Illustration MINT-Vorbilder
Illustration: Bernd Struckmeyer

Mädchen brauchen (nicht nur) coole Vorbilder

Während Jungen eine gewisse Nerdigkeit gern zugestanden wird, möchten Mädchen oft nur ungern mit scheinbar uncoolem Zeug wie Informatik in Verbindung gebracht werden. Helfen könnten positive Rollenvorbilder, meint die Informatik-Didaktikerin Nadine Bergner. Um den Hebel aber wirklich ganz umzulegen, brauche es etwas ganz anderes.

Deutschland fehlt der Informatiknachwuchs. Warum können vor allem Frauen so wenig mit diesem Berufsfeld anfangen?
Viele stellen sich Informatikberufe immer noch sehr unpersönlich vor und erwarten nur die Kommunikation mit der Technik und Maschinen. Selbst von unseren Schülerpraktikantinnen hier an der Professur für Didaktik der Informatik an der TU Dresden höre ich öfters, dass sie nicht in die Informatik möchten, weil sie „lieber etwas mit Menschen machen“ wollen. Dieses Argument bricht mir immer wieder etwas das Herz, weil man mit Informatik natürlich sehr vielen Menschen helfen und unsere Gesellschaft gestalten kann. Aber das dringt zu den Jugendlichen nicht durch.

Warum halten sich die alten Vorurteile so hartnäckig?
Fragen Sie mich etwas Leichteres! Ich denke, es liegt an der Gesellschaft, die hierzulande auch an diesem sehr männlichen, nerdigen Bild der Informatik festhält. Viele Familien transportieren es, aber auch Lehrkräfte in den Schulen. Mädchen, die sich dennoch vorsichtig für Informatik interessieren, finden bislang fast keine weiblichen Vorbilder in ihrem Umfeld oder in den Medienkanälen, die sie nutzen. All das färbt selbstverständlich ab. Das führt sogar so weit, dass manche Mädchen, die unsere Informatikcamps besuchen, nicht wollen, dass ihre Klassenkameradinnen oder Freundinnen davon erfahren. 

Weil sie sich schämen?
Vielleicht auch das. Informatik scheint jedenfalls spätestens im Pubertätsalter ziemlich „unfly“ zu sein, also uncool. 

Erzählen die Mädchen im Informatikcamp davon?
Wenn wir sie direkt darauf ansprechen, dann schon. Über ihre Sorge, uncool zu wirken, erfahren wir eher am Rande, wenn die Mädchen zum Beispiel am Ende des Kurses plötzlich nicht mit aufs Gruppenfoto wollen, obwohl sie die ganze Zeit mit viel Spaß dabei waren. Wir fragen dann vorsichtig nach, warum sie das nicht möchten.

Das klingt ernüchternd. 
Stimmt. Man kann sagen, es ist eine Spirale, die sich schon früh in die falsche Richtung dreht. Wenn die Mädchen sich kaum vorwagen, bleiben sie mit ihren wenigen IT-Kompetenzen auch hinter den Jungen zurück. Nur wenige wählen in der Oberstufe Informatik als Leistungskurs, was dann wiederum dazu führt, dass der Frauenanteil im Informatikstudium nicht selten im einstelligen Bereich stecken bleibt.

Brauchen wir eine TV-Serie wie „Bones“ oder „CSI“ - eben nur mit einer coolen Informatikerin statt Forensikerin?
Das würde sicher helfen, wobei solche Serien natürlich nicht in allen Punkten die Realität zeigen. Wir brauchen aber dennoch dringend weibliche Vorbilder, die junge Frauen ansprechend und inspirierend finden. Denken wir nur an die langjährige Kult-Sitcom „The Big Bang Theory“, wo die coole Penny nicht etwa programmiert, sondern kellnert, und die schlaue Neurobiologin Amy eher schrullig dargestellt wird und für junge Frauen nur wenig als Vorbild taugt.

Wenn man in die sozialen Netzwerke schaut, gibt es dort Initiativen, die positive Rollenbilder transportieren wollen …
Ja, vor einem Jahr startete zum Beispiel die Initiative #SheTransformsIT, die das versucht: interessante Frauen vorzustellen, die Informatik lieben und spannende Dinge damit für die Gesellschaft tun. Das finde ich sehr gut. Im außerschulischen Bereich werden solche Imagekampagnen mittlerweile gut vorangetrieben. Man muss aber auch sagen, dass solche Initiativen nur ein kleiner Hebel sind. Wir brauchen vor allem einen sehr guten Informatikunterricht in der Breite an den Schulen.

Zur Person

Foto von Nadine Bergner
Nadine Bergner (Foto: TU Dresden)

Nadine Bergner hat seit  2019 eine Professur für Didaktik der Informatik an der TU Dresden inne. Zuvor war sie an der RWTH Aachen neun Jahre lang für die fachdidaktische Ausbildung der Lehramtsstudierenden im Fach Informatik zuständig und baute dort ein Schülerlabor für Informatik auf. 

Ihr Ziel ist es, das schulische wie auch außerschulische Lernen von informatischen Kompetenzen zu stärken. Um Informatiklehrkräfte dabei zu unterstützen, zeitgemäßen, lernerzentrierten und individuell herausfordernden Informatikunterricht zu gestalten, entwickelt sie mit Lehramtsstudierenden Lehr-Lern-Materialien für den Informatikunterricht, welche als Open Educational Resources (OER) frei zugänglich gemacht werden sollen.

Eine exzellente Informatiklehrerin kann Berge versetzen und mithelfen, dass die alten Rollenbilder verblassen.
Nadine Bergner (Foto: TU Dresden)

Nadine Bergner

TU Dresden

Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und die Heinz Nixdorf Stiftung fanden in ihrer Studie „Informatik für alle“ heraus, dass in Bundesländern mit einem Pflichtfach Informatik in der Sekundarstufe I die Jugendlichen anschließend in der Oberstufe Informatik häufiger wählen und das Geschlechterverhältnis in diesen Kursen dann auch ausgeglichener ist.
Ja, dieser Pflichtunterricht ist sicher der richtige Weg. Er muss aber auch gut umgesetzt werden. Dies hängt stark von der Person ab, die ihn gibt. Wir haben das Problem, dass Lehrkräfte mit sehr unterschiedlichen Vorkenntnissen, Ausbildungen, mit mehr oder weniger Talent oder Lust auf Informatik dieses Fach unterrichten. Es gibt Schulen, da fehlen diese Lehrkräfte völlig, weshalb dort fachfremde Kolleginnen und Kollegen einspringen müssen - manche nicht ganz freiwillig. Deshalb ist deutschlandweit die aktuelle große Diskrepanz zwischen gutem und schlechtem Informatikunterricht auch nicht verwunderlich.

Was könnte hier schnell helfen? Sie selbst bilden Informatiklehrkräfte an der TU Dresden aus.
Alles steht und fällt mit Lehrkräften, die selbst fachlich kompetent sind und auch Lust und Mut haben, mit den Kindern spannende Dinge aus der Informatikwelt auszuprobieren. Denn man muss bei den Kindern den Entdeckergeist wecken, damit sie andocken und ein nachhaltiges Interesse entwickeln können. Deshalb könnte ein erster großer Schritt sein, dass wir Lehramtsstudierende und Quereinsteigende gezielt mit all der guten Hardware, Software und mit Materialplattformen vertraut machen, die es für einen guten Informatikunterricht schon gibt. 

Informatikunterricht in der Schule
Foto: Games Talente/ Charles Yunck

Wie Anwendungen für virtuelle Realität oder spielerische Robotersysteme?
Genau. Beides kommt im Klassenzimmer sehr gut an, übrigens bei Mädchen und Jungen gleichermaßen. Aber wir haben derzeit erst wenige Informatiklehrkräfte deutschlandweit, die sich vor 25 oder 30 Schülerinnen und Schülern einen solchen Unterricht zutrauen. Viele kennen die Hintergründe solcher IT-Anwendungen selbst nicht genau, was natürlich verunsichert. Bevor man loslegt, möchte man darüber hinaus überblicken können, was pädagogisch wertvoll und auch dauerhaft frei zugänglich ist, damit man nicht in wenigen Wochen merkt, dass die kostenfreie Testversion abgelaufen ist oder man gar in irgendwelche Patent- oder Datenschutzfallen tappt. Da könnten Universitäten und Hochschulen weitaus mehr Support und Experimentiermöglichkeiten während des Studiums bieten, wie ich finde.

Wie setzen Sie dieses Experimentieren an der TU Dresden um?
Indem wir das Studium praxisnäher gestalten. Lehramtsstudierende dürfen schon ab dem vierten Semester in unserem TeachingLab vor Schülerinnen und Schülern stehen, wo sie solche modernen Materialien ausprobieren können und dann auch konstruktives Feedback erhalten, übrigens auch direkt von den Kindern und Jugendlichen. Wir haben die entsprechende Technik vor Ort, wie VR-Brillen, 3-D-Drucker oder Lernroboter, die jederzeit ausprobiert und ausgeliehen werden kann.

Trotz großer Kampagnen, wie dem Digitalpakt Schule, ist für die meisten Schulen das technisch modern ausgestattete Klassenzimmer in der Breite immer noch unerschwinglich.
Nadine Bergner (Foto: TU Dresden)

Nadine Bergner

Informatik-Didaktikerin

Ist das nicht ein grundlegendes Problem, dass Schulen sich solche Materialien nicht leisten können, weil Schulbehörden und Landespolitik dafür keine Budgets freigeben?
Teils, teils. Trotz großer Kampagnen, wie dem Digitalpakt Schule, ist für die meisten Schulen das technisch modern ausgestattete Klassenzimmer in der Breite immer noch unerschwinglich. Es ist aber wichtig, dass Lehrkräfte die Möglichkeiten kennenlernen, weil man dann zumindest weiß, was man anstreben sollte. 

Zahlreiche Software-Materialien sind zudem als OER frei zugänglich, wie Scratch-Anwendungen. Scratch ist eine kostenlose Programmiersprache, die das MIT Media Lab in den USA extra für Kinder und Jugendliche entwickelt hat, damit sie die Grundkonzepte des Programmierens leicht lernen können. Diese Sprache funktioniert sozusagen über Puzzleteile.

Aber Sie haben recht: Die Politik ist der ausschlaggebende Faktor dafür, wie schnell die Informatikausbildung in Deutschland im Schul- oder Hochschulbereich verändert wird. Leider sitzen in den Parlamenten vor allem Menschen, die einer älteren Generation entstammen und häufig nur wenig Informatikexpertise im Studium erworben haben und überhaupt keine in ihrer Schulzeit. 

Da ist sie wieder, die ungute Spirale. 
Ja, denn wenn alle Politikerinnen und Politiker mehr übers Programmieren und IT-Berufe wüssten, wären wir in der Informatikbildung schon wesentlich weitergekommen. Für viele ist es noch unvorstellbar, dass man bereits Grundschulkindern das Programmieren beibringen könnte und sollte. Sie haben solche modernen Lernmaterialien schlichtweg nie kennengelernt, wie den Calliope mini, der wie ein Stern aussieht und mit dem Kinder beispielsweise ihre Turnbeutel zum Leuchten bringen können. Oder die Würfel von Robo Wunderkind, die sich sehr leicht zusammenstecken und über eine Tablet-App programmieren lassen. Damit erfinden schon kleine Kinder alles Mögliche: Einmal sägt dieser Roboter Baumstämme aus Knete, ein anderes Mal massiert er mit der Haarbürste die Stoffkatze. 

Einen solchen Roboter hätte ich mir als Kind wohl auch gewünscht …
Wir sollten solche Lernmöglichkeiten wirklich nicht unterschätzen, weil im Grundschulalter auch dieses Klischee „Informatik ist ja nur was für Jungs“ noch nicht stört. Das kommt erst später, so ab der fünften Klasse. Bis dahin finden Mädchen das Programmieren genauso spannend wie Jungen - deshalb dürfen wir dieses wichtige Zeitfenster nicht länger verpassen! Und es gibt noch einen anderen, sehr wichtigen Punkt …

Welchen?
Wir sprachen eingangs von den dringend benötigten Vorbildern für die Mädchen - auch eine exzellente Informatiklehrerin kann Berge versetzen und mithelfen, dass die alten Rollenbilder verblassen. Deshalb sollten wir uns um jede Quereinsteigerin sehr bemühen, die aus einem IT-nahen Beruf kommt und sich das Unterrichten in einer Schule gut vorstellen kann.

Was der Stifterverband im MINT-Bereich tut

Der Stifterverband ist überzeugt: Um Wirtschaft und Gesellschaft resilient und zukunftsfähig auszurichten, spielt die MINT-Bildung (MINT= Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) eine entscheidende Rolle. Um die MINT-Potenziale der Gesellschaft zu nutzen, setzt sich der Stifterverband gemeinsam mit Partnern unter anderem dafür ein, ausreichend MINT-Fachkräfte auszubilden, zu halten und mit entsprechenden Zukunftskompetenzen zu qualifizieren. Dazu fördert er aktuell unter anderem: 

Weitere Artikel zum Thema MINT und Zukunftskompetenzen gibt es in der MERTON-Artikelserie Warum MINT-Kompetenzen unverzichtbar sind.