(Illustration: iStock/Jonathan Woodcock)

Der Inhalt fremder Köpfe: Vortragskommunikation mit Erdlingen

Ein Sender, ein Empfänger, die beide dieselbe Sprache sprechen. Eigentlich könnte Kommunikation so einfach sein. Doch ob uns unser Gegenüber wirklich versteht, hängt von vielen weiteren Faktoren ab. Bei wissenschaftlichen Vorträgen wird das besonders deutlich, weiß unsere Kolumnistin Kathrin Passig.

Sally nimmt eine Murmel, legt sie in einen Korb und deckt den Korb zu. Dann verlässt sie das Zimmer. In ihrer Abwesenheit nimmt Anne die Murmel aus Sallys Korb und steckt sie in eine Schachtel. Jetzt kommt Sally wieder zur Tür herein. Wo wird sie nach der Murmel suchen?

Sally und Anne sind Puppen in einem Experiment, mit dem man bei Kleinkindern das Vorhandensein einer Theory of Mind testet. Das ist die Fähigkeit, zu erkennen, dass man im eigenen Kopf Vermutungen, Wünsche und Pläne beherbergt, dass es anderen auch so geht und dass sich die Vorgänge in fremden Köpfen nicht immer mit denen im eigenen Kopf decken.

Im Sally-Anne-Experiment geht es um die Einsicht, dass andere Menschen nicht über dieselben Informationen verfügen wie man selbst. Im Alter von vier Jahren wissen die meisten Kinder, dass Sally die Murmel im Korb suchen wird, weil sie beim Wechsel des Verstecks nicht zugesehen hat. Kinder unter vier Jahren glauben, dass Sally die Murmel in der Schachtel vermutet.

Kathrin Passig

Kathrin Passig
Kathrin Passig (Foto: Susanne Schleyer/autorenarchiv.de)

Missglückte Kommunikation

Defizite der Theory of Mind beobachtet man außer bei Kleinkindern bei Personen mit Autismus-Spektrum-Störung, Schizophrenie, Lern- und Aufmerksamkeitsstörungen, bei Betrunkenen und Übermüdeten. In dieser Aufzählung, die ich Wikipedia entnommen habe, fehlt eine wichtige Gruppe: Menschen, die Vorträge halten.

Im Mai besuchte ich eine Tagung, die von der Kommunikation mit Außerirdischen handelte. Fragen rund um diese Kommunikation sollten „in der Diskussion mit Forschenden aus Literatur- und Medienwissenschaft, Astronomie und Geschichtswissenschaft, Filmwissenschaft und Neuropsychologie“ erörtert werden. Es war eine interessante Veranstaltung und ich möchte keine Kritik an ihr üben, die nicht auch alle anderen wissenschaftlichen Tagungen beträfe, an denen ich teilgenommen habe. Ich greife sie hier heraus, weil vor dem Hintergrund des Redens über Kommunikation mit Außerirdischen das Scheitern der Kommunikation unter Erdlingen noch absurder wirkte als sonst.

Ich bin bereit zu glauben, dass auch Neuropsychologen und Astronomen wissen, was gemeint ist, wenn jemand in einem Vortrag ohne weitere Erläuterungen von Signifikat und Signifikant spricht. Ich selbst muss es zwar jedes Mal wieder nachschlagen, aber ich vergesse ja auch regelmäßig, dass man beide Enden von Kabeln irgendwo anschließen sollte. Allerdings reicht mein Glaube an die gemeinsame Verständigungsgrundlage aller akademischen Disziplinen nicht so weit, dass ich Begriffe wie „Semiose“ und „autodiegetischer Erzähler“, die ebenso erklärungslos gebraucht wurden, für allgemein bekannt hielte.

Das Problem betrifft nicht nur wissenschaftliche Tagungen. Wenige Tage später war ich in Berlin auf der teenageinternetwork convention (TINCON), die sich an ein Publikum zwischen 13 und 21 Jahren wendet. Auch hier setzten die meisten Vortragenden, etwa Mitte 20, Kenntnisse voraus, die zumindest der jüngere Teil ihres Publikums noch nicht haben konnte (Quelle: Befragung meines 13-jährigen Begleiters). Der einzige Redner, der sich für alle Altersgruppen verständlich ausdrückte, war Ralph Caspers. Er arbeitet für die Sendung mit der Maus.

Wer sitzt im Publikum?

Selbst wenn man ausschließlich vor Fachleuten der eigenen Branche spricht, kann man nicht den Gesamtinhalt des eigenen Kopfs als bekannt voraussetzen.

Kathrin Passig

Das Problem hat mehrere Komponenten, von denen die fehlende Bereitschaft, sich ins Publikum hineinzuversetzen, nur eine ist. Veranstalter tragen eine Mitverantwortung, denn eingeladene Redner können nicht immer wissen, welche Art Publikum bei einer Veranstaltung zu erwarten ist. Werden ausschließlich Experten erwartet? Sind auch Fachleute anderer Disziplinen anwesend? Studierende? Interessierte Laien? 13-Jährige? Außerirdische?

Selbst wenn man ausschließlich vor Fachleuten der eigenen Branche spricht, kann man nicht den Gesamtinhalt des eigenen Kopfs als bekannt voraussetzen. Der Glaube, es gäbe so etwas wie einen Kanon an Vorkenntnissen, den man den Kollegen generell unterstellen dürfte, ist zum Teil korrekt: Dass alle Anwesenden lesen gelernt haben und daher rein technisch den Text der Präsentation entschlüsseln können, darf man bei Akademikern voraussetzen. (Jedenfalls, wenn man die Präsentationsfolien nicht gerade bis zum Rand mit Elf-Punkt-Schrift gefüllt hat.) Auch auf einen Grundwortschatz kann man sich verlassen. Aber schon bei der Frage, was man für Standardbegriffe des jeweiligen Fachs oder für Standardwerke hält, die alle Zuhörenden gelesen haben, wird es kritisch. Selbst wenn es ein Fachbuch gäbe, das definitiv hundert Prozent aller Anwesenden gelesen hätten –  und ich behaupte, schon dieser Fall tritt nie ein –, kann diese Lektüre längere Zeit zurückliegen. Einer der Redner auf der Außerirdischentagung nannte den Film „2001: Odyssee im Weltraum“ als Beispiel und erzählte dafür zuerst einmal den relevanten Teil der Handlung nach. Für mich war das hilfreich, denn zwischen meiner letzten Begegnung mit dem Film und diesem Vortrag lagen dreißig Jahre.

Vermutlich hätten die meisten Vortragenden lieber niemanden gekränkt durch die Unterstellung, einer der geschätzten Kollegen könne sich etwa nicht ganz präzise an das kubricksche Gesamtwerk erinnern. Formulierungen wie „Das wissen Sie ja alle“, „Das kennen Sie ja alle“, „Das muss ich Ihnen ja nicht erzählen“ entspringen dieser Höflichkeit. Aber mit etwas gutem Willen lässt sich jeder Sachverhalt so formulieren, dass Unwissende der Argumentation folgen und Vergessliche ihr Wissen auffrischen können, ohne dass die Wissenden sich persönlich gekränkt fühlen.

Mehr fragen, anstatt voraussetzen

Eine Grauzone ist unvermeidlich. Man kann nicht jedes Publikum richtig einschätzen, nicht jedes verwendete Wort erklären, nicht auf alle Vorkenntnisse oder deren Fehlen eingehen. Das heißt, dass man Strategien braucht, um die Auswirkungen mangelhafter Theory of Mind einzudämmen. Fragen sind ein bewährtes Mittel, um herauszufinden, was in den Köpfen anderer Menschen vorgeht. Aber nicht alle Fragen eignen sich gleich gut: „Wie der Large Hadron Collider funktioniert, wissen Sie ja.“ wird zu einem weniger belastbaren Ergebnis führen als die Aufforderung: „Heben Sie bitte die Hand, wenn Sie nicht wissen, wie der Large Hadron Collider funktioniert.“ Noch besser: „Könnten bitte alle die Hand heben, die wissen, wie der Large Hadron Collider funktioniert?“ Wissen gibt man gerne zu, Unwissen wahrscheinlich nicht einmal auf Tagungen über Unwissen.

Der Transport von Informationen aus einem Kopf in einen anderen ist kein triviales Problem.

Kathrin Passig

Im Kopf der Leser vermute ich Unzufriedenheit über meine profanen Vorschläge. Diese Vermutung entspringt nicht etwa meiner besonders gut gewarteten Theory of Mind. Ich habe einen Testleser befragt. Gibt es denn keine elegantere Lösung als „man muss sich eben Mühe geben“? Ich fürchte nein. Der Transport von Informationen aus einem Kopf in einen anderen ist kein triviales Problem. Man kann froh sein, dass wenigstens Sprache, Schrift und animiertes Katzenbild bereits erfunden sind, sonst wäre die Verständigung noch viel komplizierter.

Es macht zwar etwas mehr Arbeit, darüber nachzudenken, wo das Publikum die Murmel vermutet, und in Zweifelsfällen nachzufragen. Aber dafür klappt es dann vielleicht eines Tages auch mit den Aliens.