Ein Europa der Herzen ist die EU in ihrer derzeitigen Form nicht. (Foto: iStock/ Bet_Noire

Europa als Republik

Kolumne,

Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise – die EU scheint wie eine einzige, immerwährende Krise. Der Brexit ist nur ein Symptom dafür. Doch ein anderes, besseres Europa ist machbar, meint unsere Gastautorin Ulrike Guérot: demokratischer, gerechter, sozialer, bürgernäher. Aber dafür müssen wir Europa ganz neu denken.

Utopie oder Untergang, so heißt eine Sammlung beeindruckender Essays von Benjamin Kunkel. Für Europa dürfte genau dies zutreffen: Die EU ist tot, es lebe die Europäische Republik!

Selten hat man mehr Wut auf die EU verspürt als dieser Tage. Die „Wutbürger“ sammeln sich als „Wahre Finnen“, Anhänger der PEGIDA, als Wähler des Front National oder UKIP auf der Straße und rufen „Wir sind das Volk“. Sie wollen und wählen die Flucht ins Nationale, die den Untergang Europas bedeutet. Brexit lässt grüßen. Die EU kommt aus ihrem Krisenmodus gar nicht mehr heraus.

Nur: Welche zentralen Ursachen hat die gegenwärtige tiefe Krise der EU? Die zentrale Ursache ist, dass Europa im klassischen Sinn die politische Dimension und der Souverän fehlt: Durch die entscheidende Rolle der Nationalstaaten im politischen System der EU wird der Bürger als eigentlicher Souverän ausgespielt. Deswegen werden permanent Lösungen im Sinne des europäischen Ganzen durch „nationale Karten“ torpediert. Anders formuliert: Im Maastrichter Vertrag ist die EU zugleich als Staaten- und als Bürgerunion konzipiert; de facto ist die EU aber nur eine Staaten- und keine Bürgerunion. An der aktuellen Brexit-Diskussion lässt sich das exemplarisch festmachen. Wäre die EU tatsächlich Staaten- und Bürgerunion zugleich, dann könnte – theoretisch gesprochen – der Staat Großbritannien aus der EU austreten, die Briten blieben indes weiterhin europäische Unionsbürger. Sie bleiben es aber nicht und genau dies verursacht jetzt große Probleme, zum Beispiel mit Blick auf die Frage der Personenfreizügigkeit. Die europäischen Bürger sind also nicht im eigentlichen Sinne der Souverän des politischen Systems in Europa. Und sie sind als europäische Bürger vor dem Recht nicht gleich, sondern gleichsam in „nationale Rechtscontainer“ einsortiert. Deswegen können gesamteuropäische Mehrheiten in der EU praktisch nicht abgebildet werden, da das System immer noch nationalstaatlich funktioniert. 

Ein Beispiel dafür war die jüngste Blockade der belgischen Region Wallonien, dem Freihandelsabkommen der EU mit Kanada, CETA, zuzustimmen. Unabhängig davon wie man zu CETA steht, ist die EU hier in einer tiefen, institutionellen Legitimitätskrise: Wie kann es sein, dass eine kleine Region mit gerade einmal rund 3,6 Millionen Einwohnern über ein Handelsabkommen für alle europäischen Bürger entscheiden darf, wohingegen Lokalregierungen anderer EU-Staaten außen vor bleiben? Nichts macht plastischer, dass die parlamentarische Repräsentation aller Bürger in Europa fundamental überdacht werden muss, und zwar in einem neuen Zweikammersystem, das dem Grundsatz der Gewaltenteilung genügen müsste.

Ulrike Guérot

Ulrike Guérot
Ulrike Guérot (Foto: Butzmann)

Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des European Democracy Lab an der European School of Governance (eusg). Sie arbeitet als Publizistin, Essayistin und Analystin zu Themen der europäischen Integration sowie zur Rolle Europas in der Welt. Sie ist aktuell Lehrbeauftragte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

Ulrike Guérot hat europäische Forschungsstellen und Think Tanks in Frankreich und Deutschland aufgebaut, sowie an europäischen und amerikanischen Universitäten zur europäischen Integration geforscht und gelehrt. Sie berät seit vielen Jahren politische Entscheidungsträger im Bereich der Europapolitik, wobei ihr Schwerpunkt auf der Weiterentwicklung europäischer Institutionen und einem gemeinsamen Auftritt Europas in der Welt liegt. 

Homepage von Ulrike Guérot

Und dies ist bei Weitem nicht das einzige Beispiel für die Dysfunktionalität der europäischen Demokratie. Auch das niederländische Referendum im April 2016 über das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ist so ein Beispiel. Warum sollten darüber nur die Niederländer abstimmen, wenn es alle europäischen Bürger betrifft? Oder: Die Mehrheit der europäischen Bürger ist zum Beispiel laut einer sozialwissenschaftlichen Studie für eine europäische Arbeitslosenversicherung. Diese wird aber von den Vertretern der Nationalstaaten im EU-Rat blockiert. Der EU-Rat repräsentiert damit oft nicht die Interessen der europäischen Bürger – das ist in allen Politikbereichen das zentrale Problem.

„Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie“

Um von der EU nach Europa, von der Staatenunion zur Bürgerunion zu kommen, dazu braucht es, um mit Joseph Schumpeter zu sprechen, gleichsam einen Akt der „schöpferischen Zerstörung“. Den kann man im realpolitischen Raum natürlich nur schwer inszenieren. Genau dies ist aber der Traum, um nicht zu sagen die Agenda von vielen zivilgesellschaftlichen Kräften, die jetzt in Deutschland, in Polen, in Frankeich oder wo auch immer in Europa nach einer constituante européenne rufen. „Ein Markt, eine Währung“, hieß der Schlachtruf der Währungsunion in den Neunzigerjahren, der heute komplementiert gehört: „Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie.“ Denn die Frage nach der nachnationalen Organisation einer parlamentarisch-repräsentativen  Demokratie in Europa ist akut aufgeworfen. Merkels Diktum aus der Eurokrise „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ muss darum korrigiert werden. In Wirklichkeit gehört der Satz umgedreht: „Bleibt der Euro so, wie er ist, scheitert die europäische Demokratie.“ Genau dies erleben wir allenthalben vor unseren Augen und fast jeden Tag bricht inzwischen in Europa ein Stückchen Demokratie mehr weg.

Mit kleinen EU-Reformschritten – wobei man zum Beispiel den letzten EU-Gipfel von Bratislava ja noch nicht einmal als solchen bezeichnen kann – ist das Ruder einer drohenden europäischen Dystopie wohl nicht mehr herumzureißen. Und wer den Untergang nicht will, siehe Benjamin Kunkel, muss also die Utopie wagen, die, wie Walter Benjamin schon so schön schrieb, in jedem Moment greifbar ist, wenn sich nur genug Menschen auf den Weg machen. 

Die Kontingenz der Geschichte erlaubt keinen Weg zurück in die Geschichte – und darum gibt es realpolitisch auch keine Möglichkeit eines „Rückbaus Europas“ zu Nationalstaaten, die längst nicht mehr das sind, was sie einmal waren, bevor das europäische Einigungsprojekt der letzten Generation sich erst in Form von EWG und dann in Form von EU über den europäischen Kontinent entfaltet hat. Die Populisten sind also die eigentlichen nostalgischen Träumer; und der Verweis der nationalen Realpolitiker, der selbst ernannten Pragmatiker, auf vermeintlich utopische Ideen derer, die einen neuen Entwurf für Europa wagen, rechtfertigt nur das eigene europäische Nichtstun und zeigt lediglich die allgemeine Mutlosigkeit der Politik zur Utopie.

Darum sind die Träumer die wirklichen Realisten und Mutigen – und zwar die, die der Meinung sind, dass „Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie“ gar kein Traum bleiben muss; nein, dass wir in Wirklichkeit nur einen Fingerzeig davon entfernt sind, nach so vielen Jahren der europäischen Errungenschaften. Dass wir im Grunde nur noch die letzten, die zugegebenermaßen schwersten Meter gehen müssten. Nach so viel gemeinsamer Wegstrecke. 

Gleiches Recht für alle europäischen Bürger

Foto: iStock/ericsphotography

Wie kann also ein neues Europa, ein demokratischeres, gerechteres, sozialeres und bürgernäheres Europa aussehen, das dem Anspruch gerecht wird, den Grundsatz der politischen Gleichheit zu verwirklichen? Aequum ius – gleiches Recht für alle europäischen Bürger. Genauer: Wahlrechtsgleichheit, steuerliche Gleichheit und gleicher Zugang zu sozialen Rechten.

Sonst kann ein politisches Gemeinwesen auf Dauer nicht funktionieren. Die EU hat dieses Versprechen nie eingelöst. Die ever closer union der Nationalstaaten hat als europäische Leitidee ausgedient, das wird immer deutlicher. Selbst der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnte kürzlich vor einem Auseinanderfallen der EU. Die Nationalstaaten können ein wirkliches europäisches Projekt nicht hervorbringen. Das politische Projekt Europa kann letztlich in einer emanzipatorischen Bewegung nur von den europäischen Bürgern selbst konstituiert werden, denn sie sind der Souverän.

Wann immer sich Bürger zu einem politischen Projekt zusammengeschlossen haben, haben sie eine Republik gegründet. Die Republik ist nicht ethnisch konturiert; sie ist ein gemeinsamer, nachnationaler Rechtsrahmen. Die Republik braucht dafür kein „Volk“, sondern Bürger; der Nationalstaat ist weder das natürliche noch das einzige Gefäß für eine Republik.

Es ist Zeit, dieses kulturhistorische Ideengut auf das europäische Projekt selbst anzuwenden: Europa muss eine Republik werden, in der sich die europäischen Bürger auf der Grundlage von gemeinsamem Recht zusammenfinden – anstatt von ihren Nationalstaaten permanent gegeneinander ausgespielt zu werden und innerhalb der EU ein nationales „Wir“ gegen ein anderes nationales „Wir“ zu stellen, bei dem letztlich alle in Europa um ihre Zukunft betrogen werden.

Europa muss eine Republik werden, in der sich die europäischen Bürger auf der Grundlage von gemeinsamem Recht zusammenfinden – anstatt von ihren Nationalstaaten permanent gegeneinander ausgespielt zu werden.
Ulrike Guérot
Ulrike Guérot (Foto: Butzmann)

Ulrike Guérot

Europa ja, aber nicht diese EU

Eine europäische Republik, die sich um das europäische Gemeinwohl kümmert, ist die Alternative zu einer EU, die über einen Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung weitgehend technokratisch in nationale politische Strukturen hineinregiert. Denn die meisten Menschen wollen nach wie vor Europa, nur nicht diese EU. Die Ausgestaltung einer veritablen nachnationalen europäischen Demokratie ist also das Gebot der Stunde – wenn nicht dauerhaft europäische Lösungen durch nationalen, vermeintlich „demokratischen Einspruch“ konterkariert werden sollen.

Die Idee einer Europäischen Republik wäre daher der überfällige Schritt nach vorne: eine nachnationale Demokratie, basierend auf dem Grundsatz der politischen Gleichheit und dem Prinzip der Gewaltenteilung, in der die heutigen europäischen Regionen zu konstitutionellen Trägern einer Europäischen Republik würden.

Regionen sind Heimat, Nationen sind Fiktion, schreibt der berühmte österreichische Schriftsteller Robert Menasse. Das Nationale ist meist nur eine Erzählung, das Regionale, das ist die Sprache, die Küche und die Kultur. Würde man die Regionen im politischen System einer Europäischen Republik aufwerten, bekäme man genau jene „Einheit in Vielheit“, ohne eine verkrampfte und künstliche europäische Identität schaffen zu müssen, die es so nicht gibt; die kulturelle Identität bliebe im Gegenteil den Regionen vorbehalten, die in Europa durch ihre Unterschiedlichkeit bestechen. Das gemeinsame europäische Dach aber wäre das gleiche Recht, das die Europäische Republik für alle Bürger Europas garantieren würde. Normativ gleich, aber kulturell vielfältig, so könnte das europäische Modell der Zukunft aussehen: Bayern und Venedig, Tirol und Düsseldorf, Katalonien und Sachsen, Mähren und Brabant, sie alle wären vereint in der Europäischen Republik, bei gleichzeitiger politischer und kultureller Autonomie. Vertreter der Regionen könnten in einer zweiten Kammer, ähnlich dem amerikanischen Senat, die regionalen Interessen vertreten, während die erste Kammer auf der Grundlage von „eine Person, eine Stimme“, also bei gleichem und direktem Wahlrecht, von allen Bürgern gewählt würde. An der Spitze der Republik stünde ein direkt von den Bürgern gewählter Präsident.

Jedem seine Leberwurst, aber eine gemeinsame europäische Ukraine-Politik. Gegen so ein Europa hätten bestimmt auch die meisten Niederländer nichts!

Ulrike Guérot

Wettbewerb ist für Unternehmen, nicht für Bürger

Die Republik kümmert sich um das Große und Ganze – Außenpolitik, Cyber, Energie. Klima – und die Rolle Europas in der Welt; der Rest bliebe den Regionen vorbehalten. Jedem seine Leberwurst, aber eine gemeinsame europäische Ukraine-Politik. Gegen so ein Europa hätten bestimmt auch die meisten Niederländer nichts!

Neben einer politischen und territorialen Neuordnung ist auch eine wirtschaftliche Neuordnung Europas vonnöten. Die europäische Postdemokratie, die dem Markt das Primat über politische Entscheidungen gegeben hat, muss beendet werden. Die großen Konzerne agieren längst transnational und auch die Wertschöpfungsketten sind schon lange nicht mehr national. Dies bedarf dringend einer europäischen Einbettung durch gemeinsame soziale, steuer- und tarifrechtliche Strukturen, wenn nicht permanent europäische Bürger in ihren Rechten gegeneinander ausgespielt werden sollen, während europäische Unternehmen innerhalb des Binnenmarktes auf Steuer-und Lohnshoppingtour gehen. Wettbewerb ist für Unternehmen, nicht für Bürger. Europa muss hier vom Kopf auf die Füße gestellt werden und bürgerliche Gleichheit garantieren, nicht nur Gleichheit für Marktakteure zulasten der Bürger.

Die meisten europäischen Bürger haben, wie sozialwissenschaftliche Studien belegen, den Grundsatz der politischen Gleichheit schon längst akzeptiert. Sie finden indes kaum mutige nationale Politiker, die sich dafür einsetzen. Das ist der nationale Verrat an der europäischen Idee, den wir augenblicklich überall erleben – und vielleicht bald bereuen müssen.

Raus aus dem Krisenmodus, über Bord mit der Beschwerdekultur, weg mit dem Zukunftspessimismus und hinein in eine Geisteshaltung, in der wir uns das Denken über europäische Alternativen und das Bekenntnis zur Schönheit des europäischen Projektes wieder erlauben: Die nachnationale Emanzipation der europäischen Bürger bereitet den Weg der Europäischen Republik!