Illustration: Bernd Struckmeyer
Illustration: Bernd Struckmeyer

„In einer digitalen Gesellschaft braucht man kreative Experimentierwerkstätten statt standardisierter Effizienzmaschinen“

Die Herausforderungen unserer Zeit sind komplex und lassen sich schon längst nicht mehr nur innerhalb einer Fachdisziplin lösen. Der Stifterverband fördert daher Hochschulen, die in der MINT-Bildung über die Fächergrenzen hinausschauen. Warum ein Umdenken hier so wichtig ist, erklärt Bildungsexperte Thomas Sattelberger. Ein Gespräch über das Verständnis von Bildung, fehlende Experimentierfreude in Schulen und Hochschulen und das Setzen der richtigen Impulse.

Herr Sattelberger, Sie haben Soziologie und Betriebswirtschaft studiert. Wünschen Sie sich manchmal, Sie hätten auch in ein MINT-Fach reingeschnuppert?
Ich denke mein Leben lang weniger in Fächern, sondern in Erfahrungen. Und da gibt es tatsächlich etwas, das ich in einem beruflichen Leben unheimlich gern gemacht hätte: Ich wäre gern bei einer Deep-Tech-Gründung dabei gewesen. Sicher hätte ich da vor allem meine betriebswirtschaftliche und Transformationserfahrung eingebracht, aber in so einem Gründungsprojekt lernt man ja zwangsläufig auch viel über Technologie.

Das hat aber mit akademischer Bildung wenig zu tun.
Genau das ist doch der Reiz! Mich fasziniert der Gedanke, Aufgaben ganzheitlich anzugehen und mit anderen zu lösen. Eines der Projekte, mit denen ich mich gerade beschäftige, sind Maker-Garagen für Schulen …

Was sind denn Maker-Garagen?
Ich stelle mir darunter einen Raum an jeder Schule vor, in dem eine Malstaffelei steht, ein 3-D-Drucker, Lötkolben, Calliope-Miniroboter und so weiter. Jeder kann loslegen, machen und seine eigenen Projekte verfolgen und dabei unheimlich viel lernen. Dahinter steht ein neues Verständnis von MINT-Bildung: „experimental & experiential“, wie die Amerikaner sagen. Das Lernen für die digitale Welt ist ganz anders als das eher industriell geprägte, das wir aus den Schulen kennen: Es geht um Zusammenarbeit und nicht um Überordnung und Unterordnung von Lehrerin oder Lehrer zu Schülerin oder Schüler. Lernen auf Augenhöhe, Coaching statt Instruktion, Versuch und Irrtum statt Perfektion – alles das gehört da mit rein, und das kann in guten Maker-Garagen erlebt werden.

Damit sind wir aber ziemlich weit weg vom derzeitigen Bildungssystem, oder?
Möglicherweise sind die Reformanstrengungen von bildungsaktivistischen Überzeugungstätern, mit denen Schule selbst zu einem kreativen Lab gemacht werden soll, viel zu illusorisch. Es wäre klüger, nicht das ganze System umbauen zu wollen, sondern direkt daneben eine Art Parallelwelt aufzubauen. Das könnten diese Maker-Garagen sein. Kennen Sie eigentlich den Film „Der Club der toten Dichter“?

Zur Person

Thomas Sattelberger (Foto: Jens Jeske)
Thomas Sattelberger (Foto: Jens Jeske)

Thomas Sattelberger ist Manager, Politiker und Bildungsexperte. Der studierte Betriebswirt gründete in seiner Jugend in Stuttgart den Revolutionären Jugendverband Deutschlands (RJVD), begann später seine Karriere bei Daimler-Benz und wurde bei Continental und der Deutschen Telekom Personalvorstand und Arbeitsdirektor. 2017 wurde er für die FDP in den Deutschen Bundestag gewählt und wurde 2021 Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung. Mitte 2022 legte er alle politischen Ämter nieder. Seit vielen Jahren engagiert sich Sattelberger beim Stifterverband. Beim Wettbewerb MINTplus – plusMINT war er Juryvorsitzender.

Der Film, in dem eine Gruppe von Schülern mit ihrem Lehrer aus dem Korsett der Schule ausbricht?
Genau der. Schüler und Lehrer erschaffen darin eine neue Welt, in der es kreativer, schöpferischer, spielerischer, kollaborativer zugeht als im klassischen Unterricht, in dem bloß Lesen, Schreiben, Rechnen und saubere Fingernägel zählen. Das lässt sich auf unsere Situation übertragen: In einer Industriegesellschaft gilt – überspitzt gesagt – das Prinzip Vormachen, Nachmachen, Repetieren, Üben. Das reicht aus. Aber in einer digitalen Ökonomie, in einer digitalen Gesellschaft braucht man kreative Experimentierwerkstätten statt standardisierter Effizienzmaschinen. Und die Bildung muss das widerspiegeln.

Das Lernen für die digitale Welt ist ganz anders als das eher industriell geprägte, das wir aus den Schulen kennen: Es geht um Zusammenarbeit und nicht um Überordnung und Unterordnung von Lehrerin oder Lehrer zu Schülerin oder Schüler. Lernen auf Augenhöhe, Coaching statt Instruktion, Versuch und Irrtum statt Perfektion.
Thomas Sattelberger (Foto: Jens Jeske)
Thomas Sattelberger (Foto: Jens Jeske)

Thomas Sattelberger

Der Gedanke ist aber doch nicht neu. Das Studium generale ist ein uraltes Konzept, und schon im 19. Jahrhundert war ein Hermann von Helmholtz nicht nur Arzt und Naturwissenschaftler, sondern spielte täglich auch eine Stunde Klavier. Da war der Bildungsbegriff doch schon viel breiter, oder?
Bildung muss ja unterschiedlichen Ansprüchen genügen. Zum einen haben wir das Recht auf Bildung. Das führte dazu, dass unter dem Schlagwort des Bildungsnotstands in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts reihenweise (Fach-)Hochschulen gegründet worden sind, eine riesige Welle war das. Zweitens wurden Absolventinnen und Absolventen ja auch nachgefragt, gebraucht. Die Schulen und Hochschulen mussten über viele Jahre hinweg so viele Leute ausbilden, dass die allemal rudimentär gelebten humboldtschen Ideale immer mehr verschwanden. Aus elitären, oft auch ständisch geprägten Hochschulen wurden zum Teil Mega-Anstalten mit Massenveranstaltungen zur Produktion und Reproduktion von Wissen. Ich nenne das die Industrialisierung des Hochschulsystems.

Sie sprechen davon in der Vergangenheitsform. Ist das heute anders?
Nein, aber einige Hochschulen haben kapiert, dass man eine Art Humboldt 2.0 hinbekommt, wenn man die Potenziale der Digitalisierung voll nutzt. Digitale Lernplattformen mit tutoriellen und lernalgorithmischen Assistenzsystemen helfen bei dem individualisierten Wissenserwerb, sodass damit Kapazitäten frei werden – Kapazitäten, die sich für das Experimentieren, Reflektieren, Probleme lösen nutzen lassen.

An der Stelle setzt ja das Projekt MINTplus – plusMINT (siehe Kasten) des Stifterverbandes an, bei dem Sie in der Auswahlkommission saßen. Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Mich hat äußerst überrascht, dass es gar nicht einmal die Universitäten waren, die an allervorderster Reihe das Thema strategisch wie praktisch aufgegriffen haben, sondern Hochschulen für Angewandte Wissenschaften. Egal ob es darum ging, MINT ganzheitlich als hochschulisches Profil zu verankern, oder darum, ein ganzheitliches Studium generale zu verankern. Zum Zweiten war wieder einmal durch Augenschein-Validität erkennbar, dass spürbares Herzblut der Vortragenden und Güte des Vorhabens korrelierten. Das erlebe ich oft bei MINT!

Der Wettbewerb

Der Wettbewerb MINTplus – plusMINT soll mithelfen, die MINT-Bildung an deutschen Hochschulen für interdisziplinäre Inhalte zu öffnen und gleichzeitig MINT-Inhalte in Disziplinen wie die Geistes- und Kulturwissenschaften einzubringen. Dadurch sollen die Studierenden Kompetenzen erlangen, die sie für die Lösung der komplexen Herausforderungen unserer Zeit benötigen. Der Wettbewerb findet unter dem Dach des Programms Smart Qualifiziert statt, das der Stifterverband zusammen mit dem Mercedes-Benz Fonds aufgelegt hat.

Viele der ausgewählten Projekte haben einen vergleichsweise überschaubaren Umfang, betreffen aber nicht die gesamte Hochschule.
Aber mit ihnen gelingt es, einen Fuß in die Tür zu stellen! Das ist ungemein wichtig, denn nur so kann man den Raum öffnen. Mein Wunsch wäre es allerdings, dass solche Ansätze, wie wir sie in diesem Projekt fördern, zukünftig in ein konzeptionelles Gebäude eingebettet werden und zu einem Teil des übergreifenden Leitbildes einer Hochschule werden. Das alles macht der Stifterverband sehr geschickt, denn hier gilt das alte Sprichwort: Steter Tropfen höhlt den Stein. Die Hochschulen stehen gerade vor gewaltigen Umbrüchen, und da sind solche Impulse unheimlich wichtig.

Der Wettbewerb hat zwei Säulen: „MINTplus“, wo es um die Öffnung der MINT-Fächer für andere Disziplinen geht, und „plusMINT“, wo es um die Einbeziehung von naturwissenschaftlichen Inhalten in andere Studienfächer geht. Welche dieser beiden Säulen liegt Ihnen besonders am Herzen?
Ich glaube, dass man das gar nicht so scharf trennen sollte. Ich fand Ihr Beispiel mit Hermann von Helmholtz, der sich täglich eine Stunde den schönen Künsten gewidmet hatte, sehr treffend und übrigens auch sehr zeitgemäß. Schauen Sie in die USA oder auch nach England: Dort heißt das, was wir MINT nennen, ja STEM – eine Abkürzung für Science, Technology, Engineering, Mathematics. Und schon vor Jahren haben die daraus STEAM gemacht. Dieses eingefügte A steht für den Bereich der Arts und der Liberal Arts. Die haben dieses A in das Studium eingewoben. Es ist unheimlich wichtig, disziplinäre Gefängnisse zu verlassen und cross- und interdisziplinäres Denken und Handeln anzuregen. Dass STEAM eben auch Dampf heißt, ist da durchaus Programm: Da entsteht richtig viel Energie. Schade ist nur, dass sich unsere deutsche Abkürzung MINT für so ein Wortspiel nicht eignet. (lacht)

Haben die angelsächsischen Länder nur die bessere Abkürzung oder auch die besseren Konzepte? Denn was die Umbrüche im Bildungssystem angeht, die Sie erwähnt haben – vor denen stehen in Anbetracht der digitalen Herausforderungen ja alle Länder.
Uns in Deutschland hat der hohe Anteil industrieller Fertigung durch zwei Krisen in jüngerer Zeit geholfen. Offensichtlich hat er aber zugleich die frühzeitige Diversifikation und den Fokus auf Zukunftsbranchen – etwa künstliche Intelligenz, Biotech, Raumfahrt – verlangsamt, wenn nicht gar verhindert. Für uns in Deutschland sind Maschinen-, Anlagen- und Autobau sowie die Chemie das Standbein. Aber das Spannende ist: Länder, die sich neben solchen Standbeinen auch noch neue Spielbeine im Bereich der Plattformökonomie und der neuen Technologien aufgebaut haben, verfügen oft über die deutlich besseren Bildungssysteme, auch und gerade bei digitaler und MINT-Bildung. Meine Hypothese lautet deshalb: Es gibt eine kausale Verbindung zwischen der technologischen Diversifikation eines Landes und der (digitalen) Experimentierkultur im Bildungswesen. Die größere Experimentierfreude in Schulen und Hochschulen ist genau das, was ich mir für Deutschland wünsche – und dazu wollen wir ja mit dem Wettbewerb MINTplus – plusMINT beitragen.

DER STIFTERVERBAND WILL MINT-POTENZIALE HEBEN

Der Stifterverband ist überzeugt: Um Wirtschaft und Gesellschaft resilient und zukunftsfähig auszurichten, spielt die MINT-Bildung (MINT= Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) eine entscheidende Rolle. Um die MINT-Potenziale der Gesellschaft zu heben, setzt sich der Stifterverband gemeinsam mit Partnern unter anderem dafür ein, ausreichend MINT-Fachkräfte auszubilden, zu halten und mit entsprechenden Zukunftskompetenzen zu qualifizieren. Dazu fördert er aktuell unter anderem: 

Übersicht über Stifterverbands-Aktivitäten im Bereich MINT