Eine transformative Wissenschaft steht für Vernetzung und Austausch. (Foto: CC0)

Die „Co-Benefits“ einer transformativen Wissenschaft

Kolumne,

Viele Probleme des Wissenschaftssystems können auch durch die kürzlich verlängerte Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder nicht gelöst werden. Im Konzept der transformativen Wissenschaft findet Uwe Schneidewind neue Perspektiven für ein vitales System jenseits der Exzellenzinitiative.

Die Würfel sind gefallen: Die Eckpunkte der künftigen Exzellenzinitiative stehen und bestimmen die dominanten Orientierungen und Reputationseffekte im deutschen Wissenschaftssystem auch in den kommenden Jahren. Doch schon im Zuge der Debatte wurden die Nebenfolgen immer sichtbarer: wissenschaftlicher Nachwuchs mit prekären Zukunftsperspektiven, die Vernachlässigung der Lehre, eine weitere Hierarchisierung des Wissenschaftssystems, die Entfernung der Wissenschaft von gesellschaftlich relevanten Anliegen.

Umso wichtiger ist es jetzt, nach alternativen Orientierungen im Wissenschaftssystem zu schauen, die dazu beitragen können, diese Engführungen zu überwinden. Hier lohnt sich der Blick auf eine „transformative Wissenschaft“, die auf viele der Herausforderungen eine Antwort gibt. Eine transformative Wissenschaft bringt sich in gesellschaftliche Transformationsprozesse ein, definiert ihre Fragestellungen und produziert ihr Wissen in enger Kooperation mit gesellschaftlichen Akteuren.

Das schafft Potenziale nicht nur für die gesellschaftliche Vernetzung von Wissenschaft, sondern auch für die Lehre, für die Zukunft des wissenschaftlichen Nachwuchses, für die internationale Wissenschaftskooperation und für die Forschung.

Transformative Wissenschaft

Uwe Schneidewind (Illustration: Irene Sackmann)

Uwe Schneidewind treibt die Vision einer sozial- und ökologisch gerechten Welt im 21. Jahrhundert um. Und er ist der festen Überzeugung, dass die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben, einen zentralen Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse hat. Deswegen streitet er für eine „transformative Wissenschaft“ und erregt damit viele Gemüter im Wissenschaftssystem. Folgerichtig heißt diese Kolumne Transformative Wissenschaft.
Als Präsident des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie leitete er von 2010 bis 2020 einen der führenden Thinktanks für Nachhaltigkeitsforschung in Deutschland. Das Wissenschaftssystem und die Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft kennt er aus unterschiedlichen Perspektiven: als ehemaliger Präsident der Universität Oldenburg oder als Berater der Bundesregierung im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU). Seit dem 1. November 2020 ist Uwe Schneidewind Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal und damit in neuer Rolle in einem auch durch Wissenschaft entscheidend geprägten urbanen Transformationsraum.​

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Lehre

Eine transformative Wissenschaft trennt nicht zwischen Forschung und Lehre. Ganz im Gegenteil: Konkrete Herausforderungen vor Ort werden für angehende Ingenieure, Sozialwissenschaftler und Designer zum Ausgangspunkt, um die Methoden ihres Faches zu lernen und gleichzeitig in reale gesellschaftliche Kontexte einzubringen. Solche Formen des problem- und projektbasierten Lernens sind lange Zeit in den Hintergrund geraten. Sie erleben erfreulicherweise eine Renaissance, ob in der Medizinerausbildung (vergleiche zum Beispiel die Medizinerausbildung an der Universität Witten/Herdecke) – bisher leider nur in Nischen. Für sie gilt es, breiten Raum zu schaffen.

Wissenschaftlicher Nachwuchs: Groß sind die Klagen über die vielen jungen Nachwuchswissenschaftler, die keine Perspektive im Wissenschaftssystem haben. Das Klagen hat eine leicht erklärliche Ursache: Wer heute über sechs bis acht Jahre Promotion und Postdoc-Phase sozialisiert wird, zumeist im engen disziplinären Korsett und isoliert ausgerichtet auf das Abfassen referierter Fachzeitschriftenbeiträge, der ist kaum vorbereitet auf Aufgaben außerhalb des Wissenschaftssystems. Transdisziplinär arbeitende Wissenschaftler erlernen dagegen, sich früh in die Problembeschreibungen anderer Disziplinen und Akteure einzudenken, Empathie und soziale Kompetenz aufzubauen, sich über ihre (Selbst-)Wirksamkeit auch über Publikationstätigkeit hinaus klar zu werden. All das sind Fähigkeiten, die in einer modernen Wissensgesellschaft überall benötigt werden. Transdisziplinär arbeitende Doktoranden und Postdocs kann eine moderne Gesellschaft daher gar nicht genug ausbilden, ohne Sorgen um deren berufliche Zukunft zu haben.

Internationale Wissenschaftskooperation

Die jetzige Organisation des Wissenschaftssystems hierarchisiert nicht nur innerhalb des Landes zwischen unterschiedlichen Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen. Das dahinterstehende Exzellenzverständnis zementiert eine solche Hierarchisierung auch im globalen Kontext. Es führt dazu, dass sich auch Hochschulen des globalen Südens oft alleine daran orientieren und einen Braindrain in die Länder des globalen Nordens auslösen. Eine transformative Wissenschaft bezieht dagegen Wissensbestände vor Ort in Transformationsprozesse ein und schafft damit oft bessere Antworten auf bestehende Transformationsherausforderungen: die Organisation der Mobilität in Lagos, der Umgang mit Gewalt in informellen Siedlungen, effektive Organisationsformen von Slumbewohnern – all das sind Fragen, die nicht alleine in disziplinären Analysen, sondern am besten in transdisziplinären Prozessen bearbeitet werden können. Damit entsteht auch eine neue Kultur des Lernens auf Augenhöhe zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden.

Wer heute über sechs bis acht Jahre Promotion und Postdoc-Phase sozialisiert wird, ist kaum vorbereitet auf Aufgaben außerhalb des Wissenschaftssystems.
Uwe Schneidewind
Uwe Schneidewind (Foto: Bussenius & Reinicke)

Uwe Schneidewind

Forschung

Aber auch die klassische Forschung wird durch eine „transformative Wissenschaft“ bereichert. Um komplexe gesellschaftliche Herausforderungen zu bearbeiten, bedarf es boundary objects, um das Wissen unterschiedlicher Disziplinen aufeinander zu beziehen. Diese reichen von Ansätzen mehrskaliger Modellierungen über neue Formen von Mustersprachen bis hin zu Reallaboren, in denen komplexe Transformationsansätze mit Akteuren erprobt werden. All das bereichert den Methodenkanon auch bisheriger disziplinärer Forschung. Deswegen sind diese Grenzbereiche gerade für herausragende Forscher reizvoll.

Daher gilt: Insbesondere in Zeiten der Exzellenzinitiative gibt es viele Gründe dafür, mehr transformative Wissenschaft zu wagen!

Uwe Schneidewind zu Gast bei „Forschergeist“

Episodencover Forschergeist
Episodencover Forschergeist

Im Frühjahr 2016 war Uwe Schneidewind zu Gast bei „Forschergeist“, dem Audio-Podcast des Stifterverbandes. Dort erläutert er im Gespräch mit Moderator Tim Pritlove die Formel der „Transformativen Wissenschaft“. 

Hier geht's zur Folge 25 von „Forschergeist“