Illustration: Jens Bonnke
Illustration: Jens Bonnke

Miteinander wachsen statt nebeneinander

Bislang arbeiten Pionierinnen und Pioniere in Bildung und Wissenschaft oft alleine an innovativen Ideen – obwohl andernorts ähnliche Vorhaben verfolgt werden. „Wirkung hoch 100" möchte dieses Nebeneinander in ein Miteinander verwandeln. Die erste Phase der groß angelegten Initiative, die neue Lernräume und Förderinstrumente schaffen will, steht kurz vor dem Abschluss.

„Lehn dich zurück und schließe deine Augen. Jetzt stell dir vor, wir befinden uns drei Jahre in der Zukunft. Einfach alles hat geklappt! Alle deine Wünsche sind in Erfüllung gegangen. Wie sieht die perfekte Lernumgebung für Deutschland aus, die wir als Community erschaffen haben?“ Mit diesen Worten lud kürzlich die Future-Skills-Denkfabrik im Rahmen von Wirkung hoch 100 zum Brainstormen und Visualisieren ein. Die Regeln dabei? Groß denken. Alles ist möglich. Keine Idee ist zu verrückt.

Wenn es um das Verwirklichen visionärer Ideen geht, können diese Regeln in der Tat dazu beflügeln, mehr zu wagen. Pioniere und Pionierinnen innovativer Bildungsideen und Lernumgebungen beispielsweise scheitern hierzulande noch allzu oft an starren Strukturen und Vorgaben. Umso wichtiger ist es, dass diese Visionärinnen und Visionäre kräftigen Rückenwind bekommen. Mit der Jubiläumsinitiative Wirkung hoch 100 will der Stifterverband 100 Projektteams aus ganz Deutschland schneller denn je voranbringen. Ein Beirat aus Expertinnen und Experten hatte die 100 besten Ideen für die Zukunft des deutschen Bildungs-, Wissenschafts- und Innovationssystems im Herbst 2020 aus über 500 Bewerbungen ausgewählt. Bis Juni 2021 läuft nun die erste Phase der Initiative. 

Gemeinsam mehr erreichen

Illustration Glühbirnen zum Leuchten bringen (Illu: Jens Bonnke)
Illustration Glühbirnen zum Leuchten bringen (Illu: Jens Bonnke)
Die Initiative „Wirkung hoch 100" will neue Ideen und Ansätze zum Leuchten bringen. Daran arbeiten alle gemeinsam: Die ausgewählten Projekte zusammen mit Unternehmen, die die Initiative fördern, sowie weiteren Expertinnen und Experten.

Den 100 Projekten stehen mehr als 300 Förderinnen und Förderer, Stakeholder sowie weitere Unterstützerinnen und Unterstützer aus allen möglichen Institutionen und Organisationen der Gesellschaft und Wirtschaft zur Seite. Dutzende Spezialistinnen und Spezialisten aus den Bildungs- und Wissenschaftsnetzwerken des Stifterverbandes sind als Mentorinnen und Mentoren mit dabei, die im Programm als „Wirkungspaten“ bezeichnet werden.

Diana Seyfarth, deren Projekt „Mental stark und emotional in Balance“ zu den 100 ausgewählten Projekten der Initiative gehört, fand den Austausch mit diesen Wirkungspatinnen und Wirkungspaten sehr wertvoll: „Wir konnten immer wieder mit ihnen Rücksprache halten und alle paar Wochen neu berichten, wo wir stehen und was unsere aktuellen Fragen sind.“ Gerade dieser bedarfsgerechte Support über die Zeit, diese Kontinuität, habe viel Vertrauen aufgebaut. Sie empfand die Vielfalt an Kommunikationskanälen und frei zugänglichen digitalen Coaching- und Beratungsangeboten, die zahlreichen Innovator- und Community-Talks als eine echte Bereicherung. Manchmal sei das Angebot aber doch auch überfordernd gewesen.

Denn damit hatten Diana Seyfarth und ihr Projektkollege Tobias Blank schlichtweg nicht gerechnet. Beide entwickeln an der TU Darmstadt praxiserprobte und wissenschaftlich fundierte Methoden und Tools weiter, mit denen sich Ängste und Stress im Studium und Universitätsalltag abbauen lassen – in Zeiten von Corona wichtiger denn je. Das Angebot soll an alle Akteurinnen und Akteure im Hochschulbetrieb bestmöglich angepasst werden: Lehrkräfte, Studierende, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Projektteam möchte mit dieser Idee weit hinaus, die Universitätsgrenzen verlassen und auch Schulen sowie weitere Bildungsinstitutionen erreichen. Wie das gehen kann, lotet das Duo seit Monaten in der großen Gemeinschaft von Wirkung hoch 100 aus. Regelmäßige Community-Calls in der großen Runde beispielsweise brachten die Projektteams dazu, ihre Ideen über die Wochen weiter zu schärfen. Sie bekamen in diesen Videomeetings jeweils rund zwei Minuten Zeit, um ihre Visionen und Vorhaben vorzustellen, wie bei einem Pitch. 

Wir stellen mit 'Wirkung hoch 100' die herkömmliche Förderphilosophie vom Kopf auf die Füße.
Mathias Winde (Foto: Damian Gorczany)
Mathias Winde (Foto: Damian Gorczany)

Mathias Winde

Leiter Aktionsfeld Wissenschaft beim Stifterverband

Fördern neu gedacht

Wirkung hoch 100 bietet ein Menü an Möglichkeiten“, erklärt Mathias Winde, Leiter des Aktionsfelds Wissenschaft im Stifterverband. Die Förderung sei sehr individuell, was das Gesamtpaket aber auch erst einmal komplex und unübersichtlich mache. „Was wirklich neu ist: Die Geförderten bekommen nicht einfach eine Summe Geld überwiesen, sondern müssen sich ihre individuelle Förderung aus dem Menü an Angeboten zusammenstellen. Von Coaching über Crowdfunding bis hin zu Vorträgen und Vernetzungsworkshops ist alles dabei. “

Dieses Konzept ist auch für den Stifterverband neu, bei dem das Fördern von Bildung, Wissenschaft und Innovation seit nunmehr 100 Jahren im Mittelpunkt seiner Arbeit steht. Doch die gesellschaftlichen Herausforderungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass es heute andere Ansätze braucht, die über die reine Vergabe von Fördermitteln hinausgehen. „Wir stellen mit Wirkung hoch 100 die herkömmliche Förderphilosophie vom Kopf auf die Füße“, so Mathias Winde. Statt durch eine Jury direkt am Anfang nur wenige Bewerberinnen und Bewerber auszuwählen und eine große Anzahl abzulehnen, wie es bei vielen Förderprogrammen bislang üblich ist, profitieren jetzt 100 Projekte von der ersten Förderphase. „Wir unterstützen also weitaus mehr herausragende Ideen als bei einer traditionellen Förderung und wählen erst nach einem halben Jahr Förderzeit mit einer Jury die 30 Projekte aus, die sich am besten entwickelt haben“, so Winde. Ein Prozedere, das ihn persönlich freut, denn dieses „breite Ablehnen“ habe aus seiner Sicht das falsche Signal ausgesendet: „Da sind viele gute Projekte leer ausgegangen.“ Für die Personen, die in Institutionen und Organisationen etwas verändern wollten, bedeute die Ablehnung ihres Förderantrages erst einmal einen Rückschlag. Nicht selten würden dadurch gute Ideen ausgebremst, die eine Chance verdient hätten, so Winde.

Mutig sein und Neues ausprobieren

Wirkung hoch 100 gibt nicht nur weitaus mehr Projekten zur selben Zeit Support auf ganz verschiedenen Ebenen – das Programm ist in sich ein großes Experiment, denn es geht der Frage nach, auf welche Art und Weise 100 Projekte miteinander statt nebeneinander Lösungen entwickeln können. „Es ist wichtig, dass der gemeinsame Raum, der bei diesem Programm entsteht, auch für Praxistests und zum mutigen Ausprobieren genutzt wird“, sagt Clemens Grätsch, der Wirkung hoch 100 als Co-Lead beim Kooperationspartner ProjectTogether managt. Gerade diesbezüglich könnten die Projektteams in der Gemeinschaft natürlich sehr viel mehr lernen, als wenn jedes Team nur alleine für sich voranginge. Und bei 100 Initiativen – von Hochschulen über außeruniversitäre Bildungsakteure bis hin zu sozialen Entrepreneurinnen und Entrepreneuren – ist im Prinzip irgendwo in diesem Netzwerk jeder Kontakt vorhanden, den man brauchen könnte. Hinzu kommen die mehr als 30 Wirkungspatinnen und Wirkungspaten und andere Unterstützer, die ihre Expertise einbringen. „Wir versuchen, die Projektteams mit den Personen zu vernetzen, die tatsächlich die Möglichkeit haben, sie weiterzubringen – weil diese Personen an den entsprechenden Stellen in der Politik oder in Organisationen sitzen und Türen öffnen können“, erklärt Mathias Winde.

Matthias Andreesen Viegas, Geschäftsführer der TÜV SÜD Stiftung, ist ebenfalls Teil der Gemeinschaft. Was ihn in der ersten Phase der Initiative besonders beeindruckt hat: „Die enorme Vielfalt an Themen, die bei Wirkung hoch 100 versammelt sind.“ Sein Eindruck ist, dass er so viele und derart unterschiedliche Strukturen und Persönlichkeiten nur schwer in einem anderen Format hätte kennenlernen können – vor allem in der Kürze der Zeit. „Natürlich bekommt man in kurzen Vorstellungsrunden zunächst nur einen ersten Eindruck, was diese engagierten Gründerinnen und Gründer vorhaben. Aber man kann anschließend als Förderpate sehr schnell und gut auswählen, wo man intensiveren Kontakt aufnehmen und stärker einsteigen möchte.“ Er beobachtete seit dem Start von Wirkung hoch 100 im November eine große Offenheit innerhalb des Netzwerks, die aus seiner Sicht allen Beteiligten „guttut“. So konnten Vertrauen und Gemeinschaftssinn schnell wachsen.

Wilhelm Krull, früherer Generalsekretär der VolkswagenStiftung und jetziger Gründungsdirektor des The New Institute in Hamburg, brachte als Wirkungspate im Wirkungsfeld „Hochschule 2.0“ beispielsweise seine Lernerfahrungen ein, die er bei der VolkswagenStiftung mit zehn Reformprojekten zur Hochschul- und Verwaltungsreform in verschiedenen Universitäten sammeln konnte. „Natürlich musste man an bestimmten Stellen, wenn es um wirklich grundlegende Hochschulreformen ging, als Wirkungspate in ausführlicheren Videogesprächen etwas nachschärfen“, berichtet Krull. Nichtsdestotrotz spreche der „enorme Fortschritt“ mehrerer Projekte in seinem Wirkungsfeld dafür, dass die gewählten Formate und Vorgehensweisen effektiv und noch dazu effizient seien. 

Wie geht es nach der ersten Phase weiter?

Im Juni geht die erste Phase von Wirkung hoch 100 langsam zu Ende. Auch Tahir Hussain nimmt aus dieser Zeit vieles mit: „Für einige meiner wichtigsten Fragen für unser Projekt der digitalen Lernreise konnte ich auf eine sehr agile und spannende Weise wertvolle Meinungen von völlig unterschiedlichen Expertinnen und Experten einholen.“ Hussain ist ein international erfolgreicher Unternehmensberater und gründete 2017 die 21future gGmbH. Diese möchte kompetenzbasierte Lernreisen an Schulen etablieren. Im Kern geht es um projektbasierte Lernangebote, die bei den Kindern sogenannte Future Skills ausbilden sollen, wie Kreativität, Teamfähigkeit oder Digitalkompetenzen – aus Sicht von Hussain alles kleine Sprungbretter für einen Bildungsaufstieg, egal aus welchem Haushalt die Kinder stammen.

Wie fällt Tahir Hussains Fazit aus? Nicht alles braucht man, nicht alles passt – es liegt an einem selbst, geeignete Angebote zu suchen – und dann klappt der bereichernde Austausch sehr schnell und gut. Wenn er etwas verbessern würde, dann eventuell die sehr unterschiedlichen Entwicklungsstände der Projekte: „Man könnte bei der Auswahl der Projekte darauf achten, dass die Reifegrade nicht ganz so weit auseinanderliegen.“ Darüber hinaus fühlte sich Hussain mit dem Geben und Nehmen in der großen Runde der Projekte sehr wohl.

Anfang Juni wird diese große Runde nun deutlich verkleinert. Dann wählt die Jury die 30 Projekte aus, die sich am Ende der ersten Phase das größte Wirkungspotenzial erarbeitet haben. In der zweiten Phase arbeiten die 30 verbliebenen Teams dann mit Expertinnen und Experten an projektübergreifenden Herausforderungen wie Skalierung, Wirkung oder Nachhaltigkeit. Die zehn Ideen, die hier am meisten überzeugen, erreichen schließlich die Finalrunde.