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Bürokratische und andere Plurale

Kolumne,

Unser Sprach-Kolumnist Peter Eisenberg nimmt sich dieses Mal des Plurals an. In der Sprache der Bürokraten und Politiker treibt er ganz ungewöhnliche Blüten. Dort gibt es dann Bedarfe, Haushalte oder Herkünfte. Nichts scheint mehr unmöglich, vor allem wenn sich Fußball-Lehrer in der Grammatik verheddern.

Die Sprachen der Erde lassen sich danach einteilen, welche ihrer Nominalausdrücke einen Plural bilden. Hat eine Sprache überhaupt den Plural, dann bildet sie ihn auf jeden Fall beim Personalpronomen mit Sprecherbezug (ich – wir), danach für den Adressaten (du – ihr), es folgen die Pronomina der dritten Person (er – sie, mancher – manche, viel – viele …), dann Bezeichnungen für Verwandtschaft, für Personen, für Belebtes und schließlich für Nichtbelebtes. Offenbar ist die Bildung der Mehrzahl umso wichtiger, je näher das Bezeichnete auf den Menschen bezogen ist. Man spricht hier von einer Belebtheitshierarchie, nach der die Nominalausdrücke, allen voran die Pronomina und Substantive, geordnet werden können. Diese Hierarchie liegt zahlreichen und sehr unterschiedlichen grammatischen Strukturierungen in vielen Sprachen zugrunde. Sie ist uns in einer früheren Kolumne beispielsweise als verantwortlich für die Grundreihenfolge der Satzglieder des Deutschen begegnet.

Das Deutsche gehört zu den Sprachen, die im Prinzip für sämtliche Nominale einen Plural bilden. Einschränkungen sind möglich, etwa wenn die Bedeutung eines Wortes keine Mehrheit zulässt wie bei den Pronomina einer und jeder. Eben dies unterstellt man auch für bestimmte Substantive. Wenn das Bezeichnete in irgendeinem Sinn einzig zu sein scheint, wird auf Plurallosigkeit des Wortes geschlossen. So kommt es zur Rede von „falschen Pluralen“, von Pluralen also, die es eigentlich nicht geben sollte. In älteren Grammatiken, Wörterbüchern und Sprachratgebern tauchen sie häufiger auf als in neueren, aber ausgestorben sind sie nicht. Es geht im ersten Schritt nur um die Frage, welche Substantive einen Plural bilden können, und nicht schon darum, wie er gebildet wird.

Spracharbeit

Peter Eisenberg
Peter Eisenberg (Illustration: Irene Sackmann)

Dem Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg geht es seiner Kolumne Spracharbeit weniger um die eigene Behauptung im Diskurs, sondern eher um die Sprache selbst. Bevor gewertet wird, geht es erst einmal um das, was man heute über diese Gegenstände weiß, also um Tatsachen. In diesem Sinn möchte die Kolumne zur Aufklärung über den Zustand des Deutschen beitragen. Im Großen und Ganzen wird sich zeigen, dass diese Sprache sich in hervorragender Verfassung befindet. Was nicht heißt, dass es nichts an ihrem Gebrauch zu kritisieren gäbe. Immer bitten wir die Leserschaft um etwas Geduld. Die Sprache ist nun einmal kein ganz einfaches Gebilde, erschließt sich aber doch viel eher, als die verbreitete Furcht vor ein wenig Grammatik erwarten lässt. Und dann geht von ihr eine Faszination aus, die ihresgleichen sucht.

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Hölzer, Stähle und Fette

Lange war die Meinung verbreitet, Stoffsubstantive wie Holz, Stahl, Papier, Staub, Wasser, Wein, Sauerstoff und Helium hätten nur einen Singular. Stoffsubstantive bezeichnen Substanzen als ganze, was Plural auszuschließen scheint. So wurde der sogenannte Sortenplural lange bekämpft, aber natürlich ohne Erfolg. Mit Hölzer sind Sorten von Holz gemeint, zum Beispiel Hart- und Weichholz, Exoten und einheimisches Holz. Durch die Differenzierung von Materialien und Werkstoffen breitet sich der Sortenplural seit dem 19. Jahrhundert immer weiter aus (häufig zuerst in Fachsprachen) und führt auch zu dem entsprechenden Singular ein Holz mit der Bedeutung „eine Sorte von Holz“. Allerdings finden sich einige Bildungshemmungen. Wir sprechen problemlos von Stählen und Fetten, aber wie lautet der Plural von Milch, Silber oder Butter? An der Bedeutung kann es nicht liegen, sondern nur an der Form. Dies darzulegen, wäre ein Thema in eigenem Recht.  

Ähnlich liegen die Dinge bei Sammelbezeichnungen wie Müll, Obst, Schmuck, Gebäck, Gewölk, Geäst. Sie haben schon im Singular etwas Pluralisches. Der Sortenplural von Müll (Mülle zum Beispiel als Normal- und Sondermüll) ist ohne Weiteres, der von Obst und Schmuck aber nur unter Aufbietung von etwas Fantasie möglich. Die meisten Sprecher kennen diese Plurale nicht. Was sie bedeuten, ist klar. Ob es sie gibt, ist eine Frage zum Grübeln und Recherchieren, nicht eine des einfachen Richtig oder Falsch.

Eine riesige Gruppe von Substantiven, die etwas Nichtbelebtes bezeichnen, sind die Abstrakta. Bei der Bildung und Verwendung von Abstrakta sind Politik, Recht, Verwaltung und Wissenschaft besonders kreativ. Längst haben wir uns an Freiheiten, Qualitäten, Aufenthalte, Erlasse, Instrumentarien, Überhänge, Haushalte, Zuständigkeiten und Ausfälle gewöhnt. Doch manchen Sprecher beschleicht ein mulmiges Gefühl, wenn von Bedarfen, Herkünften, Zukünften, Nichtübersteigbarkeiten und Entschiedenheiten die Rede ist. Der Plural von Politik, Boom oder Zusammenarbeit erschließt sich noch weniger. Die Bedeutung von Abstrakta ist schon für den Wortstamm selbst weniger leicht zu fassen als bei den Konkreta. Die Pluralform setzt noch eins drauf. Wo man den Singular schwer versteht, versteht man den Plural erst recht nicht.

Was eine Grammatik über die Bildbarkeit des Plurals vertritt, zeigt sich am ehesten unter dem Stichwort Singularetantum. Ein Singularetantum (das heißt auf Deutsch etwa „nur singularisch“) hat nach Auffassung dieser Grammatik keinen Plural, entsprechend hat ein Pluraletantum keinen Singular. Letzteres ist der Fall bei Wörtern wie Ferien, Leute, Kosten, Spesen. Viel schwieriger bleibt es bei den Singulariatantum. Wir wollen ja nicht vorschnell von falschen Pluralen sprechen, aber trotzdem stoßen wir auf überraschend viele scheinbar ganz normale Substantive, die sich der Pluralbildung fast ganz verweigern. Dazu gehören etwa Armut, Bewusstsein, Durst, Hunger, Ruhe, Ruhm, Schutz, Sport, Überfluss, Verrat, Vertrauen. Es lohnt sich, bei jedem von ihnen über die Gründe der Hemmung nachzudenken. 

Die Bremer waren uns heute einige Ticke voraus.

Jürgen Klinsmann

Fußballtrainer

Vielleicht erinnern sich manche Leser noch daran, dass Jürgen Klinsmann einmal Trainer vom FC Bayern München war. Unmittelbar nach der Heimniederlage des FC Bayern München gegen den SV Werder Bremen äußerte er den Satz: „Die Bremer waren uns heute einige Ticke voraus.“ Klingt der Satz komisch, weil Tick keinen Plural hat, oder lautet der Plural die Ticks?