Gerold Wefer (Foto: Christian Bohnenkamp)
Gerold Wefer (Foto: Christian Bohnenkamp)

In der Kühlkammer

Eigentlich wollte er Eisenbahner werden, jetzt gehört er als Meeresforscher zur Weltspitze: Der Bremer Geologe Gerold Wefer schließt aus Bohrkernen vom Grund des Ozeans auf die Vergangenheit des Planeten. / Serie „20 Jahre Communicator-Preis“, Teil VI.

„Ah, sind Sie auch mal wieder zu Hause?“ Diese Frage der Nachbarn kennt Gerold Wefer schon, sie kommt immer dann, wenn er im Garten seines alten Bremer Klinkerhauses das Laub recht oder den Rasen mäht. Und schon ist Gerold Wefer mittendrin in einer Unterhaltung über seine letzte Expedition, über versteckte Bodenschätze und darüber, ob es in jüngster Zeit auch wirklich genug Regen gegeben habe in unseren Breiten. „Der Wissensdurst der Leute ist wirklich gewaltig“, sagt Gerold Wefer. Einer seiner Nachbarn wirft ihm sogar regelmäßig Zeitungsausschnitte in den Briefkasten, die ihn, den berühmten Meeresforscher, doch bestimmt interessierten.

Jetzt steht Gerold Wefer in der Kälte, auf der Nase eine Brille mit feinem goldenem Gestell und um den Hals einen eleganten Seidenschal, sodass er wirkt wie ein soignierter hanseatischer Kaufmann. Die Kälte ist ihm nicht anzumerken, 4 Grad Celsius herrschen hier das ganze Jahr über im Bohrkernlager. In riesigen Regalen liegen lange schmale Schachteln mit kryptischen Beschilderungen. „Hier liegen in 250.000 Boxen etwa 160 Kilometer Bohrkerne von 90 Expeditionen“, sagt Wefer beiläufig – dabei ist es eine Besonderheit erster Kategorie. Weltweit gibt es nur drei solcher Bohrkernlager: eines in Japan, wo Proben vom Meeresboden aus dem Indischen Ozean aufbewahrt werden, eines in den USA mit Spezialisierung auf den Pazifik und dann eben dieses gewaltige Lager hier in Bremen. „Wir haben alles aus dem Atlantik, was dort jemals für die Wissenschaft gebohrt wurde. Die älteste Probe ist von 1968“, sagt Wefer. 200 Wissenschaftler aus aller Welt kommen jedes Jahr nach Bremen, um dort mit den Bohrkernen zu arbeiten, und jedes Jahr kommen manchmal mehrere Tausend neue Proben hinzu. „Das Bohrschiff ist ständig unterwegs“, erläutert Wefer, „es kann selbst in 3.000 Metern Wassertiefe bis zu zwei Kilometer tief bohren.“ In den Bohrkernen mit ihren unterschiedlichen Ablagerungen können die Forscher lesen wie in einem Buch, was sich in Jahrtausenden oder Jahrmillionen zurückliegenden Zeitaltern auf der Erde abgespielt hat.

Illustration: Lisa Syniawa

Diese Forscher sind Stars. Denn sie arbeiten nicht nur in Labors, sitzen nicht nur in Bibliotheken. Stattdessen stehen sie als Medienprofis sehr oft auf den großen Bühnen des Landes. Sie können meisterhaft über Forschung reden, sie begeistern für das, was vielen Bürgern sonst nicht zugänglich wäre. Sie sind die besten Anwälte für die Sache der Wissenschaft.

Solche begnadeten Wissenschaftskommunikatoren als Vorbilder zu adeln und ihr außergewöhnliches Engagement zu belohnen, war im Jahr 2000 die Idee des Stifterverbandes und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Seitdem vergeben sie gemeinsam jährlich den „Communicator-Preis – Wissenschaftspreis des Stifterverbandes“. Der Stifterverband steuert das Preisgeld bei (50.000 Euro), die DFG sucht die Preisträger aus. Gerold Wefer erhielt den Communicator-Preis im Jahr 2001. 

Dass er heute hier stehen würde als Gründer und früherer Direktor des renommierten Meeresforschungszentrums MARUM, das war noch vor einigen Jahrzehnten undenkbar. Als er 14 Jahre alt war, begann Gerold Wefer eine Lehre bei der Bahn („ich war 1,58 Meter groß damals!“), Karriereziel: mittlere Beamtenlaufbahn. Jaderberg heißt sein Heimatort, gelegen am Jadebusen zwischen Oldenburg und Wilhelmshaven, und dort gab es einen kleinen Bahnhof. Wefer fertigte Güterzüge ab, verkaufte Fahrkarten, war als Zugbegleiter unterwegs, arbeitete beim technischen Gleisbau und bei der Reparatur von Dampfloks mit. Um in den gehobenen Dienst zu kommen, machte er schließlich sein Abitur nach, da war er 22 Jahre alt, und entschied sich zu einem Studium in Kiel. 

Ich wollte viel draußen sein. Nur im Labor zu stehen, wäre nichts für mich gewesen.
Gerold Wefer (Foto: David Ausserhofer)

Gerold Wefer

Geologe

Foto: Christian Bohnenkamp

„Von der Geologie wusste ich nur, dass sie etwas mit der Erde zu tun hat und ich dabei viel draußen sein kann, das war mir wichtig – denn eine Naturwissenschaft, wo ich nur im Labor stehe, das wäre nichts für mich gewesen“, sagt Gerold Wefer. Und weil in Kiel der Schwerpunkt der Universität auf Meeresgeologie lag, spezialisierte er sich eben darauf – „mein Leben besteht sehr viel aus Zufällen“, sagt er achselzuckend. Gleich im ersten Semester machte er eine Tauchausbildung, nach dem Vordiplom war er acht Wochen lang als studentische Hilfskraft auf einem Forschungsschiff unterwegs. Die Reise ging von Hamburg über Dakar und Las Palmas wieder zurück nach Norddeutschland. „Für einen Jungen vom Dorf war das eine große Sache“, sagt er heute über diese erste große Reise seines Lebens, die ihn in die unbekannte Ferne geführt hatte. Und weil er im Leben gelernt hatte zuzugreifen, wenn sich eine Chance ergibt, blieb er am Ball: Diplom, Doktorarbeit, die nächsten Forschungsreisen und schließlich, nach einigen Jahrzehnten, die Gründung und der Bau des MARUM, dieses imposanten Forschungsinstituts der Universität Bremen, dessen Direktor er bis vor acht Jahren war.

Über Forschung reden - auch am Gartenzaun

Genau an dieser Stelle schließt sich der Kreis zu seinen Gartenzaungesprächen mit den Nachbarn: „In meiner Familie war ich der erste Akademiker, bei der Bahn war ich ständig im Kundenkontakt – die Gespräche mit den Leuten schätze ich deshalb vielleicht mehr als andere“, sagt Gerold Wefer. Und so redete er über seine Forschung, schon lange bevor der Begriff der Wissenschaftskommunikation überhaupt geläufig war. Unter dem Titel „MeerErleben“ gestaltete er eine Ausstellung, die jahrelang auf Tournee durch Einkaufszentren ging. Darin waren Tauchroboter zu bedienen und Ammoniten zu sehen und es gab Erklärungen für die Entwicklung der Küsten und des Meeresspiegels. „Das interessiert die Leute ungemein“, bilanziert er seine damalige Erfahrung, „aber viele wagen es gar nicht, genauer hinzuschauen, weil sie glauben, sie verstünden es ohnehin nicht.“ Und auch Wefer selbst und seine Mitarbeiter machten eine Lernkurve durch: Bei der ersten Ausstellung, erinnert sich der Geologe schmunzelnd, habe man noch wissenschaftliche Poster an die Wand gehängt voller Grafiken und Formeln. Inzwischen weiß er, was als Blickfänger taugt, er kennt die Bedeutung des ersten Satzes bei Vorträgen und Präsentationen und er hat externe Experten an Bord geholt, die Videos über die Forschung des Instituts anfertigen und im Schülerlabor mit Klassen und ihren Lehrern in die Meeresforschung eintauchen.

Die Leute wollen sich mit Forschern unterhalten. Es liegt ganz an uns, was wir daraus machen.
Gerold Wefer (Foto: David Ausserhofer)

Gerold Wefer

Communicator-Preisträger 2001

Seinen größten Coup dachte sich Gerold Wefer im Jahr 1999 aus: Zusammen mit anderen Professoren der Bremer Universität entwickelte er ein Science-Center, wie es damals in Deutschland noch kein zweites gab. Wissenschaft zum Anfassen sollte es bieten, es sollte faszinieren und auf unterhaltsame Art informieren. Gerold Wefer übernahm die wissenschaftliche Betreuung – mit der Vermittlung seiner Forschung hatte er schließlich schon jede Menge Erfahrungen gesammelt. Als Beitrag Bremens zur Expo 2000 wurde das Zentrum mit dem Namen „Universum“ bald darauf fertig. Spektakulär ist es allein schon von außen: Wie ein riesiger silbrig glänzender Wal spannt sich die Haupthalle in den Himmel, 27 Meter hoch und 70 Meter lang. Viele Millionen Besucher waren inzwischen zu Gast, und für Bremen ist das Universum ein Wahrzeichen geworden mit einer ähnlichen Strahlkraft wie die legendären Stadtmusikanten.

Und die Forschung selbst? Die hat sich gewaltig verändert in all den Jahren, seit Wefer zum ersten Mal nach seiner Bahnlehre in die Wissenschaft hineingeschnuppert hat. „Damals war die Meeresgeologie eher ein Nischenfach, heute gibt es in Deutschland gleich mehrere starke Zentren“, sagt er. Und: Quantitativer sei das Fach geworden. „Am Anfang haben wir unsere Beobachtungen vor allem beschrieben, heute belegen wir die Ergebnisse mit viel mehr Zahlen.“ Erleichtert wird das durch die Technik: In der Anfangszeit konnten die Forscher zehn Proben pro Tag im Massenspektrometer untersuchen, heute sind es mehr als 100. Entsprechend detailliert und bedeutender sind Modelle geworden. „Als ich angefangen habe, konnte ich in der Forschung vieles alleine machen“, erinnert sich Gerold Wefer, „heute ist das ohne ein größeres Team fast nicht mehr möglich.“ Hochkomplex ist die Analytik geworden: Man muss zur See fahren und Proben nehmen, sie danach im Verbund mit Physikern und Chemikern mit modernster Labortechnik untersuchen und die komplexen Zusammenhänge zusammen mit Mathematikern und Informatikern modellieren.

Foto: Christian Bohnenkamp

An die Neugier seiner Nachbarn am Gartenzaun hat sich Gerold Wefer längst gewöhnt und an die freudige Frage: „Na, sind Sie auch mal wieder zu Hause?“ Wefer blickt ernst durch seine goldene Brille. „Die Leute wollen sich mit Forschern unterhalten. Es liegt ganz an uns, was wir daraus machen.“

Wie viel man für die Wissenschaft erreichen kann, wenn man sich auf diese Neugier einlässt – das hat Gerold Wefer in den vergangenen Jahrzehnten eindrucksvoll bewiesen.

Über diese Serie

Foto: Nadine Gerold

20 Jahre Communicator-Preis - Grund genug für MERTON, die bisherigen 20 Preisträger in einer besonderen Bild- und Artikelserie zu würdigen. Nicht nur der Fotograf Christian Bohnenkamp setzt die Protagonisten in stimmungsvolles Licht, auch der Autor Kilian Kirchgeßner bringt sie in seinen Texten zum Leuchten. Wer die ausdrucksstarke Bilder einmal aus der Nähe sehen will: Das Wissenschaftszentrum Bonn präsentiert die Werke voraussichtich im Sommer 2021 in einer kleinen Retrospektive. 

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