstellt, werden wir zunächst mal viel Wachstum sehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir in Deutschland in fünf Jahren kaum noch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie spüren werden. Die wirtschaftlichen Auswirkungen in Großbritannien werden sich wahrscheinlich etwas länger hinziehen. 

Sie lehren und forschen seit über 25 Jahren in London. Gab´s in Deutschland kein Interesse für Ihr Forschungsgebiet? 
Es gab verschiedene Gründe. Damals waren in Deutschland die Hochschulmöglichkeiten für einen ambitionierten Forscher, vor allem in der empirischen Ökonomie, sehr schwierig. Man konnte hierzulande vor 25 Jahren kaum empirisch arbeiten, weil es wenig Daten gab und aus Datenschutzgründen alles weggesperrt wurde. Das war in Großbritannien und den USA anders. 
Was für mich auch ganz wichtig war – auch später, um mein Forschungszentrum aufzubauen –, ist die Flexibilität der englischen Universitäten. Sie sind sehr autonom und verglichen mit Deutschland sehr unbürokratisch. Da weht eine Art unternehmerischer Geist. Wenn ich etwas entwickeln, etwas aufbauen möchte, dann kann ich das machen. Und Spitzenforschung wird mehr belohnt. 

Man konnte hierzulande vor 25 Jahren kaum empirisch arbeiten, weil es wenig Daten gab und aus Datenschutzgründen alles weggesperrt wurde.
Porträt Christian Dustmann
Christian Dustmann (Foto: privat)

Christian Dustmann

Daten sind quasi der Treibstoff Ihrer Forschung. Aus welchen Quellen können Sie schöpfen?
Wir arbeiten heute viel mit administrativen Daten, in Deutschland beispielsweise mit den Daten der Bundesagentur für Arbeit zu sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Ähnliche Datensätze gibt es auch in anderen Ländern. Ein Vorreiter in der Beziehung ist Skandinavien. Dort ist es möglich, praktisch alle erhobenen Daten aus verschiedenen Datensätzen zu verknüpfen. Das heißt, ich kann nicht nur Individuen analysieren, sondern auch ihre Eltern, Kinder und Partner, also den ganzen Kontext, und das auch über einen zeitlichen Verlauf. 

Was lässt sich denn so herausfinden?
Ich kann beispielsweise verstehen, wie sich Wohlstand von einer Generation auf die nächste fortsetzt. Und was es heißt, wenn eine Person Opfer eines Verbrechens wird. Welchen Einfluss das auf ihren Lebenszyklus und auf die Familie hat. In Dänemark arbeiten wir gerade an solchen Daten und können jetzt ermitteln, welche Wohlfahrtseffekte Verbrechen haben. Die Ergebnisse machen wir auch der Politik verfügbar. Das sind enorm wichtige Einsichten, wenn die Politik abwägen muss, wie viel Geld sie in die Verbrechensbekämpfung investieren soll.  

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Welche Auswirkungen hat der Brexit auf Ihre Forschungsarbeit? 
Es wird für uns schwerer werden, Forschende einzustellen und Studierende für ein Studium nach Großbritannien zu bekommen. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Großbritannien kommen aus Europa. Ihre Partner werden hier nicht mehr so leicht einen Job finden. Sie brauchen Visa, alles wird bürokratischer. Der Zugang zu europäischen Daten wird schwieriger. Auch der Handel mit Großbritannien ist schon sehr eingebrochen. Es ist also alles sehr unerfreulich und ich sehe eigentlich keine Vorteile, sondern nur Nachteile.
Allerdings sind die Briten, ist Großbritannien, auch immer wieder für eine Überraschung gut. Es gibt hier eine gewisse Energie, die uns in Deutschland manchmal etwas zu fehlen scheint, weil wir alles überbürokratisieren und wir zu risikoavers sind. Die Impfkampagne ist ein gutes Beispiel. Ich denke, wir brauchen in Deutschland und Europa jetzt auch mehr Energie. Wir brauchen mehr Spirit, mehr unternehmerisches Denken, um die Herausforderungen in einer sich sehr schnell verändernden Welt angehen zu können.  

Stellen Sie dem Hochschulsystem in Deutschland heute eigentlich ein besseres Zeugnis aus?
Ja, unbedingt! Es hat sich erheblich verbessert, gerade auch in der empirisch orientierten Wirtschaftswissenschaft. Es gibt sehr viele Talente in Deutschland und sehr viel sehr gute Forschung, die aus Deutschland kommt. Ich bin überzeugt, dieser Trend wird sich weiter fortsetzen. 

Ist der Preis vom Stifterverband und von der Leopoldina vielleicht ein Lockangebot, um künftig in Deutschland weiter zu forschen?
Nun, was die Zukunft bringt, das weiß man nicht. Wir sind in der Ökonomie, anders als in der Rechtswissenschaft oder Soziologie, eine sehr globale Wissenschaft mit einer globalen Kommunikation und viele Erkenntnisse lassen sich verallgemeinern. Meine Forschung hat sich schon immer sehr stark auf Deutschland bezogen. Ich kooperiere hier sehr eng mit vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die Idee ist, das deutsche Umfeld so zu verstehen, dass man auch im Ausland daraus lernen kann. Und ob ich nun in Deutschland oder in Großbritannien bin, das ändert nichts daran.