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Der Krisenschub

Kolumne,

Die Corona-Krise wird unser Nachdenken über Transformation radikal verändern, glaubt unser Kolumnist Uwe Schneidewind.

Beim Blick auf die vergangenen drei Wochen reiben wir uns alle die Augen: Das Maß an Veränderung, das wir in diesen Krisenwochen erleben, erscheint für offene Gesellschaften fast surreal: Faktischer Stopp allen Flugverkehrs, flächendeckendes Home-Office und Home-Learning, massive Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der ökonomischen Aktivität.

Aus Solidarität für die gesundheitlich Schwächsten der Gesellschaft werden Anpassungsprozesse umgesetzt, die vor dieser Krise niemand für möglich gehalten hätte. Ungewollt wird die Corona-Krise damit zu einem gewaltigen globalen Realexperiment für gesellschaftliche Transformation. Wir werden in den kommenden Wochen auf vielen Ebenen Erhebliches über die Veränderungsfähigkeiten moderner Gesellschaften lernen. 

Das passiert auf unterschiedlichen Lernebenen. Davon seien hier nur einige kurz skizziert. An der Oberfläche geht es um Ausbreitungsmuster und -geschwindigkeiten von Viren und Möglichkeiten zur Eindämmung von Pandemien.

Wie sehen Pandemie-feste Städte der Zukunft aus? Was können wir aus der Krise über die Resilienz von Städten lernen?
Uwe Schneidewind
Uwe Schneidewind (Foto: Bussenius & Reinicke)

Uwe Schneidewind

Mindestens so relevant sind aber die Lern-Ebenen darunter:

  • Wie resilient sind unsere Gesundheitssysteme? Wie müssen wir sie künftig ausgestalten, um mit den bestehenden Herausforderungen umzugehen? Was heißt das für die ökonomische Organisation des Gesundheitssystems?
  • Wie anfällig sind unterschiedliche globale Wertschöpfungs- und Versorgungsketten? Wie müssen wir sie künftig ausgestalten, um ökonomisch robuster mit Krisen wie der jetzigen umzugehen?
  • Brauchen wir ganz neue Formen der Grundabsicherung, um Kultur- und Kunst in unseren Gesellschaften krisenfester zu machen?
  • Wie sehen Pandemie-feste Städte der Zukunft aus? Was können wir aus der Krise über die Resilienz von Städten lernen?
  • Welche Chancen stecken in "Neuer digitaler Arbeit" und digitalen Lernformen? Lassen sich die Erfahrungen aus der Corona-Krise nutzen, um in diesen Bereichen einen entscheidenden Sprung nach vorne zu machen – auch in den vielen Institutionen, die sich damit bisher schwergetan haben?
  • Wie sehen Urlaubs- und Freizeitmuster der Zukunft aus? Führt die Corona-Krise zu einer Wiederentdeckung des Nahraums? Wird es je wieder eine unbeschwerte Attraktivität von Kreuzfahrten geben?
  • Und ganz wichtig: Wie stark ist Solidarität in unseren modernen Gesellschaften ausgeprägt? Ist sie nur in nationalen Grenzen politisch mobilisierbar? Wie lassen sich die beobachtbaren Muster auch auf einen globalen Maßstab übertragen? (Der ja z.B. bei der Bekämpfung des Klimawandels notwendig wäre)
  • Was legitimiert und was fördert die Akzeptanz von auch weitgehenden politischen Eingriffen in individuelle Freiheitsrechte? Was bedeutet das für politische Führung und die politische Kommunikation der Zukunft?

Transformative Wissenschaft

Uwe Schneidewind (Illustration: Irene Sackmann)

Uwe Schneidewind treibt die Vision einer sozial- und ökologisch gerechten Welt im 21. Jahrhundert um. Und er ist der festen Überzeugung, dass die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben, einen zentralen Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse hat. Deswegen streitet er für eine „transformative Wissenschaft“ und erregt damit viele Gemüter im Wissenschaftssystem. Folgerichtig heißt diese Kolumne Transformative Wissenschaft.
Als Präsident des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie leitete er von 2010 bis 2020 einen der führenden Thinktanks für Nachhaltigkeitsforschung in Deutschland. Das Wissenschaftssystem und die Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft kennt er aus unterschiedlichen Perspektiven: als ehemaliger Präsident der Universität Oldenburg oder als Berater der Bundesregierung im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU). Seit dem 1. November 2020 ist Uwe Schneidewind Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal und damit in neuer Rolle in einem auch durch Wissenschaft entscheidend geprägten urbanen Transformationsraum.​

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Das sind nur einige der Fragen, über die wir nach dieser Krise in neuer Form nachdenken werden. Die Erfahrungen der kommenden Wochen werden Anstöße bieten, auch auf andere Transformationsprozesse wie den Klimawandel oder die Digitalisierung neu zu schauen. Darauf sollte sich das Wissenschafts- und Forschungssystem vorbereiten. 

Es braucht inter- und transdisziplinäre Orte der Transformationsforschung, die die jetzt gemachten Erfahrungen begleiten und aufarbeiten. Sie müssen sie für unser Verständnis von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen verfügbar machen. Brückenschläge von bisher oft nur lose gekoppelten Disziplinen wie der Epidemiologie und der gesellschaftlichen Klimaforschung gilt es zu stärken. Denkbar wäre es – internationale vernetzte – Schwerpunktzentren für Transformationsforschung zu schaffen. 

Das 21. Jahrhundert wird ein Jahrhundert der „Großen Transformationen“ sein. Die Covid-19-Pandemie hat uns einen weiteren Vorgeschmack davon gegeben. Eine "trans"-disziplinäre Transformationsforschung ist ein wichtiges Element, um moderne Gesellschaften dafür fit zu machen.