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Pandemieresiliente Gesellschaften – ein Forschungsprogramm für die 2020er-Jahre

Kolumne,

Der richtige Umgang mit der Pandemie hat alle überfordert. Daraus gilt es für die Zukunft zu lernen: Uwe Schneidewind plädiert für eine Post-Corona-Wissenschaft, die das Erfahrungswissen der Pandemie aufbereitet, damit wir krisenfester und klüger werden.

Selten sah sich die Weltgesellschaft einem solchen globalen Anpassungsexperiment ausgesetzt wie in der jetzigen Corona-Krise. Politik und Gesellschaft sind gefordert: medizinisch, (sozial-)psychologisch, technologisch, politisch, kulturell, ökonomisch, logistisch … um nur einige Dimensionen zu nennen. Und das nicht an einigen wenigen Orten, sondern faktisch in jedem Land dieser Welt. Und bei all diesen Dimensionen liegen grandiose Erfolge (wie zum Beispiel bei der Geschwindigkeit der Impfstoffentwicklung und -zulassung) und fatales Scheitern (wie zum Beispiel beim Pandemiemanagement in Ländern wie Brasilien) eng beieinander.

Mit den zunehmenden Impferfolgen werden wir vermutlich ab Herbst eine Entspannung der aktuellen Situation erleben. Dennoch wird uns SARS-CoV-2 global noch lange weiter verfolgen. Und für eines hat uns diese Krise sensibilisiert: Wir müssen unsere Gesellschaften für die Zukunft pandemiefester machen.

Eine umfassende Nachbereitung der Krisenerfahrungen ist daher mindestens genauso wichtig wie das aktuelle Krisenmanagement. Diese Nachbereitung muss jetzt vorgedacht und auf den Weg gebracht werden. Sie ist insbesondere eine Aufgabe für Wissenschaft und Wissenschaftspolitik.

Wir müssen unsere Gesellschaften für die Zukunft pandemiefester machen.
Uwe Schneidewind
Uwe Schneidewind (Foto: Bussenius & Reinicke)

Uwe Schneidewind

Wirtschaftswissenschaftler und Oberbürgermeister von Wuppertal

Denn seit Anfang 2020 ist eine umfassende empirische Datengrundlage über Pandemien und ihr (politisches) Management entstanden. Schon ein flüchtiger Blick zeigt, zu welchen Themen sich in kürzester Zeit das empirische Wissen potenziert hat: 

  • Die Ausbreitung und Mutation von Viren
  • Ansätze beschleunigter Impfstoffentwicklung, -produktion und -zulassung
  • Chancen und Grenzen staatlich flankierter F&E- und Industriepolitik
  • Die ökonomischen Auswirkungen von Schocks in spezifischen Branchen (Luftfahrt, Tourismus, Hotellerie, Gastronomie, Einzelhandel)
  • Die Belastungsfähigkeit öffentlicher Haushalte und die Umverteilungseffekte von Pandemiepolitik
  • Die Krisenfähigkeit parlamentarischer Demokratien im Vergleich zu autoritären Systemen
  • Die Handlungsfähigkeit föderalistischer Strukturen
  • Chancen und Grenzen internationaler Kooperation in globalen Krisen
  • Psychologische Strategien der Krisenbewältigung

Und all das ist nur ein kurzer Blick auf die Wissensbestände, die in der Krise entstanden sind. Ihre Aufbereitung ist ein Arbeitsprogramm für klassische disziplinäre Forschungsprogramme und -strategien. Es ist fest davon auszugehen, dass viele Forscherinnen und Forscher in den kommenden Jahren die Chance nutzen werden, hier gesellschaftlich hoch relevante Fragestellungen mit einem eindrucksvollen empirischen Datenbestand zu koppeln.​

Doch das alleine reicht nicht. Es gilt, die „Pandemie-Literacy“ der Gesellschaften des 21. Jahrhunderts insgesamt zu erhöhen. Denn gerade daran hat es im aktuellen Krisenmanagement oft gefehlt. Doch für dieses Ziel ist mehr nötig als nur Erkenntnisfortschritte in einzelnen Disziplinen.

Transformative Wissenschaft

Uwe Schneidewind (Illustration: Irene Sackmann)

Uwe Schneidewind treibt die Vision einer sozial- und ökologisch gerechten Welt im 21. Jahrhundert um. Und er ist der festen Überzeugung, dass die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben, einen zentralen Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse hat. Deswegen streitet er für eine „transformative Wissenschaft“ und erregt damit viele Gemüter im Wissenschaftssystem. Folgerichtig heißt diese Kolumne Transformative Wissenschaft.
Als Präsident des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie leitete er von 2010 bis 2020 einen der führenden Thinktanks für Nachhaltigkeitsforschung in Deutschland. Das Wissenschaftssystem und die Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft kennt er aus unterschiedlichen Perspektiven: als ehemaliger Präsident der Universität Oldenburg oder als Berater der Bundesregierung im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU). Seit dem 1. November 2020 ist Uwe Schneidewind Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal und damit in neuer Rolle in einem auch durch Wissenschaft entscheidend geprägten urbanen Transformationsraum.​

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Es braucht Orte, in denen das empirische Erfahrungswissen der Pandemiejahre disziplinen-übergreifend und gemeinsam mit gesellschaftlichen Akteuren aufbereitet wird. Für eine solche Post-Corona-Wissenschaft gilt es geeignete Wissenschaftsstrukturen zu schaffen.

Gerade für Universitäten liegt hier eine große Chance. Die Arbeit an pandemieresilienten Gesellschaften kann die Grundlage für transdisziplinäre Zentren bieten, in denen Praktikerinnen und Praktiker aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mehr zusammenarbeiten mit Expertinnen und Experten aus den Disziplinen Medizin, Naturwissenschaften, Produktionstechnik, Politikwissenschaften, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften und vielen weiteren. Solche Zentren wären nicht nur Ort für eine gesellschaftlich relevante Forschung, sondern könnten auch Lehrprogramme beleben. Denn in den kommenden Jahren kommen weltweit Studierendengenerationen an die Hochschulen, die die gemeinsame Erfahrung dieser Pandemiejahre 2020/21 mit all ihren Facetten teilen und vermutlich in ihrem Leben noch viele weitere Pandemien erleben und deren Krisenmanagement gestalten werden.

Transdisziplinäre Pandemiezentren würden es erlauben, gesellschaftliche Relevanz mit hervorragender Forschung und Lehre an diesen Hochschulen zu beleben (vgl. dazu auch die Kolumne „Radikaler Perspektivwechsel für Hochschulen“). Bund und Länder sollten jetzt mit Programmen Anreize für solche Strukturen in Hochschulen schaffen. Die entsprechende Weiterentwicklung des Programms „Innovative Hochschule“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) könnte ein Baustein dafür sein.

Jetzt gilt es, die vielfältigen und oft schwierigen Erfahrungen dieser Pandemie dafür zu nutzen, unsere Gesellschaften künftig klüger und krisenfester zu machen.

Forschungsgipfel 2021: Das Innovationssystem von morgen

Logo des Forschungsgipfel 2021 (Grafik: Stifterverband)
Logo des Forschungsgipfel 2021 (Grafik: Stifterverband)

Auch beim diesjährigen Forschungsgipfel geht es um die Frage: Was braucht es für ein zukunftsfähiges Innovationssystem in Deutschland? Wie sollte das Innovationssystem der nächsten Generation aussehen? Der Forschungsgipfel 2021 geht mit Blick auf die Bundestagswahl diesen Fragen nach. 

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