Moritz Helmstaedter
Der Hirnforscher Moritz Helmstaedter (Foto: Bildung & Begabung / Christian Bohnenkamp)

Masterplan für die Hirnvermessung

Mensch-Maschine-Interaktion. Studenten, die durch Hirne von Mäusen und Menschen fliegen. Ein Urwald von 85 Milliarden Nervenzellen, von denen jede einzelne zehnmal mehr verzweigt ist als ein ausgewachsener Baum. Wenn Moritz Helmstaedter von seiner Arbeit erzählt, klingt das nach Science Fiction. Dabei geht es um das Jetzt. Das, was genau in diesem Moment passiert, wenn wir Buchstaben wiedererkennen, um einen Text zu lesen. Es geht um den Plan der vielleicht kompliziertesten Schaltkreise der Welt. Moritz Helmstaedter vermisst das menschliche Hirn.

Connectomics heißt der Fachbegriff hierfür. Gemeinsam mit seinem Team am Max-Planck-Institut (MPI) für Hirnforschung in Frankfurt geht der Neurowissenschaftler den feinen Kabeln der Nervenzellen in der Großhirnrinde auf die Spur. Und diese Spur ist nahezu unsichtbar: „Die Kabeldicke neuronaler Verbindungen ist tausendmal dünner als ein menschliches Haar“, sagt Helmstaedter. „Und gleichzeitig extrem komplex: Jede der 85 Milliarden Zellen interagiert direkt mit tausend anderen Neuronen und kann mit bis zu zehntausend in Verbindung stehen. Selbst in Zeiten von Facebook und Twitter haben die meisten Menschen weniger Bekannte, mit denen sie kommunizieren.“

Allein die Zahl möglicher Verbindungen bringt die Vorstellungskraft der meisten Menschen an ihre Grenzen. Die 20 Forscher im „Helmstaedter Department“ wollen dieses schier unbegreifliche Netzwerk präzise visualisieren. Und sie wollen herausfinden, wie sensorische Erfahrungen über die Synapsen verarbeitet werden, sodass wir Menschen, Objekte oder Buchstaben wieder erkennen. Da beschleicht einen schnell der Eindruck des Unmöglichen, von Science Fiction.

Mission: Die Hirnnetzwerke verstehen

Nervenzellen aus der Hirnrinde einer Maus.
Nervenzellen aus der Hirnrinde einer Maus.(Foto: Berning, Boergens, Helmstaedter, MPI for Brain Research 2015)

Von wegen! Der Direktor des nach ihm benannten Arbeitsbereichs am MPI ist ein bodenständiger Mann, gerade mal 38, begeistert für sein Thema und ambitioniert, aber keineswegs illusionär. Moritz Helmstaedter weiß um die gigantische Dimension der Aufgabe, die er mit seinem Team in den nächsten Jahren bewältigen will. Und er hat längst eine Lösung gefunden. Und zwar eine, die in der Wissenschaftswelt so weit vorne ist, dass der gebürtige Berliner selbst Kollegen in Harvard und Princeton nicht fürchten muss.

Wer Moritz Helmstaedter trifft, steht einem jungen Wissenschaftler gegenüber, der in Heidelberg parallel Physik und Medizin studiert hat. Er hat mehrere Wissenschaftspreise entgegengenommen, aber auch Rufe auf Professuren von internationalen Eliteunis abgelehnt – um in Frankfurt ein ganzes Forschungszentrum nach seinen Vorstellungen aufzubauen. Die Grundlagenforschung hat es ihm angetan. Und er war bereit, es mit der Mikrokartografie des Hirns aufzunehmen. Dabei fand eben dieser erfolgreiche Forscher einst  Physik und Chemie in der Schule todlangweilig. Er wusste nicht so recht, was er mit sich anfangen sollte und war überhaupt in der Oberstufe „absolut frustriert“. 

Wahrscheinlich wäre sein Leben komplett anders verlaufen, wäre er nicht in den letzten Sommerferien vor dem Abitur bei der Deutschen SchülerAkademie (DSA) gelandet, sagt Moritz Helmstaedter heute. Zwei Wochen DSA in Annweiler, Musik-Kurs, Thema: „Zweite Wiener Schule“. Mit seinem heutigen Beruf hatte das nichts zu tun, mit seiner Persönlichkeit umso mehr:  Die Intensität der Diskussionen, die gemeinsame Begeisterung der Teilnehmer, tiefer in Themen aus Wissenschaft, Kultur und Politik einzusteigen, war für ihn und sein Selbstverständnis entscheidend. „Ich wusste seitdem, dass es nach der Schule etwas gibt, worauf ich hoffen kann“, sagt Helmstaedter. Die Zeit in der Akademie war für ihn so prägend, dass er gemeinsam mit anderen Ehemaligen einen eigenen Verein ins Leben rief, um noch mehr Jugendlichen diese Erfahrung zu ermöglichen. Zehn Jahre war er als Gründungsvorsitzender der JGW-Akademien aktiv, die bis heute Teil des DSA-Programms sind. Irgendwo hatte Helmstaedter zwischen seinen zwei Studiengängen und der Liebe zur klassischen Musik offensichtlich immer noch Kapazitäten frei.

Zurück zu Sisyphos 2.0 und Helmstaedters Masterplan für die Hirnvermessung. Am MPI zerlegen die Forscher das Gewebe der Großhirnrinde in Blöcke von einem halben Quadratmillimeter, die unter dem Elektronenmikroskop mit einem Edelsteinmesser in Scheibchen zerlegt werden. Die praktisch zweidimensionalen Scheiben werden optisch analysiert und die Daten der einzelnen Bilder zusammengezogen. 

Moritz Helmstaedter

Moritz Helmstaedter
Moritz Helmstaedter (Foto: Bildung & Begabung / Christian Bohnenkamp)

Moritz Helmstaedter ist 1978 in Berlin geboren. An der Ruprecht-Karls-Universität Heideberg hat er Physik und Medizin studiert. Im Anschluss hat er am Max-Planck-Institut (MPI) für medizinische Forschung in Heideberg promoviert. Es folgten eine kurze Beratertätigkeit für McKinsey sowie Forschungstätigkeiten an den Max-Planck-Instituten in Heidelberg und München. Seit 2014 ist er Direktor des "Helmstaedter Department" am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt und wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft. Als Schüler war er Teilnehmer der Deutschen SchülerAkademie von Bildung & Begabung.

Hirnpiloten gesucht

Ein Datenpaket, das nur von Großrechnern bewältigt werden kann, wie sie auch das CERN nutzt, ergibt dann ein 3D-Bild von den Verschaltungen in diesem Hirngewebekubus. Einem Würfel, der gerade mal sandkorngroß ist. Doch auch an dieser Dimension verzweifelt man in Frankfurt nicht. Die Wissenschaftler setzen auf den immer noch besten Rechner, den es für die komplexe Bildanalyse gibt: das menschliche Hirn.

„Es ist tatsächlich so, dass Menschen in der Bilddatenanalyse schneller und besser sind als Computer“, erklärt Moritz Helmstaedter. Ein Grund mehr, verstehen zu wollen, wie unsere Gehirne das leisten können. Doch um diese Unmengen an Bilddaten zu analysieren, braucht es weitaus mehr Menschen, als das MPI selbst mit seinen rund 150 freien Mitarbeitern zählt. Helmstaedter löste das Dilemma spielerisch. Gemeinsam mit Gamedesignern entwickelte er den Hirnflug. Laien können in einem Computerspiel oder per App durch die Neuronenkanäle des Hirns fliegen und liefern so entscheidende Daten für das Forschungsprojekt. Auf www.brainflight.org schaffen Bürger Wissen, so das Prinzip des sogenannten Citizen Science Ansatzes. Beim Tag der offenen Tür am MPI durften die ersten Hirnflug-Testpiloten an Bord.

Im Teaser-Video auf der Institutsseite bekommt jeder einen Einblick: Wer künftig vor dem Monitor durch die neon-kolorierten Kanäle der Nervenzellen schwebt, ist nicht nur Teil einer vermutlich bahnbrechenden Grundlagenforschung, sondern kann selbst die Faszination für dieses so surreal anmutende Organ spüren, die Moritz Helmstaedter antreiben mag. Schon heute können sich Interessierte auf der Website als Hirnpiloten registrieren. Ein Hauch von Science Fiction bleibt.