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Hier endet das Gendern

Kolumne,

Vom Flüchtling zum Geflüchteten – die deutsche Sprache soll immer häufiger nicht nur schön klingen, sondern vor allem politisch korrekt sein. Insbesondere die Genderfrage fordert das Deutsche heraus. Leider werden beim Gendern allzu oft sprachliche Gegebenheiten missachtet, sagt der Linguist Peter Eisenberg in seinem Gastbeitrag.

Wie zu erwarten, wurde „Flüchtlinge“ zum Wort des Jahres 2015 gewählt. Die Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) schreibt dazu: „Das Substantiv steht nicht nur für das beherrschende Thema des Jahres, sondern ist auch sprachlich interessant. Gebildet aus dem Verb ‚flüchten’ und dem Ableitungssuffix ‚-ling’ (Person, die durch eine Eigenschaft oder ein Merkmal charakterisiert ist), klingt ‚Flüchtling’ für sprachsensible Ohren tendenziell abschätzig. Analoge Bildungen (…) sind negativ konnotiert, andere (…) haben eine deutlich passive Komponente.“  

Beide Zuschreibungen passen zwar ins Bild eines irgendwie problematischen Wortes, sind aber für „Flüchtlinge“ durch nichts begründet. Aller Wahrscheinlichkeit nach treffen sie nicht zu. Das Wort ist alt und, wie Sprachwissenschaftler sagen, lexikalisiert im Sinne von „nicht mehr transparent“. Diese Eigenschaft teilt es mit zahlreichen anderen Wörtern wie Findling, Liebling, Zwilling, Stichling, Sämling, Frühling, die keineswegs negativ konnotiert sind. Die passive Komponente tritt bei Ableitungen von bestimmten transitiven Verben auf wie bei prüfen – Prüfling, säugen – Säugling, impfen – Impfling. Das Verb „flüchten“ gehört nicht zu dieser Gruppe. Unter den über 300 Wörtern mit der Endung -ling findet jeder, was er gerade braucht.

Ist der Begriff „Flüchtlinge“ politisch inkorrekt?

(Foto: Stifterverband)

Interessant ist, dass „Flüchtlinge“ sich bei genauerem Hinsehen als politisch inkorrekt erweist. Es handelt sich meist um Personenbezeichnungen im Maskulinum, die von der Bedeutung her eigentlich einem Femininum zugänglich sein sollten wie bei Denker – Denkerin oder Dieb – Diebin. Aber die Form „Flüchtlinginnen“ gibt es im Standarddeutschen nicht. Es kann sie auch nicht geben, ihre Bildung ist ausgeschlossen.

Der Grund für das zunächst rätselhafte Verhalten des Suffixes „ling“ ist systematischer Natur. Die Wortbildungssuffixe des Deutschen sind an eine feste Reihenfolge gebunden, die semantisch begründet ist. Von links nach rechts folgt sie der sog. Belebtheitshierarchie, der ein am Sprachlichen orientierter, gut fundierter Begriff von Belebtheit zugrunde liegt. Für unseren Fall besagt sie, dass das „belebteste“ Element am weitesten links steht und Belebtheit nach rechts abnimmt. Das führt beispielsweise dazu, dass Abstraktheitssuffixe niemals links von solchen stehen, die Personenbezeichnungen bilden. Die Hierarchie ist von allergrößtem Interesse für viele grammatische Phänomene in vielen Sprachen, im Deutschen beispielsweise auch für die Grundreihenfolge von Satzgliedern wie in „weil der Student seiner Universität schwere Vorwürfe macht“.

Das Suffix „ling“

Einem Verbstamm folgt in der Wortbildung als „belebtestes“ Element unmittelbar das Suffix „er“ zur Bildung von Nomina agentis wie Denker, Fahrer, Angler. Nach der Hierarchie folgen „in“ (Movierung: Denkerin), „schaft“ (Kollektivum: Denkerinnenschaft), danach das vielseitig verwendbare Diminutivsuffix „chen“ und schließlich das Pluralsuffix. Es kommt vor, dass in einer solchen Hierarchie zwei Suffixe sozusagen parallel geschaltet sind und dann nur alternativ auftreten, niemals aber gemeinsam, egal in welcher Reihenfolge. Das gilt für „in“ und „ling“. Beide bilden im Gegenwartsdeutschen Personenbezeichnungen, das eine Feminina, das andere Maskulina. Das System sieht sie als miteinander unverträglich an.

Das zu begründen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Aber schon die Sichtung von Vorkommen der Suffixfolge „lingin“ wie in Flüchtlingin zeigt, dass bei solchen Formen fast durchweg mit der grammatischen Norm gespielt wird. Formen wie  Anlernlingin, Aufdringlingin, Fieslingin, Häftlingin, Nervlingin sind mir wiederholt in Seminararbeiten über Jugendsprache begegnet, aber auch in literarischen Texten kommen Bildungen dieser Art vor. Dazu einige Beispiele.

Das Grimmsche Wörterbuch bringt aus dem Werk von Friedrich Leopold Stolberg zum Stichwort Fremdling folgenden Beleg (Bd. 4, 130): „und willkommen ist die kühne fremdling auch oft unter den reigen der himmlischen.“  Die Grimms fügen dem hinzu „deutscher klingt fremdlingin.“ Im Text von Stolberg soll mit „die fremdling“ ein Bezug auf „die muse“ hergestellt werden. Der Dichter ist zu einer Regelverletzung bereit, die von den Grimms gemildert, aber nicht beseitigt werden soll. Nur so kann ihre Formulierung „deutscher klingt“ verstanden werden. 

Bei Jean Paul, dessen Wortschatz ja durch einen besonders kreativen Umgang mit Wortbildungsregularitäten gekennzeichnet ist, findet sich mehrfach die Fremdlingin, beispielsweise in der „Vierten biographischen Belustigung. Der Tod“ aus dem Jahr 1796. „Fremdlingin“ steht in unmittelbarer Nachbarschaft zu „Emigrantin“. Es sieht ganz danach aus, als handele es sich um eine Analogiebildung. Auch die „Flüchtlingin“ kommt vor (zum Beispiel Titan, 104. Zykel, 1802):  „Der Kurfürst sagte: »er wisse doch nichts dieser schönen Halbkugel Ähnlicheres als eine viel kleinere, die er im Herkulanum in Asche ausgedrückt gefunden, vom Busen einer schönen Flüchtlingin.« Der Richter lachte ….“

Peter Eisenberg bei „Forschergeist“

Peter Eisenberg (Foto: Jürgen Christ)

Peter Eisenberg ist ein deutscher Linguist. Der emeritierte Professor für Deutsche Sprache der Gegenwart war 2015 zu Gast beim Stifterverbands-Podcast „Forschergeist“. Ein Gespräch über die Stellung, die das Deutsche unter den Sprachen der Erde einnimmt, Deutsch als Wissenschaftssprache und wie Sprache das Denken formt.

Die Folge anhören.

In einem Leserbrief (FAZ vom 22. Dezember 2015, 6) zitiert Claus Plantiko (Bonn) aus Friedrich Hölderlins ‚Brod und Wein’ die (hier in der Fassung des Leserbriefs wiedergegebene) Passage „Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf, / Sieh! Und das Ebenbild unserer Erde, der Mond, / Kommet geheim nun auch, die schwärmerische, die Nacht kommt, / voll von Sternen, und wohl wenig bekümmert um uns / Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen / Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.“ Der Schreiber möchte ins Bewusstsein heben, „wie meisterhaft Hölderlin hier systemwidrig die verfremdende Wirkung des auch 1801 ungewohnten Wortes nutzt, um die Fremdheit der Nacht … zu verdeutlichen.“

Rüdiger Harnisch (Passau) schließlich verdanke ich einen Hinweis auf Max Frischs „Andorra“ (1961), wo es heißt: „Ich bin Gastwirt. Man kann eine Fremdlingin nicht von der Schwelle weisen. Jemand lacht, die Zeitung lesend.“ Das Lachen, so ergibt sich, ist der Verwendung des eigenartigen Wortes geschuldet.

Es gibt Fälle, in denen das Sprachsystem die vielleicht verbreitetste Form des Genderns nicht zulässt. Das sollte jeder, der auf diesem Gebiet tätig wird, wissen und akzeptieren.

Peter Eisenberg

Aus dem Vorkommen von „lingin“-Bildungen zu schließen, sie seien letztlich doch grammatisch, würde die Verhältnisse auf den Kopf stellen. Unbedingt von Interesse ist natürlich, warum gerade Fremdlingin immer wieder verwendet wird. Systematische Erhebungen würden möglicherweise ein anderes Bild ergeben und zu Überraschungen führen. Wir lassen die Frage vorläufig dahingestellt und kommen zu dem Schluss, dass es Fälle gibt, in denen das Sprachsystem die vielleicht verbreitetste Form des Genderns nicht zulässt. Das sollte jeder, der auf diesem Gebiet tätig wird, wissen und akzeptieren. Als Ausweg steht dann nur die Propagierung eines Wortes mit anderer Struktur zur Verfügung. Für Flüchtlinge ist bereits „Geflüchtete“ im Schwange. Die GfdS schreibt: „Neuerdings ist … öfters [sic] alternativ von Geflüchteten die Rede. Ob sich dieser Ausdruck im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.“ „Geflüchtete“ ist dem Gendern zugänglich, zeigt aber auch, wo das sprachliche Kernproblem dieser wie der meisten anderen willkürlichen Normsetzungen liegt: Die beiden Wörter bedeuten nicht dasselbe.

Auf Lesbos landen tausende von Flüchtlingen, ihre Bezeichnung als Geflüchtete ist zumindest zweifelhaft. Man stelle sich einmal vor, dass Wörter wie Flüchtlingskinder, Flüchtlingsunterkünfte, Bootsflüchtlinge, Wirtschaftsflüchtlinge mechanisch ersetzt würden durch Geflüchtetenkinder, Geflüchtetenunterkünfte, Bootsgeflüchtete, Wirtschaftsgeflüchtete. Und auch umgekehrt wird ein aus der Adventsfeier Geflüchteter nicht zum Flüchtling. Das Deutsche ist so bildungsmächtig, dass man sich durchaus andere Wörter als Ersatzkandidaten vorstellen kann, etwa Vertriebene, Geflohene, Zwangsemigranten, Entheimatete und viele weitere, von denen eins schöner ist als das andere. Aber es bleibt dabei: Sie alle bedeuten etwas anderes als Flüchtlinge.

Manipulierte Sprache

Von außen erzwungene Wortersetzungen mögen im Einzelfall erfolgreich sein, nur beruht jede von ihnen auf Missachtung sprachlicher Gegebenheiten.

Peter Eisenberg

Der etablierten Genderei sind solche Erwägungen ziemlich gleichgültig. Natürlich ist ein Denkender nicht dasselbe wie ein Denker, ein Dichtender nicht dasselbe wie ein Dichter. Aber ein Studierender soll (bis auf die Genderbarkeit) dasselbe sein wie ein Student, ein Auszubildender dasselbe wie ein Lehrling. Von außen erzwungene Wortersetzungen mögen im Einzelfall erfolgreich sein, nur beruht jede von ihnen auf Missachtung sprachlicher Gegebenheiten.

Das Deutsche hat aus sehr guten Gründen seine Partizipien neben den verschiedenen Typen von Wortbildungen per Suffix. Gerade auf den Feinheiten der strukturellen Unterschiede beruht seine differenzierte Ausdruckskraft.

Sogar ein unschuldiges Wort wie „Flüchtling“ wird so zum Ansatz für Sprachkritik. Was einen Sprachwissenschaftler am etablierten Gendern selbst dann beunruhigt, wenn er die sprachliche Sichtbarmachung von Frauen freudig begrüßt, ist Dreierlei. Erstens: Die Sprache wird nicht akzeptiert wie sie ist, sondern sie gilt als manipulierbarer Gegenstand mit unklaren Grenzen dieser Manipulierbarkeit. Zweitens: Die Kenntnis des Gegenstandes, an dem man Veränderungen vornimmt, geht nicht sehr weit. Drittens: In vielen Fällen stigmatisiert man Wörter, ohne dass es brauchbare Alternativen gäbe.

Haben wir denn nichts aus dem Desaster der Orthographiereform gelernt, die im Kern ja auch nichts anderes als ein unüberlegter Eingriff ins Sprachsystem war?  

(Erweiterte Fassung eines Textes, der am 16. Dezember 2015 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist.)