Brainstorming zu Stadt und Wissenschaft
Wie eng sollten Stadt und Wissenschaft zusammenwachsen? (Foto: David Ausserhofer)

Hochschulen nach Corona – der urbane Campus als neues Organisationsprinzip von Lehre und Forschung?

Kolumne,

Die Corona-Krise offenbart: Hochschulen funktionieren viel ortsunabhängiger als vermutet. Das eröffnet die Chance, die Ortsbindung von Hochschulen und die Verbindung zwischen Stadt und Hochschule neu zu denken. Ein Impuls von Uwe Schneidewind.

Illustration: Stifterverband/ Syniawa

Nach einem virtuellen Sommersemester 2020 folgt in den meisten Hochschulen nun ein virtuelles Wintersemester 2020/21 mit unterschiedlich ausgeprägten hybriden Anteilen. Auch wenn die Hochschulen es nicht gerne hören: Sie funktionieren in vielen Fächern sehr viel ortsunabhängiger, als sie das lange gedacht haben. Die digitalen Möglichkeiten des Wissenserwerbs werden in der Krise erst richtig deutlich und die Chancen der ortsungebundenen Lehre werden durchaus auch von vielen Studierenden geschätzt. Gleichzeitig kommen neue Wettbewerber in den Hochschulmarkt, die für eine Reihe von Fächern das Potenzial haben, den Hochschulen auch die Reputationsvorteile mit neuen Formen von digitalen Bildungsangeboten für Berufe streitig zu machen, die bisher nur für Hochschulabsolventen zugänglich waren. Das prominenteste Beispiel sind die neuen Zertifikatsangebote von Google

Stadt und Wissenschaft

Hochschulen tun daher gut daran, ehrlich und offen über Ortsbindung und „Kopräsenz“ von Studierenden und Lehrenden nachzudenken. Denn gerade universitäre Bildung ist mehr als nur Wissensvermittlung. Sie prägt Persönlichkeiten in einer entscheidenden Lebensphase ganzheitlich. Daher besitzen die lebensweltlichen Erfahrungen, das Miteinander, das Schließen von Freundschaften, das Erweitern von Horizonten in der Studienphase eine so hohe Bedeutung. Aber wenn der eigentliche Wissenserwerb digital und ortsungebunden künftig noch effektiver funktioniert: Was kann dann die Grundlage von ortsgebundener Lehre sein?

Eine Antwort setzt tief an der Strukturlogik von Hochschulen an: Sind Wissenschaftsstandorte denkbar, in denen sich die Lehre nicht allein entlang von Fächern und den Strukturen der Hochschule organisiert und von dort aus gelegentlich an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft andockt? Läge nicht ein großes Potenzial in einem Wissenschaftsstandort, bei dem die Veränderungs- und Transformationsprozesse der Stadt oder der Region in ihrer Vielfalt und Vernetzung das „Boundary Object“ sind, um das herum sich die wissenschaftliche Produktion in Forschung und Lehre organisiert? 

Studierende würden ihr fachliches Wissen problembasiert um konkrete Veränderungsherausforderungen herum erwerben. Städte stecken heute in massiven Veränderungsprozessen: technologisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich, ökologisch. Es gibt kaum eine fachliche Fragestellung, für die es nicht ein Anwendungspendant vor Ort geben würde. Universitäten wie die Universität Witten/Herdecke (UW/H) haben mit dem problemorientierten Lernen Studiengänge schon vor über 30 Jahren neu positioniert. Vergleichbare Ausrichtungen wären auch für viele andere Fächer denkbar und wurden in den Phasen des Projektstudiums in den 70er- und 80er-Jahren erfolgreich erprobt.

Ein solcher Zugang hätte einen großen Charme für die Ortsbindung: Diese entstünde nicht mehr durch die Universität allein, sondern durch die Stadt und ihre Veränderungsherausforderungen, in die sich Studierende einbringen würden. Sie sind die Motivation für das Leben und das Engagement vor Ort. Diese Form des Lernens fördert zudem gleichzeitig ganz viele persönlichkeitsbezogene und nicht fachliche Kompetenzen. Der Boden für eine solche Strategie einzelner Hochschulstandorte ist durch die Debatten über die „Third Mission“ von Hochschulen sowie durch die massive Akzeptanz des „Reallabor“-Ansatzes bereitet. Jetzt gilt es, einen nächsten mutigen Schritt zu gehen.

Hochschulen, die sich auf eine solche neue Form des Standortbezuges einlassen, würden sich konsequent zur „Third-Mission-University“ entwickeln. Sie würden sich nicht mehr nur an Reallaboren (vergleiche zum Begriff des Reallabores sowie das inzwischen auf Veränderungsräume ausgeweitete Verständnis) beteiligen, sondern sich um Reallabore herum strukturieren. In gewisser Weise liegt hier eine Art Neuerfindung der Großforschungseinrichtung vor – diesmal nicht allein um Technologien, sondern um urbane Veränderungsprozesse herum organisiert und auf die Lehre erweitert.

Transformative Wissenschaft

Uwe Schneidewind (Illustration: Irene Sackmann)

Uwe Schneidewind treibt die Vision einer sozial- und ökologisch gerechten Welt im 21. Jahrhundert um. Und er ist der festen Überzeugung, dass die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben, einen zentralen Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse hat. Deswegen streitet er für eine „transformative Wissenschaft“ und erregt damit viele Gemüter im Wissenschaftssystem. Folgerichtig heißt diese Kolumne Transformative Wissenschaft.
Als Präsident des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie leitete er von 2010 bis 2020 einen der führenden Thinktanks für Nachhaltigkeitsforschung in Deutschland. Das Wissenschaftssystem und die Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft kennt er aus unterschiedlichen Perspektiven: als ehemaliger Präsident der Universität Oldenburg oder als Berater der Bundesregierung im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU). Seit dem 1. November 2020 ist Uwe Schneidewind Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal und damit in neuer Rolle in einem auch durch Wissenschaft entscheidend geprägten urbanen Transformationsraum.​

Uwe Schneidewind auf Twitter 
Alle bisherigen Kolumnen

Läge nicht ein großes Potenzial in einem Wissenschafts­standort, bei dem die Transformations­prozesse der Stadt in ihrer Vielfalt und Vernetzung das „Boundary Object“ sind, um das herum sich die wissenschaftliche Produktion in Forschung und Lehre organisiert?
Uwe Schneidewind
Uwe Schneidewind (Foto: Bussenius & Reinicke)

Uwe Schneidewind

Oberbürgermeister von Wuppertal

Wenn Hochschulen nach der Corona-Krise nicht nur zum alten „Normal“ zurückkehren sollen, dann wäre jetzt die Gelegenheit, eine solche Neudefinition des Ortsprinzips an einzelnen Standorten zu erproben. Was braucht es dafür?

  1. Hochschulen, die bereit sind, sich auf eine solche neue Strategie einzulassen. Hier steckt eine hohe Profilierungschance gerade für flexible kleinere bis mittlere Hochschulen.
  2. Städte und Stadtgesellschaften, die das Potenzial einer sehr viel engeren Wissenschaftsvernetzung für sich erkennen und sich umfassend darauf einlassen: in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Gerade solche Wissenschaftsstandorte, die in den letzten Jahren positive Reallaborerfahrungen gemacht haben, könnten hier der Ausgangspunkt sein.
  3. Ein gut gemachter Konzeptwettbewerb auf Bundes- und/oder Landesebene, der Hochschulen und ihre Standortstädte ermuntert, in eine solche Richtung zu denken, und den erfolgreichsten Konzepten die Chance auf entsprechende Unterstützung zusagt.

Es ist Zeit, ein „neues Normal“ nach der Corona-Krise auch bei den Hochschulen zu wagen!