Illustration digitales Prüfen
Illustration: iStock/TarikVision

Fluch und Segen der digitalen Prüfung

Wenn bald das dritte digitale Corona-Semester endet, müssen die meisten Studierenden ihre Prüfungen wieder online ablegen. Doch wie läuft das praktisch ab? Ist schummeln jetzt einfacher geworden und wie wird es nach Corona weitergehen?

Gäbe es in der Hochschulcommunity einen offiziellen Wettbewerb für das Wort des Jahres, ginge „Take-Home-Prüfung“ vermutlich als klarer Sieger für 2020/2021 hervor. Im dritten Coronasemester sind digitale Prüfungen von zu Hause aus fester Bestandteil des Alltags geworden. Die Bandbreite ist groß: Closed-Book- (Spickzettel und andere Hilfsmittel sind verboten), Cheat-Sheet- (zuvor festgelegte Spickzettel sind erlaubt), Open-Book- (das Nachschlagen in verschiedenen Quellen ist während der Klausur erlaubt), Open-Web- (Recherchen überall und im Web erlaubt), semesterbegleitende Portfolio-Prüfungen oder mündliche Prüfungen im Videocall.

„Die Fragen nach Datenschutz und Rechtssicherheit der Prüfungen stehen derzeit im Vordergrund. Außerdem bedeuten Prüfungen unter Pandemie-Bedingungen für viele Lehrende gleich den großen Sprung von der Papierprüfung hin zu digitalen Formaten. Das verunsichert viele und erhöht den Beratungsbedarf, bei Lehrenden und auch Studierenden“, sagt Florian Rampelt, Leiter des KI-Campus des Stifterverbandes und stellvertretender Geschäftsstellenleiter des Hochschulforums Digitalisierung (HFD). Das HFD hat deshalb im Frühjahr 2021 die Community-Arbeitsgruppe „Prüfungsformate und -szenarien in der digitalen Hochschulbildung“ ins Leben gerufen (siehe Kasten).

Fest steht: Digitale Leistungsmessung wird für Hochschulen immer wichtiger. E-Prüfungsformate gab es auch schon vor Corona, etwa mithilfe von Plattform-Software wie ILIAS oder Moodle: Studierende nutzen dafür in der Regel am Klausur-Termin einen dafür vorgesehenen PC-Raum der Hochschule, loggen sich dort in einen Rechner ein und bekommen Zugriff auf digitale Prüfungsbögen, die in der festgelegten Zeit unter Aufsicht bearbeitet werden.

AG „Prüfungsformate“

Illustration: K3/Sebastian Niemann
Illustration: K3/Sebastian Niemann

E-Assessment, digitale Prüfungen, Online-Proctoring – digitale Leistungsmessung wird für Hochschulen immer wichtiger. Aus diesem Grund beschäftigt sich nun eine Arbeitsgruppe des Hochschulforums Digitalisierung (HFD) mit dem Thema. Rund 60 Fachleute von Hochschulen und anderen Institutionen tauschen sich darin über den Status quo, über Chancen und Herausforderungen sowie über nachhaltige Konzepte für digitale Prüfungen aus. Die Ergebnisse werden im Sommer 2021 als Blogbeiträge und Diskussionspapiere veröffentlicht. 

Zahl der digitalen Prüfungen stark gestiegen

Malte Persike, Leiter des Centers für Lehr- und Lernservices an der RWTH Aachen, berät und unterstützt Lehrende und Studierende beim Thema E-Prüfungen. Die Universität hat mit Dynexite ein eigenes Portal für elektronische Tests und Prüfungen entwickelt. Die Zahl der digitalen Prüfungen allein über Dynexite sei coronabedingt zwischen dem Wintersemester 2019/2020 und dem Sommersemester 2021 von 25.000 auf 130.000 in die Höhe geschnellt, sagt Persike.

Seiner Beobachtung nach würden die meisten Lehrenden, die sich einmal in E-Prüfungen eingefuchst haben, darauf nicht mehr verzichten wollen. Denn: „Einer der entscheidenden Vorteile von elektronischen Tests mit nach dem Zufallsprinzip gestellten Zahlenwertaufgaben und Multiple-Choice-Fragen ist die schnelle, weil automatische Korrektur und die direkte Rückmeldung an die Studierenden“, sagt Persike. „Der Workflow ist zudem stark vereinfacht, alles, inklusive der Archivierung der Klausuren, läuft elektronisch und papierlos ab.“

Einer der entscheidenden Vorteile von elektronischen Tests mit Zahlenwertaufgaben und Multiple-Choice-Fragen ist die schnelle, weil automatische Korrektur und die direkte Rückmeldung an die Studierenden.
Malte Persike (Foto: Bettina Ausserhofer)
Malte Persike (Foto: Bettina Ausserhofer)

Malte Persike

Leiter des Centers für Lehr- und Lernservices an der RWTH Aachen

Wie viel Überwachung ist zulässig?

Diejenigen, die digitalen Prüfungen noch skeptisch gegenüberstünden, machten sich derzeit bei den Take-Home-Prüfungen vor allem Gedanken um den Datenschutz und um das Prüfungsniveau. Viele seien unsicher, in welchem Umfang etwa bei Open-Book-Klausuren Hilfsmittel zum Einsatz kommen dürfen oder befürchteten Täuschungsmanöver seitens der Studierenden insbesondere bei den Closed-Book-Klausuren. 

Bei Closed-Book-Prüfungen, seltener auch bei Open-Book-Prüfungen, findet die Videoüberwachung entweder als Live-Überwachung über die virtuellen Chaträume statt oder über ein sogenanntes Online-Proctoring. Videoüberwachungen werden bereits eingesetzt. Die Studierenden werden vor Beginn der Prüfungen darüber informiert und müssen dann ihre Webcam und/oder ihre Handykamera aktivieren.

Lehnen sie die Überwachung mit Hinweis auf eine Verletzung der Privatsphäre ab oder gibt es nachvollziehbare technische Probleme in den eigenen vier Wänden (zum Beispiel schwache Internetverbindung, fehlende Computerperipheriegeräte) oder auch ein lautes WG-Zimmer, müssen die Hochschulen es ihnen ermöglichen, Klausuren unter Aufsicht an einem anderen Ort zu schreiben.

Wie lässt sich Schummeln bei Online-Prüfungen verhindern?

„Wir haben in Aachen studentische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einer Klausursimulation darum gebeten, zu täuschen. Dem Einfallsreichtum waren dabei keine Grenzen gesetzt“, berichtet Persike. Spickzettel, vorproduzierte Kamerabilder und Tippgeräusche – alles war erlaubt. Resultat: Was bei einer Prüfung im Hörsaal von den Aufsichtführenden vermutlich selten übersehen worden wäre, blieb bei einer E-Prüfung von zu Hause häufiger unbemerkt. „Sobald die Coronabeschränkungen fallen, werden deshalb Closed-Book- und Cheat-Sheet-Klausuren von zu Hause aus sicherlich nur noch in Ausnahmefällen zur Anwendung kommen“, ist Persikes Einschätzung.

Sehr umstritten bei Studierenden wie Lehrenden ist das Proctoring über Plattformen wie Proctorio, das die Installation einer spywareartigen Software auf den Computern der Prüflinge erfordert. Diese Überwachung durch künstliche Intelligenz (KI) kann bestimmte Aktionen auf dem Rechner unterbinden, Auffälligkeiten im Verhalten des Prüflings registrieren und „Warn“-Marker setzen, anhand derer die Lehrenden auf verdächtiges Verhalten eines Prüflings im virtuellen Klausurraum aufmerksam gemacht werden können. Bislang haben nur Bayern und Baden-Württemberg das Procotoring rechtlich ermöglicht.

Der massive Eingriff in die Computer der Studierenden ist für Malte Persike jedoch ein klares Argument gegen Online-Procotoring. Vorstellbar ist für ihn aber die Kombination von Proctoring und Echtzeitüberwachung durch die Lehrenden – vor allem weil die Beweisführung äußerst schwierig sei, wenn Täuschung im Nachhinein nur anhand einer Procotoring-Aufzeichnung nachgewiesen werden soll. 

Was sagen die Studierenden?

Leonie Ackermann (Foto: privat)
Leonie Ackermann (Foto: privat)

„Eine Videoüberwachung einzelner Studierender durch die Lehrenden in Meeting-Apps wie Zoom ist bei Massenklausuren mit 70, 80 oder mehr Teilnehmenden praktisch kaum möglich. Die Überwachung durch Proctoring-Software ist aber ebenfalls keine Alternative. Die Algorithmen, die verdächtige Abweichungen melden, bergen ein hohes Diskriminierungspotenzial, weil sie nicht neutral bewerten. So hat sich in den USA gezeigt, dass Proctoring-Software bei der biometrischen Gesichtserkennung dunkelhäutige Angehörige bestimmter Ethnien nicht als Menschen erkennt. Außerdem werden schon geringe Verhaltensänderungen wie häufiges Wegschauen vom Bildschirm oder Aufspringen vom Platz als verdächtig eingeordnet. Diversität im Verhalten – zum Beispiel wegen bestimmter mentaler Dispositionen oder einfach aus situativer Nervosität heraus – wird von den Algorithmen nicht als solche akzeptiert. Und das ist problematisch.“

Leonie Ackermann studiert Computing in the Humanities an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, ist unter anderem Mitglied der Arbeitsgruppe „Digitalisierung von Lehre und Studium“ des Wissenschaftsrats und sitzt der Ständigen Kommission Digitalisierung der Hochschulrektorenkonferenz bei.

Frau mit Laptop
Illustration: iStock/Anna Semenchenko

„Eine Physikklausur, auf die ich mich gut vorbereitet hatte, fand als Open-Book-Klausur statt. Das Einloggen in den virtuellen Prüfungsraum und das Herunterladen der Aufgaben funktionierten noch problemlos. Doch die meisten Aufgaben waren sehr viel schwieriger und teils anders als alles, was wir in den Lehrveranstaltungen gemacht hatten. Weil die Anforderungen so hoch waren, hatte ich im Prinzip überhaupt keine Zeit, nebenher etwas nachzuschlagen oder im Netz zu recherchieren. Anderen ging es ähnlich, viele meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen haben die Prüfung deshalb nicht bestanden. Ich glaube, unser Professor hat die Klausur besonders schwierig gestaltet, um die Tatsache auszugleichen, dass wir ja theoretisch auf Hilfsmittel hätten zurückgreifen dürfen.“

Katharina Hoffmann studiert an der Humboldt-Universität zu Berlin Biologie. 

Ali Simsek (Foto: privat)
Ali Simsek (Foto: privat)

„Die Klausuren, die ich bislang online geschrieben habe, waren sehr heterogen – und das liegt sicherlich daran, dass viele Lehrende selbst unsicher sind, welcher Workload realistisch ist. Außerdem gibt es immer wieder technische Pannen. Ich habe beispielsweise von Mitstudierenden gehört, dass es nicht möglich war, während einer Multiple-Choice-Prüfung innerhalb der Klausurzeit noch einmal zu einer früheren Frage zurückzukehren, um diese nachträglich noch zu beantworten oder eine versehentlich falsche Lösung zu korrigieren – was bei einer handschriftlichen Präsenzprüfung auf Prüfungsbögen jederzeit möglich ist.“

Ali Simsek studiert an der Leuphana Universität Lüneburg Politikwissenschaften.

Auch Lehrende wie Mathias Magdowski vom Institut für Medizintechnik an der Universität Magdeburg halten nichts von Überwachung mit störanfälliger Technik und plädieren stattdessen dafür, mehr Zeit in die Entwicklung alternativer Prüfungskonzepte zu stecken. Magdowski hält zudem mehrere semesterbegleitende Prüfungen statt einer Closed-Book-Klausur am Ende des Semesters für wesentlich sinnvoller: „Perspektivisch ist es für mich der Königsweg, eine summative Prüfung durch viele kleine formative Assessments zu ersetzen, die kontinuierliche Rückmeldung an die Studierenden geben“, sagt er.

Mehr Flexibilität und Vielfalt bei den Prüfungen

Die Molekularbiologin Monika Gross, Professorin an der Beuth Hochschule für Technik Berlin und Vizepräsidentin der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), spricht sich für Flexibilität und Vielfalt bei den Prüfungen aus. Das oberste Gebot – Chancengleichheit und Vergleichbarkeit – könne durch unterschiedliche Prüfungstypen gewährleistet werden. Für sehr sinnvoll hält sie beispielsweise Portfolio-Prüfungen, die sich aus einzelnen während des gesamten Semesters erbrachten Leistungen zusammensetzen und anschließend meist in einer Dokumentdatei zusammengeführt übermittelt werden. Auch handschriftliche Prüfungen seien in Ordnung. Denn: Viele Studierende hätten selbst in Coronazeiten oft lieber eine Präsenzklausur an der Hochschule, weil die Angst vor technischen Pannen zu Hause ein enormer Stressfaktor sei. „Viele befürchten schlechtere Noten, wenn sie Zeit durch nicht funktionierende Hard- oder Software verlieren. An der Hochschule steht ein technischer Support zur Verfügung, der sich um solche Probleme kümmern kann. Zu Hause ist das natürlich nicht ohne Weiteres möglich“, sagt Gross.

„Die Hochschulen sollten deshalb ihre Kapazitäten für digitale Prüfungen in hochschuleigenen PC-Räumen so ausbauen, dass Prüfungen dort auch unter Wahrung von Abstandsregeln möglich sind.“ Die Professorin selbst macht während der Zeit der Kontaktbeschränkung viel Gebrauch von mündlichen Assessments per Videocall. Diese seien vielfältig einsetzbar: für Referate, die Verteidigung einer Bachelorarbeit oder auch, klassisch, für mündliche Prüfungen. „Die Aufzeichnung ist rechtlich zulässig, kann gegebenenfalls bei Unklarheiten zwischen Prüfenden und Prüfling erneut angeschaut werden und wird gelöscht, wenn das Prüfungsverfahren abgeschlossen ist“, erläutert Gross.

Viele befürchten schlechtere Noten, wenn sie Zeit durch nicht funktionierende Hard- oder Software verlieren.
Monika Gross (Foto. Screenshot Stifterverband)
Monika Gross (Foto. Screenshot Stifterverband)

Monika Gross

Professorin an der Beuth Hochschule für Technik Berlin und Vizepräsidentin der Hochschulrektorenkonferenz

Malte Persike von der RWTH Aachen hält auch Open-Book- oder Open-Web-Klausuren für ein gutes Format: „Insbesondere bei Open-Book- beziehungsweise Open-Web-Prüfungen kommt es auf die Fähigkeit an, Wissen unter Zeitdruck zu lokalisieren, zu differenzieren und anzuwenden. Dadurch steht weniger das reine Auswendiglernen als vielmehr die Kompetenzorientierung im Vordergrund.“ Und das sei eine gute Entwicklung. Allerdings müssten Lehrende etwas Arbeit investieren, um die Struktur von Klausuren entsprechend anzupassen. „Außerdem rate ich dazu, das Open-Book-Verfahren vorher mit den Studierenden in der Lehrveranstaltung zu trainieren, weil sie oft wenig Erfahrung mit dem Recherchieren von Informationen unter Zeitdruck haben.“