Illustration: Anne Vagt

Offen für Geistesblitze

Der beschleunigte globale Wettbewerb und drängende Zukunftsfragen lassen die Rufe nach Innovationen immer lauter werden. Dank der Digitalisierung entstehen Neuerungen immer weniger in abgeschotteten Forschungsabteilungen, sondern in Vernetzung mit externen Partnern. Damit wandelt sich nicht nur das „Wie“ ihrer Entstehung, sondern auch ihr Wesen.

Das war ein Wolkenkuckucksheim, eine wahrhaft abgehobene Idee, die der US-Unternehmer Elon Musk an einem Sommertag des Jahres 2013 verkündete. In vier Jahren schon wolle er, so Musk, Menschen per Rohrpost von San Francisco nach Los Angeles schießen. Der großspurige US-Amerikaner kündigt gern radikale und auch radikal neue Innovationen an, die er durchaus auch verwirklicht: Erfolgreich hat der 44-Jährige etwa das Elektroauto Tesla vorangetrieben. 2014 gab er dessen Patente frei, um der Technologie einen neuen Entwicklungsschub zu versetzen.

Das Innovationsgeschehen hierzulande präsentiert sich deutlich bodenständiger und in kleineren Schritten – zumindest, wenn man sich die Nominierten des Deutschen Zukunftspreises 2014, dem Preis des Bundespräsidenten für Technik und Innovation, ansieht. Da geht es eher um das „Schwarzbrot“ der Innovation: etwa darum, mit Lebensmittelzutaten aus Lupinen einen Beitrag zu ausgewogenerer Ernährung und besserer Proteinversorgung zu schaffen. Im „Land der Ideen“ wimmelt es von „Zukunftspreisen“, Exzellenz- und Kreativitätsinitiativen: Kaum eine Rede eines Politikers kommt ohne das „I-Wort“ aus. Die Wirtschaft vermarktet ohnehin alles – vom Müsli bis zu Waffensystemen als „innovativ“. Doch woher kommt dieses Streben nach Innovation – scheinbar um jeden Preis?

Neue goldene Ära

Illustration: Anne Vagt

Für Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee ist die Ubiquität des Begriffs leicht begründbar: Die US-amerikanischen Wirtschaftsprofessoren sehen eine gewaltige Welle an Innovationen  auf uns zurollen. Gleich der Dampfmaschine im ersten Maschinenzeitalter würden digitale Technologien unsere Wirtschaft und Gesellschaft derzeit komplett umwälzen, schreiben sie in ihrem neuen Buch „The Second Machine Age“ (Das zweite Maschinenzeitalter). Die neue goldene Ära von Innovation gründe auf drei Megatrends, die sich gegenseitig verstärkten: big data – die immer größeren Datenmengen und die Fähigkeit, diese auch sinnvoll anzuwenden; zweitens die exponentiell steigende Leistungsfähigkeit von immer billigerer Computertechnologie und Netzen sowie schließlich immense Fortschritte in der künstlichen Intelligenz und Robotik.

Der intellektuelle Widersacher der beiden Technikoptimisten sieht dagegen einen eklatanten Mangel als Grund für einen verzweifelten Ruf nach Innovationen: In den vergangenen 250 Jahren bis etwa 1972 hätten große Errungenschaften wie Elektrizität, Chemie oder Öl quasi für einen „Innovations-Tsunami“ gesorgt, glaubt Robert Gordon von der Northwestern University. Die wirtschaftliche Dynamik durch die Digitalisierung sei dagegen ein laues Lüftchen, das zudem bereits abflaue. Statt Basisinnovationen gebe es seit Jahrzehnten lediglich inkrementelle Innovationen, Verbesserungen, Verfeinerungen von Vorhandenem.

Doch so schwarzmalerisch die Rückblicke, so euphorisch Zukunftsprognosen auch sein wollen: Ganz real wächst der Bedarf an Innovationen – in Wirtschaft wie auch Gesellschaft – stark. Bei den Unternehmen ist es die beschleunigte Konkurrenz einer global vernetzten Ökonomie, die Neuerungen immer dringlicher macht. Richtet man den Blick auf gesellschaftliche und politische Probleme, so zeigt sich, dass die herkömmlichen, meist auf die technologische Perspektive und Machbarkeit verengten Innovationsstrategien bislang kaum Antworten für die großen, drängenden Zukunftsfragen wie etwa den Klimawandel liefern können. Experten wie der Expräsident der Fraunhofer-Gesellschaft, Hans-Jörg Bullinger, sehen die Welt an der Schwelle eines tief greifenden Veränderungsprozesses, einem „Paradigmenwechsel des Innovationssystems“, in dem sich die Wege, wie Neuigkeiten entstehen genauso wandeln wie auch das Wesen der Innovation selbst.

Erfolgsfaktor des Kapitalismus

Durch den Hyperwettbewerb seit den 90er-Jahren funktionieren aber die herkömmlichen Modelle, Innovationen zu generieren, einfach nicht mehr.

Ayad Al-Ani

Professor für Change Management und Consulting am Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft

In der globalen Wirtschaft drängen neue Produkte und Mitbewerber in immer kürzeren Intervallen auf den Markt. Dem härteren Wettbewerb könnten Firmen nur durch ebenfalls immer kürzere Innovationszyklen trotzen, betont Ayad Al-Ani, Professor für Change Management und Consulting am Humboldt-Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin. „Durch den Hyperwettbewerb seit den 90er-Jahren funktionieren aber die herkömmlichen Modelle, Innovationen zu generieren, einfach nicht mehr.“ Die Unternehmen sind dabei selbst verschuldet in die Falle geraten: „Sie haben in den vergangenen 20 Jahren eher auf Kostensenkungen gesetzt. Dadurch fehlen ihnen die Kapazitäten für Experimente,“ sagt der Wirtschaftsprofessor. Doch die Trial-and-Error-Methode, um Produktideen zu testen, ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor des Kapitalismus: Der Fraunhofer-Gesellschaft zufolge braucht es 1.919 Erstideen, um 52 Produkte zu generieren, die der Markt akzeptiert. Beim Verbraucher erfolgreich sind letztlich nur elf.

Zum Dilemma der mangelnden Freiräume für scheiternde Experimente (lesen Sie hierzu ein Interview mit Reinhold Bauer) kommt Al-Ani zufolge ein strukturelles: Die arbeitsteilige, hierarchische Organisation von Unternehmen heute – entstanden während der industriellen Revolution – sei nicht in der Lage, dieses „Dauerfeuer an Innovationen“ zu leisten. Viele Beschäftigte, schreibt Al-Ani in einer Studie über „die crowd als Partner der deutschen Wirtschaft“, seien von den Strukturen frustriert – und brächten ihre kreativen und ideellen Potenziale als „Wissensarbeiter“ lieber anderswo ein: in journalistischen Formen von Blogs oder Wikis, bei der Entwicklung von Open-Source-Software oder in der Politik. 

Illustration: Anne Vagt

Wie Unternehmen wie Sennheiser ihren Mitarbeitern Freiräume für Neues schaffen können, lesen Sie hier.

Nun passiere indes ein eigenartiger und paradoxer Prozess, schreibt Al-Ani: Jene Unternehmen, die das Innovationspotenzial ihrer Mitarbeiter durch ihre rigiden Hierarchien vertrieben und unterdrückt hätten, wollten dieses „kognitive Surplus“ nun wieder zurück: Sie schafften Strukturen, um die „Weisheit der vielen“ extern aus dem Netz abzufischen. „Die Unternehmen stehen unter starkem Druck, sich über Plattformen und Kanäle zu öffnen. Sie haben nicht viele andere Möglichkeiten“, sagt Al-Ani. Die Talente einer crowd könnten Firmen indes nur nutzen, wenn sie sich der Arbeitsweise dieser neuen Mitarbeiterkategorie anpassen. Eine riskante Strategie, – denn crowdworker wollen durch Zugehörigkeitsgefühl, Spaß, Wertschätzung – oder reale Werte – für ihre Ideen belohnt werden. Schnell sind sie indes verprellt, wenn sie sich nicht einbezogen und ernst genommen fühlen. Funktioniert die Crowd-Strategie, so bilden sich infolge eines Kulturwandels langsam die Prinzipien der individuellen „Selbststeuerung“ und flüssigere Hierarchien aus. Durch die Koppelung der Hierarchie mit den neuen Formen der Zusammenarbeit aus dem Netz entstünden neue, hybride Organisationen: Netarchien.

Externe Impulse für Innovationen

Illustration: Anne Vagt

Der strukturelle Wandel von Unternehmen – von statischen „Silos“ zu innovativen Netzwerkorganisationen – er ist nach Al-Anis Erkenntnissen bereits voll im Gange: Laut seiner Studie, für die er als Koautor 200 deutsche Unternehmen und ausgewählte Manager befragt hat, arbeiten bereits 19 Prozent der Unternehmen mit der crowd zusammen. Eine Firma, die sich bereits vor Jahren externen Impulsen für Innovationen geöffnet hat, ist Beiersdorf. Auch der Hamburger Konsumgüterkonzern ist ein durch Kundenwünsche und Konkurrenz Getriebener, räumt Andreas Clausen von der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Konzerns ein. Doch Clausen will nicht klagen: Dank der Digitalisierung habe er heute auch ganz andere Möglichkeiten zur Hand als vor 15 Jahren.

Der Nivea-Hersteller setzt bei der Suche nach neuen Produktideen sowohl auf die Expertise von Verbrauchern als auch auf das Wissen von Fachexperten außerhalb des Unternehmens. Ausschlag für die Entwicklung des Deos Black&White gab ein Problem, das Clausen und seine Leute irgendwo in den Verästelungen des World Wide Web in einem Blog aufspürten: Lästige gelbe Schweißflecken auf dem hellen Shirt waren dort das Thema. Die Beiersdorfer nahmen Kontakt zu den Verbrauchern auf, gemeinsam entwickelte man ein Deodorant, dank dem weniger Rückstände in der Kleidung bleiben sollen. „Wir nutzen viele Möglichkeiten, um Konsumenten so früh wie möglich in die Produktentwicklung einzubinden“, sagt Clausen, der bei Beiersdorf open innovation – offene Innovationsprozesse – verantwortet. Open innovation – das sei vor allem die Kunst des Fragenstellens. Natürlich, wenn man mit dem Verbraucher auf eigenen Plattformen, in Blogs und Foren in Kontakt trete, könne man vage darum bitten, einfach eine Idee zu haben. „Man kann bei co-creation schon auch einfach warten, was kommt. Die Erfahrung zeigt aber: Wenn man zielgerichtet Fragen stellt und Vorgaben macht, hat das, was man zurückbekommt, eine ganz andere Kraft.“

Wir nutzen viele Möglichkeiten, um Konsumenten so früh wie möglich in die Produktentwicklung einzubinden.

Andreas Clausen

Beiersdorf AG

Schatz des Wissens

Grundsätzlichere Innovationen bekommt Clausen indes eher von externen Technologieexperten. „Es ist natürlich einfacher, von so einem Experten etwas Disruptives zu bekommen, weil diese sich jeden Tag mit unseren Themen auseinandersetzen. Sie haben einen ganz anderen Wissensfundus. Sie haben eine intrinsische Motivation, Lösungen zu finden, hinter der ein finanzielles Interesse oder der Wunsch nach einer Forschungskooperation steht.“ Um diesen Schatz des Wissens zu heben, hat Beiersdorf 2011 den Pearlfinder ins Leben gerufen. Die Onlineplattform ist ein geschützter Raum für kreative Fachideen, in den Beiersdorf Wissenschaftler von außen, Forschungseinrichtungen sowie Partnerunternehmen einlädt, um gemeinsam innovative Produkte zu entwickeln. Vertrauen in der Fachwelt wolle Beiersdorf schaffen, indem man sich auf die größten Innovatoren weltweit fokussiere – „und mit diesen bewusst langfristigere strategische Partnerschaften aufbaut. Denn je mehr Vertrauen da ist, umso mehr sind beide Seiten bereit, offen zu kommunizieren und zu kooperieren“, sagt Clausen. Verträge, etwa Geheimhaltungsabkommen, sichern den zu schnellen Abfluss von Know-how ohne Gegenleistung. Fragen nach einem neuen Konservierungsmittel für Kosmetik finden sich etwa im Pearlfinder – ein schwieriges Spezialthema, da der Bereich hoch reguliert ist.

Sich externe Expertise in Feldern zu holen, in denen man alleine schwer weiterkommt, hat sich für das Unternehmen ausgezahlt: Gemeinsam mit einem Lieferanten entwickelte Beiersdorf einen neuen Wirkstoff für empfindliche Haut, der deren Selbstschutz stärken und Irritationen wie Juckreiz vorbeugen soll. „Auch kleine, unbekannte Partner oder etwa private Erfinder lassen sich heute über Pearlfinder finden und ansprechen“, erklärt Clausen. Statt in der abgeschotteten FuE-Abteilung entspringt so immer mehr Innovation den sorgfältig selbst geknüpften Netzwerken. Beiersdorf und der Partner profitieren gleichermaßen: Der Konzern bekomme so früh Einblicke in die Technologien etwa auch von Mittelständlern; die externen Partner können an der Erfahrung des Kosmetikriesen teilhaben, Laborkapazitäten wie im „Project House“ und dem „Incubation Lab“ nutzen, oder es springen Lizenzverträge und Lieferbeziehungen für sie heraus.

Kleines Glossar der Begriffe

Big data
Durch den technologischen Fortschritt ist es Unternehmen heute möglich, nicht nur riesige Datenmengen zu sammeln, sondern sie auch in relativ kurzer Zeit auszuwerten und daraus Produktideen zu entwickeln.

Open innovation
Unternehmen oder auch Forschungseinrichtungen öffnen ihre Innovationsprozesse nach außen und lassen externe Ideen bei der Entwicklung neuer Produkte mit einfließen. Im Fokus stehen Wissensaustausch und Vernetzung.

Citizen science/Crowdsourcing
Das „Wissen der Massen“ spielt bei Innovationen eine immer größere Rolle. Bürger werden vermehrt einbezogen und können sich beteiligen – mit ihren Ideen, ihrem Wissen, mit von ihnen gesammelten Daten oder auch finanziell, indem sie kleinen Forschungsprojekten und Produktentwicklungen über Crowdfunding-Plattformen überhaupt erst zum Start verhelfen.

Soziale Innovation
Nicht Gewinnmaximierung und Profit sind Impulsgeber für Innovation, sondern der gesellschaftliche Nutzen steht im Mittelpunkt. Es entstehen soziale Unternehmen, die Produkte oder Dienstleistungen entwickeln, die die Gesellschaft vorantreiben.

Design thinking
Ein Prozess zur Förderung kreativer Ideen: Das Konzept basiert auf der Überzeugung, dass wahre Innovation nur dann geschehen kann, wenn starke multidisziplinäre Gruppen sich zusammenschließen, eine gemeinschaftliche Kultur bilden und die Schnittstellen der unterschiedlichen Meinungen und Perspektiven erforschen.

Der mit open innovation einhergehende Kulturwandel führe zuweilen noch zu einem Knirschen im Gebälk des Großkonzerns, räumt Clausen ein. „Natürlich gibt es bei uns Entwickler, die skeptisch sind, weil sie das Wissen, das sie sich über viele Jahre erarbeitet haben, nicht ohne weiteres einfach mit ‚jemand da draußen‘ teilen wollen.“ Seine Rolle sei gleichermaßen die eines Diplomaten, eines Übersetzers zwischen drinnen und draußen – wie auch die eines Motors, der gemeinsame Projekte voranbringt. Neben crowdsourcing, open innovation und co-creation setzt Beiersdorf neuerdings auch auf das Potenzial von big data: Für neue Produktideen durchforsten Programme Patentdatenbanken, andere Tools verfolgen semantische Ströme im Internet, um Partner zu finden, die der Konzern bisher noch nicht kannte.

Bit für Bit zum neuen Produkt

Illustration: Anne Vagt

Big data, die Generierung großer Datenmengen und ihre Auswertung nahezu in Echtzeit, führt bereits zur Entstehung zahlreicher Innovationen – bei US-Internetgiganten wie Google gleichermaßen wie bei deutschen hidden champions. Der schwäbische Werkzeugbauer Komet Group etwa entwickelt einen Bohrer, der meldet, wenn er kaputtgeht. Über ein System, das lernt, welche Zustände am Werkzeug mit welcher Belastung des Motors einhergehen, lässt sich der Zeitpunkt für einen Werkzeugwechsel ziemlich präzise vorhersagen. Dazu müssen Rechner riesige Datenmengen in Echtzeit verarbeiten – was bisher kaum möglich war. Der Technikhistoriker Reinhold Bauer sieht hierin ein „Verschmelzen von Produkt- und Prozessinnovation, eine sehr typische Kombination für viele deutsche Unternehmen, die auf internationaler Ebene erfolgreich sind.“

Dass technische Innovationen durch die Digitalisierung immaterieller werden – oder sich Bit für Bit gar in Dienstleistungen auflösen, beobachtet auch der Wirtschafts- und Industriesoziologe Jürgen Howaldt. Die innovativen Produkte des Industriezeitalters wie den Hybridmotor oder das iPhone, sagt der Professor an der TU Dortmund, habe man noch anfassen können. „Heute gilt nicht nur die Herstellung, sondern zunehmend auch die Einarbeitung und Wartung einer Maschine als innovativ.“ Unter diesen Begriff fielen auch Dienstleistungen, neue Beratungskonzepte, eine neue Handlungspraxis zwischen Kunden. Den Dortmunder Wissenschaftler beschäftigt daher die Frage: „Brauchen wir vielleicht zusätzlich zu ,Made in Germany‘ auch das Label ,Enabled by Germany‘?“

Seine These, dass sich mit dem Übergang von der Industrie- zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft auch das Innovationsverständnis grundlegend wandle, hat Jürgen Howaldt bereits vor ein paar Jahren in einem Aufsatz zusammengefasst. Es ist der „soziale Charakter“ der Netze, der andersartige Innovationsprozesse bedingt und hervorbringt – ob in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik oder Gesellschaft: Der Bremer Psychologe und Vernetzungsexperte Peter Kruse* zitiert in diesem Zusammenhang gern Walter Benjamin: Wann immer die Medien sich änderten, ändere sich die Gesellschaft, sagte Kruse in einer Radiosendung des Bayerischen Rundfunks. Kruse sieht eine „grundlegend andere Systemarchitektur“, die durch die Änderung der Kommunikationsstrukturen bedingt sei. „Und wenn sich die Kommunikationsstrukturen ändern, dann ändert sich die Wahrnehmung der Menschen und am Ende ändert sich dann auch die Gesellschaft.“ Die im Netz angelegte, verstärkte Einbindung von Nutzern, Kunden, Bürgern verändert auch grundsätzlich die Ziele von Innovationen. Dominierten in der Industriegesellschaft eindeutig rein wirtschaftliche Ziele, so stünden im postindustriellen Paradigma gesellschaftliche Ziele wie Beschäftigung und Lebensqualität im Zentrum, schreibt dazu Howaldt.

Experten des Alltags

Für Neuerungen, die sich eng am Bedarf der Menschen ausrichten, hat der britische Forscher Fred Steward den Begriff der „transformativen Innovationen“ geprägt. Steward sieht verbraucherorientierte sozio-technische Netzwerke als Impulsgeber der Zukunft. Innovation entstehe in diesen Netzwerken durch Lernprozesse. Neue Beteiligungsformen seien nötig, damit Laien als „Experten des Alltags“ ihr Wissen adäquat einbringen – und auf Augenhöhe mit den Handelnden des Wissenschaftssystems kommunizieren können. Ansätze für solche Instrumente, die so – gleich kommunizierenden Röhren zwischen Wissenschaft und Gesellschaft – Innovationen hervorbringen, gibt es bereits, Stichwort: citizen science. In Hochschulen und Forschungseinrichtungen können Bürger damit von Subjekten, von „Lieferanten für Bedürfnisinformationen“, zu aktiv Handelnden werden. „Jeder hat nun die Chance, sofort etwas zu tun“, sagt der Wirtschaftstheoretiker Peter Finke mit Blick auf die Vernetzung und Allgegenwart neuer Technologien wie Smartphones. „Diese Offenheit, dass jeder loslegen kann, ist etwas völlig Neues.“

Das innovative Potenzial liegt für den Wissenschaftstheoretiker Finke weniger darin, dass Bürgerwissenschaftler durch die Sammlung immenser Datenmengen zu Schmetterlingen oder der Kartierung von Sternen den Profis einen nie gekannten Überblick verschaffen. Die „Forschung von unten“ könne Wissenschaft erden. „Laien“, sagt Finke, „sind weniger auf aktuelle Sichtweisen ihrer Fächer eingeschworen.“ In der Wirtschaftswissenschaft etwa beleuchteten Bürgerwissenschaftler blinde Flecken – und entwickelten Alternativen zum Wachstumsparadigma. „Citizen scientists sind auch nicht gezwungen, streng auf die Einhaltung von Disziplingrenzen zu achten.“ Diese Zusammenhangorientierung sei aber wichtig für Innovationen, mit denen Zukunftsfragen angegangen werden könnten – die sich eben oft nur interdisziplinär lösen ließen.

Hilfe zur Selbsthilfe

Illustration: Anne Vagt

Statt eines Modells, das stark auf die Rolle der Wissenschaft als Impulsgeber fokussiert, setzt der Dortmunder Professor Jürgen Howaldt auf eines, in dem die Gesellschaft selbst zum Ort von Innovationen wird. „Für viele Probleme, die drängen, gibt es keine technologische Lösung.“ Howaldt hat sich daher der Erforschung sozialer Innovationen verschrieben: In Hülle und Fülle fündig wird Howaldt in den Ländern des Südens, in Lateinamerika und Afrika. „Dort gibt es Hunderte Beispiele von sozialen Innovationen zur Armutsbekämpfung.“ Bei einigen ergänzten sich Technik und gesellschaftliche Praxis unglaublich wirkungsvoll.

Als ein Erfolgsmodell für solche soziale Innovationen gilt das Projekt iCow der Kenianerin Su Kahumbu. Am Anfang ihrer Erfindung stand eine persönliche Not: Die Musikerin wollte umsatteln, Biobäuerin werden, „aber ich hatte überhaupt keine Informationen. Da habe ich mich gefragt: Wie macht das diese Vielzahl kleiner Farmer, die überhaupt keine landwirtschaftliche Ausbildung haben, sich ein paar Tiere halten, um zu überleben?“, erzählt Kahumbu im Skype-Interview. Als vor ein paar Jahren die Mobilfunkkosten in Kenia so stark einbrachen, dass sich Millionen plötzlich einfache Mobiltelefone leisten konnten, hatte Kahumbu einen Geistesblitz: „Warum nicht dieses Medium verwenden, um Wissen an die Farmer zu verteilen?“

Entwicklungshilfe per App

Hilfe zur Selbsthilfe für Subsistenzbauern per SMS – eine bestechend einfache Idee. Kahumbu ließ eine App von einheimischen Softwareexperten programmieren, entwickelte die App bei monatelangen Fahrten übers Land mit den Bauern weiter, passte sie deren Problemen an. Eine Vorgehensweise, die soziale Innovationen relevant mache, sagt sie. Fragen wie: „Wo finde ich den nächsten Tierarzt? Wann und gegen was muss ich impfen? Wann braucht meine Kuh eine Melkpause?“ werden nun per SMS oder Voice-Mail beantwortet. Auf dem virtuellen Marktplatz Soko können die Kleinbauern mit Mutterkühen und Kälbern handeln. Drei Jahre nach der Gründung nutzen Zehntausende iCow. Einer Studie zufolge, bei der Bauern zu Beginn ihrer iCow-Nutzung und einige Monate später befragt wurden, konnte mehr als die Hälfte der Befragten die Milchleistung ihrer Tiere verdoppeln. Ein wichtiger Beitrag zur Ernährungssicherheit, betont die Kenianerin: Ein Viertel aller Afrikaner sei unterernährt. Oft, weil Eigenbedarfsbauern landwirtschaftliche Praktiken nie gelernt hätten – und schon Tierkrankheiten wie Euterentzündung oder verseuchtes Futter reiche, sie zu Hungernden zu machen.

iCow taucht als Paradebeispiel im jährlichen Trendreport des „betterplace lab“ auf, einem Thinktank aus Berlin, der digital-soziale Innovationen erforscht. Die Führungseliten aus Politik und Wirtschaft, aber auch in NGOs und Wohlfahrtsverbänden „scheuen die Risiken, die die Suche nach bahnbrechenden Innovationen unweigerlich mit sich bringt“, kritisiert betterplace-Mitgründerin Joana Breidenbach. Mit der Mikrospenden-Plattform betterplace wurde die promovierte Anthropologin daher 2007 selber initiativ. Dank der digitalen Infrastruktur von betterplace.org können auch geringe Spendenbeträge ohne Mittelsmänner und Verwaltungskosten direkt an lokale Kleinprojekte weitergeleitet werden – ob zur Regenwald-Aufforstung in Costa Rica oder für einen „Kältebus“ für Obdachlose in Hamburg. Mit der „Zeitspende“ hat betterplace 2013 die nächste soziale Innovation gestartet: Via Smartphone will das Sozialunternehmen nun ehrenamtliches Engagement vereinfachen. Dank mobiler Engagementvermittlung per App sollen junge Freiwillige Projekte in ihrer Umgebung suchen, sich aber auch jenseits fester Vereinsstrukturen engagieren – oder gar soziale Vorhaben selber initiieren können.

Soziale Innovationen noch in den Kinderschuhen

Illustration: Anne Vagt

Doch solche Innovationen entstehen noch zu zufällig, seien zu sehr auf die Initiative Einzelner angewiesen, kritisiert Howaldt, der den Sammelband „Soziale Innovation – auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma“ mit herausgegeben hat. Die Förderung sozialen Unternehmertums stecke hierzulande – im Gegensatz zu Großbritannien oder den USA – noch in den Kinderschuhen. So finanziert sich betterplace überwiegend durch private Förderer und „strategische Partner“ wie die Firma Vodafone, die die Ehrenamts-App mitbetreibt. Die Politik sei in der Pflicht, Forschungs- wie Förderprogramme für soziale Innovationen aufzulegen, sagt Howaldt – sowie eine Basisinfrastruktur zu schaffen. „Jede Stadt in Deutschland hat mittlerweile ein Technologiezentrum. Wir bräuchten auch Zentren, in denen Beratung und Wissensaustausch zu sozialen Innovationen stattfindet.“ Noch behandle die Politik soziale Innovationen nicht auf Augenhöhe mit technologischen – „obwohl diese die hohen Erwartungen, die drängenden Zukunftsprobleme zu lösen, nicht erfüllen konnten“.

In der neuen Hightech-Strategie, die die Bundesregierung im September verabschiedet hat, tauchen soziale Innovationen immerhin an einigen Stellen auf. Die aktive Einbeziehung der Gesellschaft als zentraler Akteur solle vorangetrieben und wichtige Elemente wie Technologieoffenheit, Bürgerpartizipation und soziale Innovationen gestärkt werden, heißt es darin etwa. Ein umfassender, integrativer Ansatz fehle indes, kritisiert Howaldt. „Das Thema ,soziale Innovation‘ ist immerhin zur Politik durchgedrungen. Aber es gibt noch viel Luft nach oben.“

Hinweis der Redaktion

* Der Artikel erschien vor dem plötzlichen Tod von Peter Kruse im Juni 2015.