Luftaufnahme von Autos und Zügen mit Kreuzung oder Kreuzung mit Verkehr, Taipei Downtown, Taiwan. Finanzbezirk und Geschäftsfeld. Intelligente Stadttechnik.
Luftaufnahme von Taipei Downtown, Taiwan. (Foto: iStock/ tampatra)

Luftaufnahme von Taipei Downtown, Taiwan

Eine funktionierende Demokratie braucht gute Technologie

Der deutsche Digital-Experte und Blogger Sascha Pallenberg lebt und arbeitet in Taipeh. Ein Gespräch über asiatische Tech-Begeisterung, die codende Digitalministerin Audrey Tang und Taiwan als Civic-Tech-Labor.

Herr Pallenberg, Sie leben und arbeiten seit zwölf Jahren in Taipeh. Die mittlerweile auch bei uns bekannte Digitalministerin Taiwans sagte kürzlich in einem Interview, die junge Generation halte Breitbandinternet für ein Menschenrecht. 
In Asiens Großstädten gilt Audrey Tangs Beobachtung längst für alle Generationen. 2002 beobachtete ich in der U-Bahn in Taipeh, wie sich ein circa 70 Jahre alter Herr über seine rote PlayStation Portable beugte, um ein Computerspiel zu spielen. Damals schon galt das als normal, nur eine Generation, nachdem das erste Atari-Computerspiel in den USA entwickelt worden war. Diese Kultur pragmatischer Technologieaffinität kann man heute in praktisch allen asiatischen Ländern beobachten. Nicht nur am Guanghua Digital Plaza ...

... das ist ein riesiger mehrgeschossiger Elektroniktempel im Computerdistrikt von Taipeh ...
... auch in Kuala Lumpur, Jakarta, Singapur, vor allem auch in Chinas und Südkoreas urbanen Zentren hält sich praktisch der gesamte Mittelstand, vom Kind bis zum Greis, zu Hightech- und Elektronikthemen auf dem Laufenden. Eine vergleichbare Technikaffinität kenne ich aus Europa nicht, auch nicht aus den USA.

Sie beobachten weltweit die Entwicklung der Tech-Welt und behaupten, was die Hightech-Entwicklung betrifft, haben einige asiatische Länder einen fast schon uneinholbaren Vorsprung errungen. Wie kommen Sie darauf?
Ein Beispiel: Wenn ich im Großraum Taipeh die öffentlichen Verkehrssysteme benutze, übergibt mich meine NFC-Karte (NFC steht für „Near Field Communication“, Anmerkung des Autors) automatisch von einem Verkehrssystem an alle weiteren – von Bus und Bahn zum Taxi, zum geleasten Fahrrad und zurück. Das öffentliche Verkehrssystem ist profitabel, also bleiben die Ticketpreise niedrig. Zudem sind über eine Million E-Scooter im täglichen Einsatz. Aber auch die ländlichen Regionen sind engmaschig verbunden. Insgesamt entfaltet sich hier ein völlig anderes Bild von Mobilität. Was hat sich im Vergleich dazu in Deutschland seit Mitte der Neunziger im öffentlichen Verkehrssystem getan? In den USA wiederum kriegt es die Gesellschaft nicht einmal mehr hin, völlig marode Highways zu reparieren, geschweige denn etwa zwischen San Francisco und San José einen vernünftigen Zug zu bauen, der nicht wie der Amtrak mit 60 Stundenkilometern durch die Gegend zuckelt und an jedem Briefkasten hält.

Da fehlt im Prinzip der politische Wille; man könnte den Rückstand aufholen, oder?
Mittlerweile zweifle ich daran. Sie erwähnten Audrey Tang. Ihre erste Amtshandlung als Digitalministerin für Taiwan war nicht etwa, eine Pressekonferenz einzuberufen, sondern persönlich den Linux-Kernel der Regierungscloud umzuprogrammieren, um die Regierungssoftware gegen Cyberangriffe aus dem Ausland sicherer zu machen.

Eine Ausnahmeerscheinung: Tang begann schon mit zwölf Jahren, die Programmiersprache Perl zu coden, mit 15 hatte sie ihre erste Firma ...
... und als Ministerin zapft sie ständig die kollektive Tech-Intelligenz der taiwanesischen Zivilgesellschaft an. Und sie hat klare Vorstellungen von der Zukunft: Aus ihrer Sicht sollte jede Form digitaler Infrastruktur durch den zivilen Non-Profit-Bereich gesteuert und durch staatliche Strukturen nur gemanagt werden – wie ein öffentlicher Park.

Wie ist das gemeint? Ein Beispiel bitte.
Um den in Taiwan umstrittenen Fahrdienst Uber zu regulieren, ließ Tang von staatlicher Seite Open-Source-Software-Tools ausschreiben, die den Entscheidungsprozess innerhalb der Gesellschaft dezentral steuern sollen. 

Zur Person

Porträt Sascha Pallenberg
Sascha Pallenberg (Foto: privat)

Sascha Pallenberg ist ein deutscher Blogger. Von 2012 bis 2016 betrieb er die Blog-Plattform mobilegeeks.de. Er war von 2017 bis 2020 Head of Digital Transformation in der Abteilung Unternehmenskommunikation der Daimler AG. Seit 1. April 2021 verantwortet Pallenberg als "Chief Awareness Officer" die Kommunikation der Nachhaltigkeits-Plattform Aware. Sascha Pallenberg lebt in Taiwan.

Den Contest gewann 2015 die Civic-Tech-Community g0v (ausgesprochen „Gov Zero“, Anmerkung des Autors), die mit Onlinediskussionsplattformen neuen Typs, wie „vTaiwan“ und „Pol.is“, zusammenarbeitet. Auf diesen Online-Tools diskutieren Bürgerinnen und Bürger, zivilgesellschaftliche Organisationen und Experten Gesetzesvorschläge der Regierung einvernehmlich online und können diese gemeinsam verbessern. Mit der Zeit entstehen dauerhafte Feedbackschleifen zwischen der taiwanesischen Regierung und einer digital kompetenten Zivilgesellschaft.

In Chinas und Südkoreas urbanen Zentren hält sich praktisch der gesamte Mittelstand, vom Kind bis zum Greis, zu Hightech- und Elektronikthemen auf dem Laufenden.
Porträt Sascha Pallenberg
Sascha Pallenberg (Foto: privat)

Sascha Pallenberg

Blogger

Welche Erfahrungswerte ermöglichen es konkret, dass Mitmach-Demokratie technologiegestützt funktionieren könnte?
Erstens: Man verwehrt es den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, in den Onlineportalen auf Kommentare anderer Teilnehmer im Einzelnen zu antworten oder sich in Debatten zu Details oder zu den einzelnen Meinungsunterschieden zu verbeißen.

Man kann online nur zustimmen oder ablehnen?
Nein. Aber wenn die Leute zwar ihre Ideen und Kommentare vorbringen, jedoch nicht direkt aufeinander antworten können, dann hören sie erst einmal damit auf, ihre Zeit auf die immer weitere Vertiefung im Prinzip spaltender Aussagen zu verschwenden. Dies reduziert auch drastisch die Motivation für Trolle, „teilzunehmen“ – also unnötige Unruhe und Zwietracht zu stiften.

Okay, verstanden. Und zweitens?
Die Stimmergebnisse für konkrete Vorschläge werden in einer Art Landkarte visualisiert, auf dieser werden alle in Gruppen zusammengefasst, die ähnlich abgestimmt haben. Zum Beispiel werden Themenbereiche hervorgehoben, auf die sich viele bereits zumindest einigermaßen einigen konnten. Die Visualisierung wird allen Beteiligten zugesandt. Mit ihrer Hilfe erfassen diese intuitiv, welche ähnlich gesinnten Gruppen es bereits gibt, auf welche Aussagen der Einigungsprozess zuläuft und so weiter – obwohl die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zugleich auf der Plattform immer noch Hunderte oder Tausende von abweichenden Kommentaren lesen können. Die Visualisierung motiviert die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, durch konstruktive Vorschläge und Kompromisse Leute aus anderen „Lagern“ in die eigene Gruppe zu ziehen. Es steigt die Motivation, in weiteren Durchgängen verstärkt Kommentare und Lösungen zu verfassen, die eine vielleicht noch bestehende Kluft eher schließen.
Bei der Frage, ob und wie man Uber regulieren sollte, standen sich nach einigen Durchgängen immer noch eine Pro- und eine Kontra-Fraktion gegenüber, die Vorschläge drehten sich trotzdem immer mehr um konkrete Punkte, auf die sich sehr viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehr und mehr einigen konnten. Zum Beispiel, dass man Wege finden wollte, den Wettbewerb auf dem Markt generell zu stärken. Der digitale Entscheidungsprozess führte am Ende zu sieben klaren Vorschlägen an die Regierung, zum Beispiel, dass die Taxifahrer das Recht erhalten sollten, sich von mehreren Diensten gleichzeitig anheuern zu lassen (anstatt von Knebelverträgen abhängig zu werden). Was auch umgesetzt wurde.

Interessant. Man implementiert per Software eine Kultur der Zurückhaltung, die Pro- und Kontra-Polungen in Gruppen abschwächen kann. Auch in Europa wird uns in einer Zeit politischer Krisen schmerzlich bewusst, dass das Aufrechterhalten von Zivilität (implizite Höflichkeit) für den guten Fortbestand von Demokratie mitentscheidend sein könnte.
Warum erscheint die Demokratie gerade auch in westlichen Ländern als zunehmend gefährdet? Möchten Sie hierzu die asiatische Sichtweise kennenlernen?

Gerne.
In Asien ist ein Diplomat aus Singapur recht prominent, sein Name ist Kishore Mahbubani. Er hat mehrere erfolgreiche Bücher geschrieben, eines mit dem provokanten Titel: „Has The West Lost it?“

Salopp könnte man das übersetzen mit: „Haben die im Westen eigentlich noch alle Tassen im Schrank?
In einem Interview sagte Mahbubani aber auch – explizit an Deutsche und Europäer gerichtet: „Dreht um! Biegt ab, geht mit Asien auf die Reise.“ Das große Problem mit den westlichen Ländern ist aus asiatischer Sicht eine noch von Kolonialzeiten her übernommene Arroganz à la „Wir haben euch vor 150 Jahren die moderne Zivilisation gebracht, was wollt ihr uns denn erzählen?“ Klassisches Beispiel: die Bekämpfung von Covid-19. Wie lange hat das deutsche Gesundheitsministerium gebraucht, um einigermaßen zu reagieren? Hat man sich die Mühe gemacht, genauer zu untersuchen, wie die Sache in Taiwan gemeistert wurde? Nein.

Für Taiwans außergewöhnlichen Erfolg spielten sicher mehrere Faktoren eine Rolle. Zum Beispiel eine viel jüngere Bevölkerung. Zudem hat das Land 2002/2003 die Erfahrung mit SARS-CoV-1 gemacht. Es ist also möglich, dass die Menschen in dieser Zeit bereits ein gewisses Maß an Immunität erworben haben.
Als ich 2002 das erste Mal auf die Insel kam, bin ich am Flughafen zuerst durch eine Schranke mit Temperatursensoren geschleust worden. Die Erfahrungen mit der Vogel-, Hühner- und dann Schweinegrippe haben dazu geführt, dass man ein möglichst lückenloses System eingeführt hat, das die Bevölkerung beim nächsten Ausbruch effizient schützt. Taiwan hat sofort reagiert, als die chinesische Regierung die ersten Bürgerinnen und Bürger aus Wuhan verhaften ließ, nachdem diese versucht hatten, im Internet Alarm zu schlagen: Die Grenzen wurden geschlossen und die 250.000 Taiwanesinnen und Taiwanesen, die auf dem chinesischen Festland arbeiteten, zurückbeordert und in Quarantäne gesteckt – in vom Staat extra angemietete Hotels.

Taiwans Digitalministerin Audrey Tang
Taiwans Digitalministerin Audrey Tang Foto: Kaii Chiang 江凱維; CC BY-NC-SA 4.0
Taiwans Digitalministerin Audrey Tang zapft regelmäßig die Tech-Intelligenz der Zivilgesellschaft an.

Man hat die Leute gezielt zurückgeholt, um die Gesamtbevölkerung zu schützen?
Ja, und die Rückkehrenden wurden bereits in den Flugzeugen getestet. Durch die konzentrierte Aktion konnte man von vornherein chaotische Infektionsketten ausschließen. Darauf konnte man dann aufbauen und der wenigen Cluster, die sich bildeten, schnell Herr werden. Zudem stellte man innerhalb von Tagen neue Open-Source-Apps zur Verfügung, die von zivilen Tech-Gruppen meist eigenständig programmiert wurden, in enger Abstimmung mit ...

... Audrey Tang und ihrer Behörde.
Genau. Aber so etwas kann nur klappen, wenn die politischen Entscheidungsträger schon vor einer Krise seit Jahren mit unterschiedlichen Tech-Communities aus der Zivilgesellschaft eng zusammenarbeiten und wenn sich Beamte dabei vor allem auch als Bindeglied zwischen Regierung und Zivilgesellschaft begreifen. Tangs Behörde musste in hektischen Krisenzeiten jedenfalls nicht unter Zeitdruck aufwendig filtern lassen, wer die angeblich zehn besten Topentwickler im Land sind. Man wusste das vorher schon.
Beispielsweise die App, über die sich die Menschen in Taiwan jetzt tagtäglich informieren können, in welchem Depot in ihrer Nähe wie viele Schutzmasken verfügbar sind, wie man da hinkommt und so weiter. Sie wurde über Nacht programmiert. Als Google damit begann, der Entwicklerin, die loslegte und Eigeninitiative zeigte, für die Nutzung von Google Maps horrende Kosten aufzubrummen, wandte diese sich hilfesuchend an Taiwans Civic-Tech-Sektor und an Audrey Tang. Das lief nicht über ein formalisiertes Anschreiben an ein Ministerium, sondern direkt und in Echtzeit über Slack und HackMD.

Was passierte dann?
Nachdem das Digitalministerium für unbürokratische Unterstützung gesorgt und dies auch öffentlich gemacht hatte, schwenkte Google um und begann die Initiative zu unterstützen. Der Code wurde als Open Source von den Programmiererinnen und Programmierern, die sich meldeten, gemeinsam mit der Initiatorin fertiggestellt. Heute handelt es sich um eine der beliebtesten Apps im Land. Wir können an dem Beispiel sehen, dass gute Zusammenarbeit einer Behörde mit Civic-Tech-Netzwerken aus der Gesellschaft eine Dynamik erschaffen kann, die kostengünstig auf überraschende Entwicklungen reagiert. Das genaue Gegenteil von einem Szenario, in dem Politikerinnen und Politiker sowie Beamtinnen und Beamte monatelang in geschlossenen sozialen Systemen darüber diskutieren, ob eine Entwicklung überhaupt relevant ist. 

Audrey Tangs erste Amtshandlung als Digitalministerin war es, persönlich den Linux-Kernel der Regierungscloud umzuprogrammieren, um die Regierungssoftware gegen Cyberangriffe sicherer zu machen.
Porträt Sascha Pallenberg
Sascha Pallenberg (Foto: privat)

Sascha Pallenberg

Digital-Experte in Taipeh

Kein Lockdown in Taiwan

Sie sagen: In Taiwan kam es nie zum Lockdown – vor allem auch dank einer klugen Digitalisierungspolitik im Vorfeld und der engen, kollegialen Zusammenarbeit zwischen Regierungsstellen und der Zivilgesellschaft auf Augenhöhe?
Ja.

Und wie ist die Lage heutzutage auf Taiwan?
Kinder und Jugendliche gehen ganz normal in die Schule, erst neulich fand in Taipeh ein Technofestival mit 20.000 Menschen statt. Beim Besuch größerer Veranstaltungen scannt man am Eingang einen QR-Code, welcher die Identitätsdaten und eine Mobilnummer hinterlässt, und man erhält einen QR-Code zurück. Falls an dem Ort eine Infektion auftreten sollte, kann man blitzschnell die potenziellen Infektionsketten nachvollziehen. Zusammengefasst: Praktisch jeder in Taiwan benutzt ein Handy und diese App, in Bussen, Bahnen und so weiter werden Mund- und Nasenbedeckungen getragen, auf Straßen, in Hochhäusern und Wohnkomplexen wird mehr desinfiziert als früher und das wars. Noch einmal: Der absolute Fokus lag auf dem frühen, konsequenten Verhindern der Infektionsketten. Stellen Sie sich vor: Im Februar 2020 brach der Gesundheitsminister in einer viel beachteten Pressekonferenz in Tränen aus, weil er eine Neuinfektion melden musste. Eine!

Insgesamt wurden auf Taiwan seit Beginn der globalen Krise bis heute um die 400 Infektions- und nur ganze sieben Todesfälle gemeldet.
Kein einziger Arzt, keine Ärztin hat sich infiziert und so weiter. Übrigens: Taiwan ist eine Exportnation. Im globalen Krisenjahr 2020, einschließlich März dieses Jahres, kletterten die Wachstumszahlen für den globalen Export um 50 Prozent. Neben Exportklassikern wie Elektronikgütern, Hardware, Computerchips und so weiter gibt es nun ein neues Erfolgsprodukt „made in Taiwan“: medizinische Masken.

Ich nehme an, wer in das Land einreisen möchte, muss weiterhin die 14 Tage Quarantäne konsequent in seinem Hotelzimmer ausharren?
Ja. Aber dafür gibt es in der Regel einen guten Hotelservice und die beste Internetverbindung, die man sich nur vorstellen kann.

Das Innovationssystem der nächsten Generation

Logo des Forschungsgipfel 2021 (Grafik: Stifterverband)
Logo des Forschungsgipfel 2021 (Grafik: Stifterverband)

Beim diesjährigen Forschungsgipfel geht es um die Frage: Was braucht es für ein zukunftsfähiges Innovationssystem in Deutschland? Wie sollte das Innovationssystem der nächsten Generation aussehen? Der Forschungsgipfel 2021 geht mit Blick auf die Bundestagswahl diesen Fragen nach. 

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