Steinmännchen
Steinmännchen am Wegesrand (Foto: Wolfgang Rehor, "WR_Canada_2015_11"/CC BY-NC 2.0) via flickr

Offene Softwarekultur als Standortvorteil

Kolumne,

Über Gemeingüter und Privateigentum, über Open und Closed Source wird zum Teil erbittert gestritten. Christoph Kappes, Internetunternehmer und Netztheoretiker, sucht in seinem Meinungsbeitrag einen vermittelnden Standpunkt und spannt einen Bogen von der untergegangenen Allmendekultur hin zur Softwareengineeringkultur als Standortvorteil.

Eine neue Kolumne, die sich auch an Wirtschaftsmenschen richtet, ausgerechnet über commons zu schreiben, ist schon eine etwas verrückte Idee. Commons, das sind Gemeingüter, die jeder unentgeltlich nutzen kann. Ihr Prototyp ist eine gemeinschaftlich genutzte Wiese oder Weide (Allmende). Gemeingüter stehen in niemandes oder in Gemeinschaftseigentum und die Nutzung ist meistens auch nicht rechtlich und schriftlich, sondern sozial und informell geregelt. Ein modernes Beispiel, das jeder kennt, sind Pilze im Wald. Jeder nimmt sie und es gibt einige wenige Regeln, an die man sich zu halten hat; vor allem reißt man sie nicht mitsamt Wurzel heraus, weil das allen Pilzsammlern schadet.

Gemeingüter sind also auf den ersten Blick ein Gegenmodell zu einer privatwirtschaftlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die viele „Kapitalismus“ nennen. Auf den zweiten Blick ist diese verbreitete Auffassung aber ein Kategorienfehler, denn Gemeingüter sind kein Gegenmodell, sondern einfach nur anders, und sie können gut neben privatwirtschaftlichen Formen von Eigentum existieren. Dass die eine Sache von allen genutzt werden darf und eine Person über die andere Sache die volle Herrschaft hat, ist kein Widerspruch und kann sich wirtschaftlich ergänzen.

Wenn sich jeder an einem begrenzten Gut bedient und es hierzu keine Regeln gibt, geht ein Gemeingut unter (sogenannte „Tragödie der Commons“, ein Diktum von Garrett Hardin aus dem Jahr 1968 [Garrett Hardin: „The Tragedy of the Commons.“ Science Nr. 162 (1968), Seite 1243 bis 1248], ähnlich dem Trittbrettfahrerproblem, wenn öffentliche Güter ohne Gegenleistung genutzt werden). Gemeingüter an Dingen und Grundstücken spielen heute keine nennenswerte Rolle mehr, weil das Eigentum als Institution die mitunter zerstörerische Über- und Unternutzung verhindert, indem es den Eigentümer für zuständig erklärt, sich um die Sache zu kümmern (Haftung, gegebenenfalls Steuern), ihm aber auch Rechte gibt (Übertragung, Sachnutzung und -besitz, selbst oder delegiert an Dritte). Bei Bedarf kann eine gemeingutähnliche Nutzung durch Miteigentum mehrerer Menschen oder durch Eigentum einer Organisation geschaffen werden, an der mehrere Menschen beteiligt sind (Fuhrpark in Genossenschaften, Geräte in Vereinen et cetera). Eigentum glänzt einerseits durch Ordnung der Beziehungen, wirkt also einer Verantwortungsdiffusion entgegen, und andererseits durch eine Vielfalt der Nutzungsordnungen, sodass es die Gemeingüter in ihrer Reinform praktisch verdrängt und durch komplexere und formellere Konstellationen ersetzt hat.

Digitale Transformationen

Christoph Kappes
Christoph Kappes (Foto: privat)

Christoph Kappes wirft gerne kleine Steinchen in den Teich. Im Web kann man ihn dabei beobachten: Unermüdlich setzt er Tweets ab, fast ununterbrochen - so scheint es - nutzt er seinen Facebook-Account für einen unendlichen Strom von Ideen, Kommentaren, schnell Hingeworfenem. „Damit kann ich meine Identität bilden“, sagt er. Nur wer kommuniziert, könne das. Den meisten Menschen wäre das als Tagesinhalt schon genug, Christoph Kappes macht das aber nur nebenher, sozusagen als spielerische Übung. Im Hauptberuf ist er Internetunternehmer. Mit Sascha Lobo gründete er 2013 das E-Book-Unternehmen „Sobooks“ und berät Unternehmen mit der eigenen Agentur. Ein Agenturmensch war er schon immer, zumindest war er Gründer und fast 20 Jahre lang Geschäftsführer der heutigen Pixelpark Agentur in Hamburg. 
Unter dem Titel „Digitale Transformationen“ schreibt Christoph Kappes auf MERTON eine regelmäßige Kolumne über die Frage, wie sich Wirtschaft angesichts der zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche verändert oder verändern sollte. 

Der Blog von Christoph Kappes

Anders aber, wenn es nicht um Dinge, sondern um Wissen geht. Wissen wird, ist es erst einmal in der Welt, nicht knapp und seine Bereitstellung kostet praktisch nichts. Nehmen wir das kleine Einmaleins, die Zehn Gebote und Begrüßungsfloskeln, all diese übertragen sich kulturell. Mein Lieblingsbeispiel ist das Steinmännchen, mit dem Wanderer den Weg kenntlich machen, indem sie Steine aufeinanderstapeln. Das Steinmännchen repräsentiert Wissen über den Weg. Jeder tut ein bisschen, profitiert aber auch vom anderen – und das ohne große Gesetze, sondern einfach durch soziale Übung. So wie das Steinmännchen funktionieren auch digitale Wissensgüter, allen voran Wikipedia, aber auch gemeinsam gepflegte Tag-Clouds (Stichwortwolken), Hashtags, Linklisten, Rezensionen und Kommentarspalten. Zwei zusätzliche Sonderfälle fallen auf: Zum einen sorgen digitale Plattformen dafür, dass unser Handeln ein Anhaltspunkt für Dritte ist, etwa wird sichtbar, wer in einem Restaurant gewesen ist oder was andere gesucht haben (Autovervollständigung bei Google). Hier wird Verhalten zu sozialen Signalen verdichtet, die jeder nutzen kann. Zum anderen haben wir selbst dort, wo Wissen durch das Urheberrecht monopolisiert wird, Wege gefunden, dieses Wissen wieder zum Gemeingut zu machen: Zwar sind Texte ab einer gewissen Schöpfungshöhe geschützt, aber Nachrichten sind für alle frei, auch wenn wir mit Aufmerksamkeit zahlen. Alle Versuche, sie mit „Paid Content“ zu kontrollieren, müssen scheitern. Was im Überfluss wie Jesus´ Brot und Fische existiert (und zu kopieren immer schon erlaubt war!), wird auch nie etwas kosten.

In der digitalen Welt lohnt es sich erst recht, sich mit Gemeingütern zu befassen. Zum einen ist die These von der Koexistenz von Gemeingütern und Kapitalismus eigentlich schon damit bewiesen, dass Wikipedia widerspruchsfrei neben Verlagsprodukten steht – ja, beide Rechtegattungen beziehen sich aufeinander und zitieren sogar einander. Zum anderen nimmt nach meinem Eindruck das sogenannte freie Wissen durch die Veröffentlichungsmöglichkeiten für jedermann, die das Internet bietet, dramatisch zu.

Open Source als strategisches Mittel

Was ich als Kind etwa noch als Buch erwerben musste (zum Beispiel über elektronische Schaltungen und Formelsammlungen), ist heute in großem Umfang frei und kostenlos. Hinzu kommt, dass das Urheberrecht zwar einzelne Texte schützt, nicht aber den Inhalt selbst, wie beispielsweise an Rezepten zu sehen ist. So darf Wissen zwar in seiner Repräsentation (dem Text) nicht kopiert werden, es steht aber zur Interpretation und Anwendung zur Verfügung und es kann rechtefrei neu formuliert werden.

Open Source – verkürzt gesagt die Softwarevariante von Gemeingütern – kommt nicht immer nur durch das lose Zusammentreffen von Menschen gleichen Interesses zustande. Open Source kann auch ein strategisches, absichtsvoll eingesetztes Mittel sein, um die Stellung von Monopolisten und anderen übermächtigen Playern zu brechen – Googles Android gegen Apples iOS und Mozilla gegen Microsoft Explorer zeigen es. Dabei können allerdings in der Praxis komplexer Softwareprojekte einige Teilnehmer durchaus gleicher als andere sein, etwa weil sie Gremien dominieren, Rechte einbringen, Ressourcen finanzieren, Bedingungen auferlegen. Ausgerechnet die zotteligen alten Gemeingüter sichern also den Wettbewerb in einem Sinne, an dem der Ordoliberale Walter Eucken seine Freude gehabt hätte.

Open Source kann aber auch eine Gemeinschaftsentwicklung sein, damit eine Gruppe von Wettbewerbern ihre Position verbessert. Aber warum sollten ausgerechnet Wettbewerber zusammenarbeiten? Nun, Computer sind in klar getrennten Schichten aufgebaut, wonach Layer sich auf Layer schichten, ganz unten Hardware, darüber Protokolle, dann Betriebssysteme und Anwendungen (vereinfacht gesagt; und das gab es auch vorher schon, zum Beispiel bei Schienen und Eisenbahnen). Es ist daher auf einem Layer Kooperation und einem anderen Layer darüber Wettbewerb möglich. Und nun kommt wieder Open Source ins Spiel, wenn etwa Teilnehmer eines Marktes sich in einem disruptiven Wettbewerb befinden (das in Laberverdacht geratene Modewort „disruptiv“ sehe ich als wirtschaftlichen Fachbegriff für Aktivitäten, die Wertschöpfungsketten oder Geschäftsmodelle verändern). Diese Teilnehmer können nämlich Ressourcen aufwenden, um bestimmte Layer gemeinsam zu entwickeln. Ein ganz einfaches Beispiel wäre eine Bibliothek für Paid-Content-Abwicklung, die von allen Verlagen genutzt wird. Als Gemeinschaftsentwicklung kommen die Teilnehmer mit weniger Zeit- und Kostenaufwand voran als einzeln.

In der Wirtschaft wäre man daher gut beraten, in Branchenwissensdomänen stärker auf Open Source zu setzen, weil so auch die Humanressourcen mitwachsen.

Christoph Kappes

Vielleicht ist, entgegen dem Zeitgeist, Software gar nicht das führende Paradigma der Gegenwart, es ist aber anregend, einen Problemkreis mit Softwareparadigmen zu durchdenken. Baut nicht auch Wirtschaft auf anderen Layern auf, welche die Ressourcen bereitstellen, pflegen und versorgen? Außer für das Wissenschaftssystem liegt diese Annahme für das Bildungssystem auf der Hand, luhmannisch-strukturell mit Wirtschaft gekoppelt. Dass man einen Teil der Bildung gemeinsam auf die Beine stellen könnte, das ist angesichts dualer Ausbildungen und Public-Private-Partnerships natürlich eine Binsenweisheit. Will man allerdings auf dem Niveau des Silicon Valley um die digitale Weltmarktführerschaft kämpfen, reichen Institutionen und Curricula nicht – vielmehr muss man die Besonderheiten von Software gegenüber etwa dem „Kulturgut Buch“ nutzen. Diese Besonderheit von Software ist, dass (zumeist Verfahrens-)Wissen in Komponenten repräsentiert und maschinenausführbar ist. Die sprachliche Herkunft von Komponente (componere = zusammensetzen) deutet auf gewissermaßen „zusammensteckbare Module“, deren Innenleben man nicht unbedingt kennen muss. So kann hohe Komplexität arbeitsteilig bewältigt werden. Die Besonderheit von erfolgreichen Open-Source-Projekten ist, wie die Beteiligten sich selbst dezentral organisieren. Komponenten entwickeln sich evolutionär, sie werden parallel entwickelt, werden Standard, sterben aus. Durch Quelloffenheit können redundante Entwicklungsstrukturen entstehen. Open Source ist nicht a priori besser als „Closed Source“, der Vorteil ist aber, dass mit den Komponenten auch das Wissen in den Köpfen wieder wächst, Open Source ist eine „Ausbildungsbewegung“. Das ist gut in der Arduino-Bewegung oder auch beim Mikrocomputer BBC micro:bit  zu sehen, der nun millionenfach an Großbritanniens Siebtklässler verteilt werden wird. In der Wirtschaft wäre man daher gut beraten, in Branchenwissensdomänen stärker auf Open Source zu setzen, weil so auch die Humanressourcen mitwachsen. Der Wettbewerb findet mit dezent lenkendem Einfluss oder direkt auf anderen Layern oder bei Komponenten statt. Die Idee, dass man für die Produktion nur Ressourcen wie Rezeptzutaten einkaufen müsse, stammt aus der frühen Industrialisierung, in der nur Bediener für Maschinen gesucht wurden. Heute, wo es auf tiefes Know-how ankommt und wenige Jahre Vorsprung entscheidend sind, kommt es neben der Institution „Hochschule“ auch auf eine hoch entwickelte Kultur verteilten Arbeitens (einschließlich der Fehlerbehebung) und auf einen kulturellen Nährboden an, dessen bereichsübergreifende Klammerung über Kollaboration und Komponenten erfolgt. In dieser Hinsicht ist wohl Softwareengineering auch das am weitesten entwickelte und daher führende Paradigma für alle Bereiche der Wissensarbeit.