Mädchen und Mathe (Illustration: Maren Amini)
Mädchen und Mathe (Illustration: Maren Amini)

Mädchen und Mathe – die Rechnung geht auf

Seit 50 Jahren knobeln Jugendliche im Bundeswettbewerb Mathematik um die Wette – mehrheitlich männliche Jugendliche. Auch wenn die Teilnahmequote von Mädchen seit Jahren steigt, sind Teilnehmerinnen noch immer unterrepräsentiert. Die Gründe dafür sind vielfältig. An mangelnder Begabung liegt es nicht.

„Jungen sind mathematisch begabt, Mädchen können Sprachen“ – kaum jemand kann Überzeugungen wie dieser aus dem Weg gehen. Sie ziehen sich durch Schulhofgespräche, schwingen mit, wenn sich Eltern über ihre Kinder austauschen. Beobachtungen scheinen sie zu bestätigen: In Mathematik-Leistungskursen sitzen oft mehr Jungen als Mädchen. Auch die Ergebnisse der PISA-Studie bescheinigen Jungen in Deutschland höhere mathematische Kompetenzen, während die Mädchen bei der Lesekompetenz besser abschneiden. Dass sich indes immer mehr Mädchen für das Fach Mathematik begeistern, zeigt unter anderem ein Blick auf die Teilnahmequoten im Bundeswettbewerb Mathematik. Als der Wettbewerb 1970 startete, waren gerade einmal 9 Prozent Mädchen unter den 1.527 Teilnehmenden. 2020 lag ihr Anteil bei 28 Prozent.

Zu den erfolgreichsten Teilnehmerinnen gehört Lisa Hartung: Seit der siebten Klasse hat sie mehrfach erfolgreich am Bundeswettbewerb Mathematik und an der Mathematik-Olympiade teilgenommen, Mathe-Freizeiten besucht. Ihr Mathematikstudium hat sie schon während der Schulzeit begonnen. Mit 27 Jahren trat sie eine Juniorprofessur in Mainz an, sieben Monate später folgte die reguläre Professur.

Mädchenanteil Bundeswettbewerb Mathematik (Grafik: Bildung & Begabung)
Mädchenanteil Bundeswettbewerb Mathematik (Grafik: Bildung & Begabung)

Daneben engagiert sich Hartung heute als Koordinatorin und Mentorin im Programm „Jugend trainiert Mathematik“. Das Angebot bereitet den Rechennachwuchs auf die Teilnahme an Wettbewerben vor und befeuert mit Seminaren das Interesse am Fach. Außerdem soll das Format den Mädchenanteil bei den Wettbewerben erhöhen. In dem Programm liegt er inzwischen bei 40 Prozent, auch die Zahl der ehrenamtlichen Mentorinnen steigt. „Ich mache das nicht vorrangig, weil ich eine Frau bin, sondern weil es mir Spaß macht“, sagt Hartung. „Trotzdem finde ich es wichtig, dass die Jugendlichen auch Frauen sehen, die Mathematik unterrichten. Auf Wochenendveranstaltungen fühlt es sich außerdem für viele Mädchen besser an, wenn männliche und weibliche Betreuer da sind und sie sich mit Problemen an eine Frau wenden können.“

Die Ursachen des Mathe-Gendergaps

Auch die Forschung plädiert für weibliche Vorbilder, um Vorbehalte gegenüber Mathematik bei Mädchen abzubauen. In den letzten Jahren hat sich hier viel getan, der Anteil an Lehrerinnen im Fach Mathematik ist erheblich gestiegen. So ermittelte das Berliner Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen 2018 einen Frauenanteil von gut 56 Prozent unter Mathematiklehrkräften. Laut einer Studie des Pädagogen und Professors für Erziehungswissenschaften Ewald Terhart von 1994 waren es damals nur 19 Prozent.

Aber Vorbilder allein reichen nicht aus, vielen Mädchen steht ihr Selbstbild im Weg. Studien zeigen, dass Mädchen oft ängstlicher in Mathematik sind und ihre Leistungen schlechter bewerten als Jungen – bei gleicher Note. Von den Eltern unbewusst vermittelte Rollenklischees verstärken die Unsicherheit zusätzlich, etwa wenn sie gute Leistungen in Mathematik bei Söhnen auf Kreativität oder Begabung, bei Töchtern auf Fleiß zurückführen. Und auch der Herdentrieb macht es Mädchen schwer. Sowohl Jungen als auch Mädchen tendieren dazu, ihr Verhalten an Jugendlichen desselben Geschlechts zu orientieren. Wer als Mädchen Mathematik mag, schwimmt gegen den Strom.

Was die Forschung nicht belegen kann: dass kognitive oder neuronale Unterschiede ein Geschlecht für Mathematik besser ausstatten als das andere. Vielmehr sind es vor allem Rollenstereotype, die Mädchen im Mathematikunterricht entmutigen. Das zeigt sich im internationalen Vergleich: Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Geschlechtsunterschiede in Mathematik daran gekoppelt sind, wie gut es um die Gleichstellung von Frauen in dem jeweiligen Land bestellt ist. Deutschland bescheinigen sie keine gewaltigen, aber doch signifikante Unterschiede beim mathematischen Gendergap, anders als etwa Finnland oder Island. 

Bildergalerie: Mathe ist nichts für Mädchen? Warum dieses und andere Klischees über Mathematik gar nicht stimmen

Mädchen und Mathe (Illustration: Maren Amini)
Mädchen und Mathe (Illustration: Maren Amini)

Mathe ist nichts für Mädchen
Dieses und andere Rollenklischees sind in unserer Gesellschaft nach wie vor stark verankert und einer der Hauptgründe, warum sich Mädchen im Fach Mathematik nur wenig zutrauen. Wissenschaftlich belegt ist es hingegen nicht, dass Jungen Mathe besser verstehen. Immerhin: Das Interesse an Mathematik wird bei Mädchen immer größer. So stieg der Mädchenanteil im Bundeswettbewerb Mathematik von 9 Prozent im Jahr 1970 auf 28 Prozent im Jahr 2020. Und die Mädchen sind erfolgreich: So gehen die meisten Bundessiege im Bundeswettbewerb Mathematik auf das Konto von Lisa Li. Und ihre Namensvetterin Lisa Sauermann steht mit vier Goldmedaillen und einer Silbermedaille zurzeit auf Platz 3 der weltweiten Bestenliste bei der Internationalen Mathematik Olympiade (IMO).

Illustration: Maren Amini
Illustration: Maren Amini

Mathematik ist alt und langweilig
„Es gibt nichts Neues in der Mathematik, alles ist alt und langweilig.“ Wenn man in die Mathematikbücher der Schulen schaut, mag das auf den ersten Blick stimmen. Viele der Grundlagen der Mathematik wie Algebra oder Geometrie haben ihren Ursprung bei den alten Griechen. Doch unsere digitalisierte und hochtechnisierte Welt wäre ohne Mathematik gar nicht möglich: Binärcode und Algorithmen sind die Basis moderner Computertechnik. Ohne sie funktioniert kein Navigationsgerät, kein Computer, keine Spielekonsole. In der Mathematik steckt also das Potenzial, ständig Neues zu schaffen. 

Illustration: Maren Amini
Illustration: Maren Amini

Mathematiker sind weltfremd   
Mathematiker leben nur für ihre Zahlen? „Das sind wirklich nur die Ausnahmen“, sagt auch Patrick Bauermann, Leiter der Bundesweiten Mathematik-Wettbewerbe bei Bildung & Begabung. „Die meisten sind doch ganz normal – und gehen einem normalen Job nach.“ Denn Mathematiker sind auf dem Arbeitsmarkt überaus gefragt: Weil sie logisch denken können, strukturiert arbeiten und auch vor hochkomplexen Fragestellungen nicht zurückschrecken, sind sie in vielen Jobs einsetzbar. Und können auf Betriebsfeiern mitunter auch mit interessanten Mathe-Anekdoten punkten, beispielsweise damit, dass Mozart ein Faible für Zahlen hatte und mit sogenannten mathematischen Würfelspielen zahlreiche Walzer komponierte. Überhaupt sind Mathematik und Musik eng miteinander verknüpft: Tonreihen, Takte, rhythmische Melodien – das alles lässt sich auch mit mathematischen Formeln beschreiben. Und Computern gelingt es heute sogar, eigene Musikstücke zu komponieren, die Bach oder Mozart zum Verwechseln ähnlich klingen. 

Illustration: Maren Amini
Illustration: Maren Amini

Mathe ist doch reine Schikane  
„Wo brauche ich Mathe schon im wahren Leben?“, stöhnen viele Schüler im Unterricht. Dabei ist unser Alltag voll von Mathematik. Ob im Supermarkt („Reicht mein Taschengeld für drei oder nur für zwei Schokoriegel?“), im Kinderzimmer („Passt der 52-Zoll-Fernseher an meine Wand?“) oder im Onlineshop („Super, es gibt wieder 30 Prozent auf alles!“) – es ist wichtig, die Grundlagen der Mathematik zu verstehen. 

Illustration: Maren Amini
Illustration: Maren Amini

Mathematiker sind doch alle Nerds
Ob Sportler oder Schauspieler – viele Stars kokettieren gerne damit, in Mathe kläglich versagt zu haben. Ohne mediale Rollenvorbilder manifestiert sich schnell das Bild des Mathe-Nerds im Kopf, der mit Headset nur vor seinem Computer sitzt und Wände und Fenster mit komplexen mathematischen Formeln vollkritzelt. Dabei sind Mathematiker so viel mehr. Das zeigt auch die Auszeichnung „Mathemacher/innen des Monats“ der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Darunter sind sowohl Lehrer und Professoren als auch Schüler und Studierende, die mit Freude an Mathematik zahlreiche Projekte ins Leben gerufen haben – um damit das Bild der Mathematik in der Öffentlichkeit nachhaltig verbessern wollen. 

Illustration: Maren Amini
Illustration: Maren Amini

Ich kann kein Mathe, brauche ich eh nicht zu versuchen
Neulich im Kinderzimmer: Verzweifelte Eltern versuchen, ihrem Kind bei den Hausaufgaben zu helfen. Es endet in einem trotzigen Wutanfall: „Ich kann kein Mathe, das brauche ich eh nicht zu versuchen“. In kaum einem anderen Fach ist die Ablehnung so groß und die Motivation, etwas Neues zu versuchen, so klein wie in der Mathematik. Zu Unrecht, denn Mathe kann ganz einfach und vor allem ganz spannend sein, wenn man sich nur darauf einlässt. Das zeigt beispielsweise das Mathematikum in Gießen, ein mathematisches Mitmachmuseum. „Wenn unsere Besucher nach drei Stunden unser Haus verlassen, dann sehen Sie keine erschöpften Gesichter“, sagt der Gründer und Direktor des Museums, Albrecht Beutelspacher. „Nein, unsere Besucher sind beschwingt und inspiriert, haben viele Aha-Momente erlebt, bei denen sie mathematischen Rätseln auf die Spur gekommen sind und komplexe Themen endlich verstehen.“

Warum wir mehr weiblichen Mathenachwuchs brauchen

Es gibt viele Gründe, warum sich gute Mathematikkenntnisse für Mädchen lohnen. In vielen gut dotierten Berufen spielen Berechnungen eine zentrale Rolle, etwa im Ingenieurwesen. Vor allem aber profitiere die Gesellschaft, sagt Patrick Bauermann, Leiter der Bundesweiten Mathematik-Wettbewerbe: „Wenn wir den hohen Standard von Deutschland als Technikstandort halten wollen, brauchen wir mathematisch-naturwissenschaftlichen Nachwuchs. Besonders bei Mädchen gibt es ein großes Potenzial, das wir bisher noch nicht ausschöpfen.“ Ein höherer Mädchenanteil bei den Bundesweiten Mathematik-Wettbewerben könnte dazu beitragen, dieses Potenzial zu erschließen – viele der Teilnehmenden entscheiden sich nach der Schule für ein Mathematikstudium.

Wenn wir den hohen Standard von Deutschland als Technikstandort halten wollen, brauchen wir mathematisch-naturwissenschaftlichen Nachwuchs. Besonders bei Mädchen gibt es ein großes Potenzial, das wir bisher noch nicht ausschöpfen.

Patrick Bauermann

Leiter Bundesweite Mathematik-Wettbewerbe

Zu den Strategien, um gezielt Mädchen anzusprechen, gehört seit 2018 auch die Teilnahme eines deutschen Teams an der Europäischen Mathematik-Olympiade für Mädchen (EGMO). 2020 haben alle vier deutschen Teilnehmerinnen Medaillen erhalten. Wie sich das anfühlt, weiß die Chefin des deutschen EGMO-Teams aus eigener Anschauung. Als Schülerin hat Susanne Armbruster selbst zahlreiche Mathematikwettbewerbe besucht, auf der Internationalen Mathematik-Olympiade (IMO) 2016 in Hongkong schaffte sie Bronze. Inzwischen studiert die 22-Jährige Mathematik und engagiert sich in der Nachwuchsförderung für den Bereich Mathematik.

„Die EGMO ist für die Teilnehmerinnen attraktiv, weil ihre Chancen höher sind. Die Konkurrenz ist ja viel geringer“, sagt Armbruster. „Wir hoffen, dass die Aussicht auf die Teilnahme an einem internationalen Wettbewerb begabte Mädchen motiviert, sich mehr mit Mathematik zu beschäftigen.“ Trotzdem sieht Armbruster Mädchenwettbewerbe wie die EGMO nur als Übergangsinstrument – bis der Mädchenanteil in gemischten Wettbewerben ausgeglichener sei. „Aber davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt“, meint sie. Viele Mädchen seien insgesamt gut in der Schule, aber nur wenige davon entschieden sich, ihre mathematische Neigung zu vertiefen. Auch Patrick Bauermann teilt diese Auffassung: „Mädchen sind häufig vielfältiger interessiert. Deshalb verlieren wir viele begabte Mädchen in andere Richtungen, zum Beispiel Fremdsprachen.“

Imagewechsel für die Mathematik

Wie aber kann es gelingen, bei Mädchen mehr Begeisterung für Mathematik zu wecken und Ängste abzubauen? Neben Ermutigung und einer positiven Lernatmosphäre könnte auch ein Imagewechsel der Mathematik helfen. Begabte gelten oft als Nerds – für viele Mädchen ist das keine attraktive Rolle. Lisa Hartung rät außerdem dazu, den Ruf der Mathematik als „Einzelkämpferdisziplin“ zu korrigieren: „In der Schule nimmt man das Fach oft so wahr. Aber auf Wettbewerben arbeitet man viel zusammen und denkt gemeinsam über Lösungen nach“, erklärt sie. „Gerade Mädchen finden es oft schöner, wenn sie nicht allein vor einer Aufgabe stehen.“

50 JAHRE BUNDESWETTBEWERB MATHEMATIK

Logo 50 Jahre Bundeswettbewerb Mathematik (Foto: Bildung & Begabung)
Logo 50 Jahre Bundeswettbewerb Mathematik (Foto: Bildung & Begabung)

2020 feiert der Bundeswettbewerb Mathematik runden Geburtstag: 1970 rief der Stifterverband den Schülerwettbewerb zur Förderung des mathematischen Nachwuchses ins Leben. Ging es anfangs in erster Linie um die Unterstützung und Ausbildung von Lehrern und Fachkräften für die Wirtschaft, sind heute Entwicklung und Ausbau von Teamfähigkeit und die Heranführung von Mädchen an die Mathematik weitere zentrale Anliegen des Wettbewerbs. Seit den 1980er-Jahren betreut und organisiert allerdings nicht mehr der Stifterverband den Wettbewerb, sondern das Talentförderzentrum Bildung & Begabung, eine Tochter des Stifterverbandes.

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