Aktivistische Wissenschaft
Illustration: Jens Bonnke

Darf Wissenschaft aktivistisch sein?

Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich laut in öffentliche Streitdebatten einmischen, runzeln viele die Stirn: Wie bitte kann jemand neutral forschen und parallel einen politischen Standpunkt beziehen? Das passt doch gar nicht zusammen – oder doch? Einblicke in die Fallhöhen einer aktivistischen Wissenschaft.

Er wolle ihr ein Verbotsregime in den Mund legen? Das mache sie nicht mit! Mit diesen Worten wehrte sich die Politökonomin und Transformationsforscherin Maja Göpel im November 2020 gegenüber Fernsehmoderator Jörg Thadeusz im Talk aus Berlin. Es ging um die Autoindustrie. Thadeusz versuchte ihr Statements zu entlocken, dass sie politische Forderungen aufstellen wolle, für ein staatliches Verbot von SUVs beispielsweise. 

Im Fernsehstudio des RBB lag der Vorwurf Ökodiktatur in der Luft. Thadeusz zog während des 30-minütigen Gespräches einige Register, um das Gespräch in diese Richtung zu lenken: Die Spezies Mensch gehe jetzt mit einem schwer protestantischen Schuldverständnis durch die Welt. Es sei das Wesen von Wissenschaft, dass sie sich nicht einig ist. „Und dann immer zu sagen: Ihr müsst auf die Wissenschaft hören – das ist doch nicht ganz sauber, Frau Göpel, Sie als Wissenschaftlerin wissen es eigentlich besser!“

Maja Göpel ließ den Journalisten argumentativ recht alt aussehen, wehrte sich gegen die unterschwelligen Vorwürfe mehrmals deutlich und holte das Gespräch auf die Sachebene zurück. Göpel zählt zu den einflussreichsten Stimmen in den Debatten rund um die ökologische Zukunft. In die Falle, dass Wissenschaft die Politik dominieren wolle, tappte sie nicht. 

Das Gespräch demonstrierte eindrücklich eine gesellschaftliche Kontroverse, die spätestens seit den Klimaprotesten 2019 an Fahrt aufgenommen hat: Mischt sich Wissenschaft zu sehr in Politik ein? Öl in dieses Feuer gossen 2020 die wissenschaftlichen Empfehlungen zur Bewältigung der Corona-Pandemie. Zur Ökodiktatur gesellte sich fix die Rede von einer Virendiktatur.

Klimadiktatur
Illustration: Jens Bonnke
Mancher fürchtet eine Klimadiktatur, wenn Agenda-Wissenschaftler politische Entscheidungen beeinflussen

Wenn Wissenschaft zur Dienstleistung wird

Welche Rolle die Wissenschaft in der Polis einnehmen darf und sollte, wurde schon von den Philosophen der griechischen Antike diskutiert – das Thema ist nicht neu, sondern 2.500 Jahre alt. Auffällig ist aber die besondere Brisanz, die sich gegenwärtig um die Frage, ob und wie tief Wissenschaft in politische Entscheidungsprozesse eingreift, entwickelt hat. Harsche Vorwürfe gegenüber Maja Göpel, sie wolle bloß die Verbraucher bevormunden, oder etwa gegenüber dem Berliner Virologen Christian Drosten, einem der zentralen Regierungsberater während der COVID-19-Pandemie, sind hierfür nur zwei Beispiele von vielen. 

Christian Bermes, Professor am Institut für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau, erkennt hinter dieser Brisanz vielfältige Gründe. Zum einen werde von der Wissenschaft in Zeiten erhöhter Unsicherheit absolute Sicherheit erwartet – die Wissenschaft könne diese Erwartung aber nicht erfüllen. Zum anderen zeichne sich „das Bild einer Dienstleistungs­wissenschaft“ ab, die auf Knopfdruck Rezepte und Lösungen liefern soll – für die Bedürfnisse des Einzelnen und der Gesellschaft. 

Dabei ist Wissenschaft zuerst einmal nur einem Erkenntnisinteresse verpflichtet – denn die Wissenschaften sind frei in Forschung und Lehre. So legt es das Grundgesetz, Artikel 5, fest. Für diese Freiheiten übernehmen Wissenschaftler in ihrer Arbeit und hinsichtlich ihrer Forschungsprojekte Verantwortung; gegenüber der Gesellschaft ist Wissenschaft rechenschaftspflichtig. Die Frage ist allerdings, wie diese Rolle der Wissenschaft im 21. Jahrhundert ausgefüllt und wahrgenommen wird. 

Jutta Allmendinger
Jutta Allmendinger (Foto: David Ausserhofer)
Soziologin Allmendinger: „Wissenschaft muss mitgestalten“

Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und eine lautstarke Befürworterin einer gesellschaftlich engagierten Forschung. Aus ihrer Sicht sind alle wichtigen Forschungsfragen dieser Zeit hoch politisch, „denn sie betreffen zentrale Lebensbereiche der Menschen, die politisch gestaltet werden“. Die Soziologin nennt die Demokratie, Integration, Gleichstellung, soziale Ungleichheit und den Klimaschutz als Beispiele. Wenn Forschende hierzu wichtige Ergebnisse in den Händen halten, „dürfen sie sie nicht in die Schublade stecken, sondern müssen mit ihnen die Lösung gesellschaftlicher Probleme mitgestalten“. 

Doch wie weit sollte dieses Engagement reichen? Und besteht nicht die Gefahr, dass wissenschaftlicher Aktivismus die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzt? 

Spiel mit der Glaubwürdigkeit

Klimawandel und Artensterben: Seit einigen Jahren engagieren sich auffällig viele Akteurinnen und Akteure aus den Umwelt- und Klimawissenschaften in der Öffentlichkeit. Der Start der Initiative Scientists for Future mit mehr als 26.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Frühjahr 2019 stützt diese Beobachtung. Immer mehr Forschende werden medienwirksam aktiv; einige tun es privat, viele explizit in ihrer Expertenrolle.

Gerade dieses steigende Engagement aus den Umwelt- und Klimawissenschaften wird seit zwei Jahren nicht nur gelobt, sondern an Hochschulen und in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Viele fragen sich, ob hitzige Debatten in Medien, Petitionen, Demonstrationen oder gar Aktionen des zivilen Ungehorsams wie bei Extinction Rebellion der wissenschaftlichen Integrität schaden. Und ob wissenschaftliche Expertise sich deshalb nicht besser über jene erprobten Formate zu Wort melden sollte, die ein wissenschaftliches Erklären ermöglichen, wie Bürgervorträge, Ringvorlesungen oder Podcasts.

Die Befürchtung ist: Je stärker sich Wissenschaft politisch einmischt, desto mehr kann ihre Autonomie zum Ziel politischer Angriffe werden. Wissenschaft ist zudem komplex und selten eindeutig. Petitionen und Protestaktionen erfordern dagegen einfache Botschaften, auf den Punkt formuliert. Konfrontative Talkshowformate leben von emotionalen Zuspitzungen. Das könnte Forschende dazu verleiten, sich sicherer und eindeutiger zu geben, als es der Stand der aktuellen Forschung hergibt. Wann also setzen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Dienst für eine politische Sache ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel?

„Wenn Aktivismus Instrumentalisierung der Wissenschaft zu beliebigen Zwecken bedeutet, dann gerät die Wissenschaft sicherlich in schwieriges Fahrwasser“, sagt Christian Bermes. Wenn allerdings Wissenschaft und die Beteiligung der Wissenschaft an der öffentlichen Debatte „unter dem Motto des Aufklärens stehen“ – und nicht darauf reduziert werden, „anderen die Antwort vorzugeben“ oder „ein Bild vorzugeben“, nach dem gehandelt werden müsse, dann würden auch Wissenschaftskritiker sehr schnell still werden, erklärt Bermes weiter. „Weil dieser Aufklärungsimpuls selbsttragend ist, dem muss man sich dann stellen.“

In der Corona-Pandemie, einer Ausnahmesituation, zeigten Virologen und Epidemiologen, wie die wissenschaftliche Aufklärungskommunikation in der breiten Bevölkerung gelingen kann. So zeichneten der Stifterverband und die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im April 2020 Christian Drosten mit einem Sonderpreis für die herausragende Kommunikation in der COVID-19-Pandemie aus. Drosten habe es geschafft, „dass die Wissenschaft in der Öffentlichkeit innerhalb sehr kurzer Zeit als verlässlichste Orientierung für das Management der Krise wahrgenommen wird“, so die Begründung. Er erkläre den Menschen auf anschauliche, transparente und faktenbasierte Weise, „was die Wissenschaft weiß, woran sie arbeitet und welche Unsicherheiten bestehen“.

Christian Bermes
Christian Bermes (Foto:privat)
Philosoph Bermes: „Schwieriges Fahrwasser“

Bis heute wird Drosten nicht müde, immer wieder nicht belegte Thesen zu korrigieren und auch die Grenzen seines eigenen Wissens mitzuteilen. Oft wies er darauf hin, dass Wissenschaft bedeutet, diese Grenzen ständig neu auszuloten und vermeintliche Gewissheiten zu revidieren. Bundesforschungsministerin Anja Karliczek wie auch der Stifterverband sehen eine solche Kommunikationsarbeit als Schlüssel für das steigende Vertrauen der Gesellschaft in die Wissenschaft. Mit Blick auf Desinformationen und Populismus forderte die Ministerin deshalb in einem FAZ-Interview im November, „dass die Wissenschaftler raus zu den Leuten sollten“.

Doch diese aufklärerische Aufgabe, die Drosten vor allem über den 100-Millionen-fach gehörten wöchentlichen NDR-Podcast Coronavirus-Update geleistet hat, ist für Forschende alles andere als einfach. So gilt Drosten zwar als Paradebeispiel für eine gelingende Wissenschaftskommunikation, gerade in Krisenzeiten. Als Person aber ist er durch diese Arbeit zur Zielscheibe sehr heftig geäußerter öffentlicher Kritik geworden. Vieles von dem, was die Politik entscheidet, wird ihm angekreidet – obwohl der Virologe seit über einem Jahr immer wieder betont, dass Wissenschaft die Politik zwar berät, aber keine politischen Entscheidungen fällt. 

Das größte Pfund, das wir als Wissenschaftler haben, ist die Glaubwürdigkeit.

Michael Bonitz

Physiker an der Universität zu Kiel

Dieses Beispiel zeigt, wie viel Macht der Wissenschaft zugewiesen wird – und tatsächlich innewohnt. Man kann die Wissenschaften durchaus als fünfte Gewalt in der Gesellschaft betrachten, was wiederum eine enorme Verantwortung mit sich bringt. Forschende sollten deshalb ihre Glaubwürdigkeit nicht unnötig selbst strapazieren. 

„Das größte Pfund, das wir als Wissenschaftler haben, ist die Glaubwürdigkeit“, sagt der Physiker Michael Bonitz, und alles, was die eigenen Aussagen oder Kenntnisse irgendwie angreifbar oder unglaubwürdig machen könnte, sollte man tunlichst vermeiden – weil man damit nicht nur sich selbst, sondern der ganzen Wissenschaft schade. 

Die Frage, wie viel Aktivismus die Wissenschaft unbeschadet vertragen kann, ist durchaus gerechtfertigt. WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger hält politische Forderungen in bestimmten Situationen für angebracht: Forschende werden nicht zu Propagandistinnen und Propagandisten, wenn sie Kampagnen unterstützen, schreibt sie in ihrem Plädoyer im Tagesspiegel. Denn „der Schulterschluss über Fachgrenzen hinweg und mit anderen gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren bleibt zuweilen das einzig wirksame Mittel, um überfällige Reformen anzustoßen“. 

Gerade das kollektive Einschreiten von Fachleuten, beispielsweise über Manifeste, ist gängige Praxis. Meist gibt es einen besonderen Anlass und in der Regel triftige Gründe. Scientists for Future entstand 2019 in dem Moment, als die Bewegung Fridays for Future unter Druck geriet und der Vorwurf laut wurde: Kinder sollten Klimapolitik doch lieber den Profis überlassen. Ein weiteres Beispiel liegt weiter zurück: 1957 verfassten 18 angesehene Wissenschaftler das Manifest der Göttinger Achtzehn – genau zu dem Zeitpunkt, als die Regierung unter Konrad Adenauer die atomare Aufrüstung der deutschen Bundeswehr plante. Drei überregionale Zeitungen druckten das Manifest damals ab, in dem die Atomforscher und Kernphysiker bekannt gaben, dass sie jedwede Mitarbeit an einem deutschen Atomwaffenprogramm verweigern. Als der öffentliche Druck immer stärker wurde, ließ die Regierung von ihren Aufrüstungsplänen ab. 

Beide Initiativen findet Michael Bonitz gerechtfertigt und gut, weil sie aus seiner Sicht der jeweiligen Situation angemessen waren. Er forscht am Institut für Theoretische Physik und Astrophysik an der Universität zu Kiel. Mittlerweile stört ihn allerdings, dass fortwährend laute und aufgeregte Forderungen aus vielen Ecken kämen, darunter auch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die etwas Politisches über die sozialen Netzwerke oder die vielen Petitionen, Protestaufrufe, empörten Kommentare in den Medien und Aufklärungsaktionen einforderten. Auch wenn viele der aktiven Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dies ausdrücklich als Privatperson in ihrer Freizeit täten und viele dieser Initiativen gut gemeint seien, sieht Bonitz diese Entwicklung kritisch: All das könne schnell in Beliebigkeit enden. Und Beliebigkeit schadet aus seiner Sicht der Wissenschaft, „weil sie deren besondere, gründliche Herangehensweise an komplexe Fragestellungen völlig entwertet“. 

Es geht darum, die Errungenschaft, den Schatz der Wissenschaftsentwicklung der vergangenen 300 bis 400 Jahre zu bewahren: Es sind die Werkzeuge, mit denen sich auch die komplexesten Zusammenhänge sicher erfassen lassen, beginnend mit gründlichen Experimenten und Hypothesen, die immer aufs Neue unvoreingenommen geprüft werden müssen. Und dieses „unvoreingenommen“ passt so gar nicht mit politischem Aktivismus zusammen. 

Forschung für die Schublade

Schon jetzt lassen viele Forscherinnen und Forscher Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit lieber unveröffentlicht in der Schublade, wenn diese die Erwartungen des Experimentes nicht bestätigen. Die Rede ist von sogenannten Falsch- oder Negativresultaten, die der Wissenschaft reihenweise verlorengehen, weil diese Resultate Wissenschaftlerkarrieren nicht befördern, gar zukünftige Forschungsmittel gefährden oder von den Forschenden schlichtweg als peinlich empfunden werden. Ulrich Dirnagl, Schlaganfall-Forscher an der Berliner Charité, berichtet über dieses weit verbreitete Phänomen eindrücklich im Durchfechter-Podcast des Stifterverbandes. Das Problem: Andere Forschende geraten mit ihrer Arbeit auf diese Weise unnötig in ähnliche Sackgassen. Das Wissenschaftssystem wird uneffektiv und Ressourcen werden verschwendet – also auch Steuermittel. 

Wenn die politische Weltanschauung einer forschenden Person bei Experimenten nun ebenso mitschwingt, dürfte sich diese ungute Praxis eher verstärken als abschwächen. Jeder dieser Vorfälle erscheint für sich gesehen zunächst recht unbedeutend. Wenn sich diese Problematik aber in der Breite verstärkt, würden so wissenschaftliche Korridore weiter verengt statt geöffnet. Vielfalt ginge verloren. 

Hinzu kommt die Außensicht auf das System Wissenschaft. Bonitz glaubt nicht, dass es lange gut gehen kann, wenn Forscherinnen und Forscher als Privatperson eine politische Ideologie vertreten. Selbst wissenschaftliche Koryphäen laufen so Gefahr, angegriffen zu werden, befürchtet der Physiker: „Weil die Menschen dieses völlig konträre Engagement nicht verstehen.“ Er selbst startete mit Kollegen 2017 in Kiel als Teil der internationalen Protestbewegung March for Science die Ringvorlesung Wissenschaft und alternative Fakten. Anlass waren die massiven Angriffe auf die Wissenschaft in den USA gewesen, nachdem Donald Trump die Präsidentenwahl gewonnen hatte und damit anfing, Falschnachrichten zu verbreiten. Seitdem greifen Experten und Expertinnen in der Ringvorlesung Dutzende Themen auf und pflückten die dazu kursierenden Falschnachrichten vor einem öffentlichen Publikum wissenschaftlich auseinander: von Impfmythen über Grünes Wachstum bis COVID-19-Pandemie und Klima-Geoengineering. Der Professor ist dabei immer wieder erstaunt, wie gut sich das Format eignet, um selbst stark polarisierende und hochemotionale Themen auf eine sachliche Ebene runterzuholen.

Trump und die Wissenschaft
Illustration: Jens Bonnke
Das System Trump: Mit „alternativen Fakten“ die wissenschaftliche Integrität untergraben.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten Emotionen eher abkühlen und nicht anfachen, findet Michael Bonitz. Gerade in den Klimawissenschaften beobachtet er dagegen immer mal wieder, wie einige ihre Emotionalität in die Debatte einbringen oder gar Panik schüren, um die Ziele rüberzubringen, von denen sie als Wissenschaftler überzeugt sind. Das sieht der Physiker kritisch: Wenn der Verdacht oder der Eindruck entstehe, „da legt jemand gar nicht alle Daten auf den Tisch, sondern hebt jetzt nur die hervor, die dieses Katastrophenszenario stärken, unterdrückt aber solche Daten, die etwas anderes validieren würden“ – das sei auf lange Sicht fatal. Laut Bonitz täten das aber leider viele Leute, was er entschieden ablehne: „Dagegen gehe ich auch vor, indem wir das beispielsweise in unserer Ringvorlesung aufgreifen.“

Abgesehen von den von Bonitz beschriebenen unguten Praktiken entstehen darüber hinaus Konflikte, wenn Wissenschaft einerseits die Politik berät, sie dann aber auch öffentlich kritisiert. Das übt, gerade in Krisenzeiten, Druck von zwei Seiten auf die politischen Akteurinnen und Akteure aus. Der Schweizer Historiker Caspar Hirschi griff dieses Thema im April in einem Beitrag im Deutschlandfunk auf. Zwar sei die wissenschaftliche Expertise in der politischen Debatte „enorm wichtig“, weil wir ohne sie nicht durch eine Krise kämen. Aus seiner Sicht gibt es aber immer auch andere legitime normative oder interessengebundene Überlegungen, die einbezogen werden müssen und die deutlich machen, „dass Politik keine reine Vollzugsinstanz der Wissenschaft sein kann“. 

Wenn sich Wissenschaft aktiv in politische Diskussionen begibt, setzt sie jedenfalls nicht ihre Exzellenz aufs Spiel, ist Jutta Allmendinger überzeugt. Dies zu glauben, sei eine ziemlich deutsche Sichtweise, schrieb sie im Tagesspiegel. Die Soziologin macht dies an einem Beispiel fest: In Großbritannien – einem der begehrtesten und erfolgreichsten Wissenschaftsräume der Welt – sei die direkte Beeinflussung politischer Entscheidungen durch wissenschaftliche Evidenz gängige Praxis.

Komplexes Klimawissen und konkrete Politik

Sandra Kostner sieht dies deutlich kritischer. Die promovierte Historikerin arbeitet seit 2010 als Migrationsforscherin an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd und war einige Zeit an der Universität Sydney in Australien tätig. Sie sieht auf die Deutschen das Problem der Agenda-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler zukommen, die in angelsächsischen Ländern bereits verbreiteter seien, und nennt die hochpolitisierten Klimawissenschaften als Beispiel: „Das Problem ist, dass Politik und Wissenschaft unterschiedliche Sprachen sprechen – und Politiker sich deshalb sehr anstrengen müssen, um das komplexe Klimawissen in konkrete Politik zu überführen.“ 

Sandra Kostner
Sandra Kostner (Foto: privat)
Historikerin Kostner: „Moral ersetzt Argumente“

Wenn dann manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die eine Agenda verfolgen, diese politisierte Sprache direkt anbieten, sei die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie damit auch in die Politik durchdringen, glaubt Sandra Kostner: „Als Politiker kann man so mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Man kann den hochpolitischen Raum ruhigstellen, indem man mit solchen Wissenschaftlern zusammenarbeitet, die fortwährend in Talkshows auftreten und die politischen Forderungen schon vorformuliert und verbreitet haben, und sich damit selbst das sehr starke Einarbeiten in die Materie ersparen.“ Darüber hinaus sei es aus politischer Sicht hilfreich, dass diese Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihr Forschungsgebiet moralisieren, also beispielsweise mit dem Anspruch auftreten, dass jeder, der ihrer Klimaforschung nicht folgt, der Menschheit schweren Schaden zufügt. „Moral ersetzt hier jedes evidenzbasierte Argument“, so die Historikerin.

Im März 2021 gründete Sandra Kostner mit 70 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem deutschsprachigen Raum das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit. Die mittlerweile mehr als 500 Mitglieder (Stand: 11. Juni 2021) wollen auf ihre Sorge hinweisen, dass die „verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werde“. Hierfür gab es viel mediale Aufmerksamkeit, darunter auch Vorwürfe, das Netzwerk könne die Kritikpunkte bislang erst wenig begründen

Aus Sicht von Sandra Kostner nimmt das Problem der Agenda-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler definitiv weiter zu. Was sie damit genau meint? Agenda-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler zeichnen sich nach Auffassung Kostners dadurch aus, dass diese erstens ihr Weltbild zum Ausgangspunkt ihrer Forschung machen und zweitens Wissenschaft mit politischem Aktivismus verbinden. Dabei orientieren sie sich an einem engen Korsett einschlägiger Theorien und Narrative und ziehen sich darüber hinaus mit Gleichgesinnten in eine Selbstbestätigungsblase zurück, so die Kritik Kostners: „Oft genug werden dann abweichende wissenschaftliche Ergebnisse überhaupt nicht mehr anerkannt, sondern als umstritten oder problematisch oder als rechts betitelt und oft genug die entsprechenden Wissenschaftler mit moralischen Diskreditierungen überzogen.“

Oft genug werden abweichende wissenschaftliche Ergebnisse überhaupt nicht mehr anerkannt, sondern als ‚umstritten‘ oder ‚problematisch‘ oder als ‚rechts‘ betitelt und oft genug die entsprechenden Wissenschaftler mit moralischen Diskreditierungen überzogen.
Sandra Kostner
Sandra Kostner (Foto: privat)

Sandra Kostner

Historikerin

Kritik ist keine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit

Wenn man die Dynamiken von konfrontativen Talkshows oder Social Media außen vor lässt, die bekanntermaßen schnell ein Eigenleben entwickeln können, stellt sich an dieser Stelle die Frage: Will eine Person lediglich die Moralkeule schwingen oder äußert sie ernst gemeinte moralische Überlegungen zu einem wissenschaftlichen Thema?

Aus Sicht von Michael Brüggemann, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hamburg, hat Klimaschutz eine moralische Dimension: „Es gibt eine Verantwortung, die wir als Menschheit für den Planeten haben – das ist eine moralische Frage, und diese Moral auszublenden, ist ja in der Vergangenheit der Fehler von Wissenschaft gewesen.“ Brüggemann nennt die Entwicklung der Atombombe als Beispiel.

Er selbst erforscht die Klima- und Wissenschaftskommunikation. Die meisten Vorwürfe gegenüber öffentlich aktiven Personen aus den Klimawissenschaften hält er für überzogen. Dass man beispielsweise lügen würde, strategisch Fakten wegließe oder Kritiker mundtot machen wolle. „Es kann sein, dass es so etwas gibt, aber mir sind keine Belege dafür bekannt.“ Die Klimaforscherinnen und -forscher, die sich politisch engagieren, täten das deswegen, weil die Politik jahrelang nicht auf die Warnungen der Wissenschaft gehört habe.

Aktivismus ist für Brüggemann nichts anderes als gesellschaftliches Engagement oder politisches Engagement: „Wenn man ein politischer Mensch ist, dann kann jeder das beurteilen, wie er will – aber es ist weder für Wissenschaftler noch für Journalisten verboten, sich politisch zu engagieren.“ Das sei ja das Wesen der Demokratie, „dass sich viele Menschen aus allen möglichen Berufsgruppen gesellschaftlich engagieren, ihre politischen Meinungen haben und Gesellschaft verändern wollen“.

Brüggemann verweist darauf, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler transparent machen müssen, wann sie ein Forschungsergebnis referieren und wann sie eine politische Meinung daraus ableiten. Wenn sie damit offen umgehen, bleiben sie glaubwürdig. Sie sollten aber mit einer Sache rechnen: „Wenn ich mich als Wissenschaftler politisch äußere oder politisch engagiere, dann kann ich politischen Gegenwind bekommen. Dass ich kritisiert werde, ist dann keine Einschränkung meiner Wissenschaftsfreiheit.“

wissenschaftliche Transparenz
Illustration: Jens Bonnke
Größtmögliche wissenschaftliche Transparenz kann aufgeheizte gesellschaftliche Diskurse abkühlen.

Der privilegierte Zugang zu Wissen motiviert viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, politisch aktiv zu werden, so auch Franziska Müller. Sie probierte längere Zeit aus, die Rollen als Wissenschaftlerin und als Aktivistin voneinander zu trennen. In jungen Jahren engagierte sie sich bereits in der Umwelt- und Klimabewegung, später dann ebenso im Themenfeld Antirassismus und Postkolonialität. Jetzt forscht Franziska Müller als Juniorprofessorin für Globale Klimapolitik an der Universität Hamburg zum Anthropozän, zu Governance und zu Kolonialität in der Energiewende – und sie versteht sich mittlerweile offen als scholar activist. 

Das oft geforderte Neutralitätspostulat sieht Müller auf ihre Forschungsbereiche bezogen kritisch: „Es führt in die Irre, weil man dann so tut, als gäbe es in diesen Bereichen eine unpolitische Wissenschaft und als wäre das der beste Raum für diese Wissenschaften.“ Zudem gebe es aus der Tradition der Kritischen Theorie heraus sowieso keine ideologiefreien Räume. 

Weil die aus ihrer Sicht „künstliche Trennung“ zwischen Wissenschaft und Aktivismus nicht gut funktioniert, sieht sich Franziska Müller mittlerweile in der Rolle, gerade diesen Erfahrungsschatz, den sie über lange Zeit als Aktivistin sammeln konnte, zu bewahren, zu vermitteln und zu versuchen, diesen „mit der eigenen wissenschaftlichen Forschungsarbeit zu verweben“. Die Juniorprofessorin glaubt nicht nur, dass ihr dadurch ein „leidenschaftlicheres, bewussteres und auch qualitativ besseres Forschen“ gelingen kann. Sie ist überzeugt davon, dass das klassische, vorherrschende Wissenschaftsverständnis beginnt sich zu wandeln. Denn im Zeitalter der Postfaktizität reiche das klassische „Broadcasting“ von Wissenschaft bei Weitem nicht mehr aus. „Wir müssen lernen, auf Personen und auch auf deren Ängste zuzugehen“, so Müller. 

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssten deshalb, neben den klassischen Wegen, auch neue Wege einschlagen und neue Methoden entwickeln, wie sich der Elfenbeinturm noch sehr viel weiter öffnen lässt. Franziska Müller verweist auf urbane Labs und Citizen Science als Beispiele.

Franziska Müller
Franziska Müller (Foto: privat)
Scholar Aktivist Franziska Müller: „Das klassische Wissenschaftsverständnis wandelt sich.“

Durch ihre aktivistischen Erfahrungen glaubt sie zu wissen, wie Bürger und andere außenstehende Akteurinnen und Akteure in wissenschaftliche Prozesse eingebunden werden können – und das auf Augenhöhe.

Der Weg von Franziska Müller, ihre wissenschaftliche Arbeit mit ihrem Aktivismus „zu verweben“, ist für viele Kolleginnen und Kollegen ein No-Go. Inwieweit ihr diese Arbeitsweise glücken wird, bleibt abzuwarten. Noch ist die Scholar-Activist-Bewegung weltweit eine Randerscheinung, die sich vorrangig mit Gerechtigkeitsfragen und politischer Ökologie beschäftigt. Doch gerade unter jungen Forschenden wächst der Wunsch, die eigene Arbeit und das eigene Wissen verständlich und authentisch mit der Gesellschaft zu teilen und über Missstände und Lösungsansätze aufzuklären. Sie tun es über alle möglichen Formate: von eigens verfassten Wikipedia-Einträgen über Drehbücher für Theaterprojekte, frei zugängliche Webinare, historische Stadtspaziergänge bis hin zu selbst produzierten Podcasts, wo sie stundenlang über die eigene Forschungsarbeit und deren Hintergründe berichten können.

Wissenschaftskommunikation wird lauter werden

So wird die Wissenschaftskommunikation in den nächsten Jahren vielfältiger, lauter, interessanter, aber auch unübersichtlicher werden. Forschende sollten deshalb unbedingt auch immer kommunizieren, aus welchen Gründen und in welcher Rolle sie in diesen einen Moment jenes Wissen teilen. 

Transparenz allein wird aber nicht reichen, das hat die wissenschaftliche Pandemie-Kommunikation gezeigt. Forschende benötigen für die Vermittlung ihrer Wissenschaft starke kommunikative Fähigkeiten, vor allem wenn sie zu Krisenthemen aufklären wollen. Entsprechende Lehrangebote an Hochschulen sind aber Mangelware. So erwischt die mitunter raue öffentliche Debatte immer noch viel zu viele Forschende kalt, wenn sie sich aus dem Labor herauswagen. Schlecht vorbereitet laufen sie Gefahr, dass ihr gesellschaftliches Engagement nach hinten losgeht, weil sie sich vielleicht zu unüberlegten Aussagen hinreißen lassen, für die sie dann geradestehen müssen. Das dient vielleicht der Einschaltquote von Talkshows, mehr aber auch nicht.