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Drei Missionen haben Hochschulen - doch welche steht im Mittelpunkt? (Foto: iStock/ jlinc84)

Radikaler Perspektivwechsel für Hochschulen

Kolumne,

Die gesellschaftlichen Herausforderungen sollten Forschung und Lehre an den Hochschulen prägen, meint Uwe Schneidewind. Dieser radikale Perspektivwechsel hieße, die „Third Mission“ zur „First Mission“ zu machen. Ein Vorschlag zur Belebung des Wissenschaftssystems.

Der Begriff der Third Mission hat aktuell Konjunktur in der hochschulpolitischen Debatte. Die Diskussion über die Ausdifferenzierung des Hochschulsystems bekommt damit eine neue Wendung, die sich für eine Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems nutzen lässt. Die Formel der Third Mission beschreibt das Verständnis, dass Hochschulen neben Forschung (First Mission) und Lehre (Second Mission) noch weitere Aufgaben haben, die ihre Beziehungen und den Transfer ins gesellschaftliche Umfeld umfassen.

Diese Aufgaben unter dem Dach einer Third Mission zusammenzufassen, sendet eine Botschaft aus: Das Verhältnis von Hochschulen zu ihrem gesellschaftlichen Umfeld ist mehr als ein zusätzliches Anhängsel unterschiedlicher Einzelaktivitäten. Es muss als „Mission“ verstanden werden, das heißt als eine umfassende und systematisch anzugehende Gestaltungsaufgabe. Dass es so weit kommen konnte, ist dem Engagement vieler Akteure zu verdanken: Die Aktivitäten des Stifterverbandes haben dazu genauso beigetragen wie das aktivere Einfordern einer gesellschaftlichen Rolle von Hochschulen durch die organisierte Zivilgesellschaft. Selbst das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat erst kürzlich eigene Leitlinien zur gesellschaftlichen Partizipation an der Wissenschaft veröffentlicht.

Transformative Wissenschaft

Uwe Schneidewind (Illustration: Irene Sackmann)

Uwe Schneidewind treibt die Vision einer sozial- und ökologisch gerechten Welt im 21. Jahrhundert um. Und er ist der festen Überzeugung, dass die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben, einen zentralen Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse hat. Deswegen streitet er für eine „transformative Wissenschaft“ und erregt damit viele Gemüter im Wissenschaftssystem. Folgerichtig heißt diese Kolumne Transformative Wissenschaft.
Als Präsident des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie leitete er von 2010 bis 2020 einen der führenden Thinktanks für Nachhaltigkeitsforschung in Deutschland. Das Wissenschaftssystem und die Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft kennt er aus unterschiedlichen Perspektiven: als ehemaliger Präsident der Universität Oldenburg oder als Berater der Bundesregierung im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU). Seit dem 1. November 2020 ist Uwe Schneidewind Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal und damit in neuer Rolle in einem auch durch Wissenschaft entscheidend geprägten urbanen Transformationsraum.​

Uwe Schneidewind auf Twitter 
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Third Mission als First Mission definieren

Wie solch ein produktives Miteinander aussehen kann, zeigt sich besonders dann, wenn man konsequent die Third Mission als First Mission denkt, das heißt die Aufgaben einer Hochschule systematisch aus ihrer Einbettung in die Gesellschaft sowie von den von der Gesellschaft an sie herangetragenen Herausforderungen her denkt. Und man von dort ableitet, was das für die Forschung und die Lehre an einer Hochschule bedeutet (vgl. dazu ausführlich den Beitrag „Die Third Mission zur First Mission machen?“ in der aktuellen Ausgabe von „die hochschule“).

Eine solche Perspektive würde aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen in den Fokus der wissenschaftlichen Bearbeitung von Hochschulen rücken. Dies wäre keine Absage an die disziplinäre Exzellenz von Hochschulen. Vielmehr ginge es darum, in „transdisziplinären Prozessen“ (R.W. Scholz) das Wissen unterschiedlicher Disziplinen sowie das Wissen gestaltender Akteure zu „sozial robusten Wissen“ (Helga Nowotny) zu integrieren und damit sowohl wissenschaftlich interessantes als auch für die Orientierung von Akteuren hilfreiches Wissen zu produzieren. Ein solch transdisziplinärer Modus liefert nicht nur Orientierung in aktuellen Fragen wie denen nach der Digitalisierung, den Migrations- und Flüchtlingsbewegungen und der Kohäsion von Gesellschaften oder in der Frage nach dem Umgang mit dem Klimawandel. Er fordert auch die einzelnen Disziplinen heraus, weil sich die konzeptionelle und methodische Rigorosität der Einzeldisziplinen immer wieder einer Überprüfung der Anschlussfähigkeit an andere Disziplinen stellen muss.

Ähnliches gilt für die Lehre. Eine Third-Mission-orientierte Lehre bedeutet problem-orientiertes Lernen. Das didaktische Potenzial solcher Lernformen ist längst erwiesen. Es motiviert Studierende durch relevante und aktuelle Fragestellungen und hilft ihnen, ihr disziplinär erworbenes Wissen in diese Kontexte einzubetten. In einer konsequenten Third-Mission-Orientierung liegt daher ein erhebliches Potenzial von Hochschulen insgesamt. 

Die Third Mission und der Wettbewerb „Innovative Hochschule“

Genau hierin liegt die Chance des Wettbewerbs „Innovative Hochschule“. Auch wenn dieser Wettbewerb schon in seiner Anlage falsch konzipiert ist – als Kompensation für alle (kleinen und mittleren) Hochschulen, die es nicht in die Exzellenzinitiative schaffen –, ist es umso wichtiger, das Potenzial dieses Wettbewerbs zu nutzen und mit den ersten Schritten einer horizontalen Differenzierung im Wissenschaftssystem Ernst zu machen. Der Wettbewerb „Innovative Hochschule“ schafft die Chance, dass einzelne Hochschulen sich konsequent zur Third Mission in der Orientierung ihrer Hochschulentwicklung bekennen und dabei deutlich machen, dass Gesellschaftsorientierung die Prinzipien von klassischer Forschungs- und Bildungsexzellenz nicht aufgibt, sondern sie produktiv in einen übergeordneten Rahmen einordnet.

Das Entstehen solcher herausragenden Third-Mission-Hochschulen auf hohem Niveau könnte dann Impulse für das gesamte Wissenschaftssystem geben.