Susanne Hahn
Susanne Hahn (Foto: Henning Ross)

„Rationalität hat viele Facetten“

Die Düsseldorfer Philosophin Susanne Hahn hat den Deutschen Preis für Philosophie und Sozialethik der Max Uwe Redler Stiftung erhalten. Die Auszeichnung ist herausragend, da sie Leistungen auf einem Wissenschaftsgebiet würdigt, das sonst selten im Rampenlicht steht. MERTON sprach mit der Preisträgerin über die Komplexität des philosophischen Rationalitätskonzeptes und die Essenz ihres Werkes.

Frau Hahn, was ist Rationalität?
Darauf gibt es verschiedene nicht miteinander vereinbare Antworten, denn Rationalität hat viele Facetten. Lange entsprach ein Hauptverständnis rationalen Handelns der mathematisch-ökonomisch formulierten Theorie des Homo oeconomicus. Danach handeln Menschen rational, indem sie aus verschiedenen Optionen jeweils die Handlung wählen, mit der sie am stärksten ihre eigenen Präferenzen realisieren oder, anders gesagt, den größtmöglichen persönlichen Nutzen erzielen. Vorausgesetzt wird dabei allerdings, dass der Handelnde alle verfügbaren Handlungsoptionen und auch deren Wirkung kennt. Das ist natürlich ebenso wenig realistisch wie die These, dass der Mensch stets ausschließlich danach strebt, den eigenen Nutzen zu maximieren. Denn damit lassen sich zum Beispiel altruistische Handlungen nicht erklären. Mit der Zeit entwickelten Wissenschaftler in Anlehnung an den US-amerikanischen Sozialwissenschaftler und Nobelpreisträger Herbert Simon deshalb ein anderes Rationalitätskonzept: das der bounded rationality, zu Deutsch „begrenzte Rationalität“. Herzstück der bounded rationality ist die Erkenntnis, dass Menschen eben nicht alle möglichen Handlungsoptionen kennen, geschweige denn deren Auswirkungen, sondern dass sie sich auch an Regeln orientieren und deshalb nur begrenzt rational handeln.

Wie funktioniert das in der Praxis? Wie handeln Menschen begrenzt rational?
Im Sinne der bounded rationality handeln Menschen rational, wenn sie beispielsweise nach Faustregeln agieren, wodurch sie schnell, mit wenig Information und ohne großen Berechnungsaufwand zu guten Resultaten kommen. Eine solche Faustregel ist die Wiedererkennungsregel. Dazu ein Beispiel: In einem Experiment wurde eine Gruppe von Deutschen und US-Amerikanern gefragt, welche Stadt größer sei: San Diego oder San Antonio. 100 Prozent der Deutschen gaben die richtige Antwort: San Diego. Aber nur zwei Drittel der befragten Amerikaner kamen zum korrekten Ergebnis. Die Erklärung: Die meisten Deutschen kennen San Antonio nicht, haben aber von San Diego gehört. Nach der Faustregel der Wiedererkennung wählten die deutschen Teilnehmer des Experiments als Antwort die Stadt, die sie kannten. Den Amerikanern dagegen waren beide Städte geläufig, sodass sie versuchten, aufgrund ihrer Kenntnisse ein Wahrscheinlichkeitsurteil zu fällen.

Kann man sagen, dass ein Verhalten objektiv rational ist?
Hier spielt die Unterscheidung zwischen rationalem Handeln im objektiven und im subjektiven Sinn hinein. Blickt man auf den objektiven Aspekt der Rationalität, dann handelt derjenige rational, dessen Handlung objektiv nachweisbar zum gewünschten Ziel führt. Doch auch wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, kann man durchaus rational handeln, nämlich subjektiv rational. Das ist der Fall, wenn man eine Handlung wählt, die auf der Basis persönlicher Erfahrungen und Überzeugungen – eben aus subjektiver Sicht – geeignet ist, ein gewünschtes Ziel zu erreichen. 

Zur Person

Susanne Hahn
Susanne Hahn (Foto: Henning Ross)

Susanne Hahn wurde 1964 in Mülheim an der Ruhr geboren. Nach dem Studium der Neueren Geschichte, Philosophie und Germanistik an den Universitäten Duisburg und Essen erfolgte 1998 an der Universität Essen die Promotion. Mit einem Lise-Meitner-Stipendium des Landes NRW gefördert, habilitierte sie sich 2007 an der Heinrich-Heine-Universität  Düsseldorf und übernahm Lehrstuhlvertretungen an verschiedenen Universitäten. Von 2011 bis 2016 arbeitete sie an ihrem durch die DFG geförderten Projekt „Ein Rahmen für die Wirtschaftsethik – Methodische Grundlagen und Regeln“. Seit 2016 ist sie außerplanmäßige Professorin an der Heinrich-Heine-Universität. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Normativität, Rationalität und Wirtschaftsethik.

Stellen Sie sich als Beispiel einen Menschen vor, der sehr abergläubisch ist. Er ist davon überzeugt, ein Unglück heraufzubeschwören, wenn er unter einer Leiter hindurchgeht. Deshalb umrundet er jede Leiter, der er begegnet. Subjektiv gesehen handelt er damit rational: Aus seiner individuellen Sicht wählt er eine geeignete Handlung (nicht unter einer Leiter hindurchgehen), um sein Ziel (Unglück vermeiden) zu erreichen. Objektiv betrachtet ist dieses Verhalten aber nicht rational, denn es ist nicht erwiesen, dass sich Unglück auf die geschilderte Weise verhindern lässt.

Was bedeutet rationales Handeln für eine Gesellschaft?
Die Varianten rationalen Handelns, die sich auf Regeln beziehen, spielen eine wichtige Rolle in Gemeinschaften, regelkonformes Verhalten ist quasi der Schmierstoff einer Gesellschaft. Denn nur wenn sich der Einzelne überwiegend an den geltenden Regeln der Gemeinschaft orientiert, kann diese dauerhaft funktionieren. Bei der Entstehung dieser Regeln muss man zwischen der informellen und der formellen Entwicklung unterscheiden: Im ersten Fall spielen sich Regeln häufig über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte hinweg in einer Gesellschaft ein. Beispiele sind das in westlichen Ländern verbreitete Händeschütteln bei der Begrüßung oder aber auch moralische Regeln wie das Gebot, Versprechen einzuhalten, oder das Verbot zu lügen. Im zweiten Fall, den formellen Regeln, werden diese hingegen von eigens dazu ermächtigten Instanzen vorgegeben und auch in Kraft gesetzt. Beispiele dafür sind nicht nur strafrechtliche Normen, sondern auch Umweltnormen oder Normen, die den Abschluss von Verträgen oder die Änderung des Familienstandes regulieren. 

Wenn Regeln kollidieren

Susanne Hahn
Susanne Hahn (Foto: Henning Ross)

Können Widersprüche zwischen informellen gesellschaftlichen Normen und formellen Regelungen entstehen? Wenn ja, woran orientiert sich dann das Verhalten der Menschen? 
Die formellen und informellen Regeln können, müssen aber nicht übereinstimmen. In Demokratien beeinflussen sie sich meist gegenseitig. So können aus informellen Impulsen Gesetze entstehen. Denken Sie etwa an die kürzlich verabschiedete Ehe für alle, die nun gesetzlich fixiert, was hierzulande bereits gelebte und weitgehend akzeptierte Praxis ist. Andersherum gehen rechtliche Normen den Menschen mit der Zeit in Fleisch und Blut über oder bestärken informelle Normen. Die meisten von uns werden zum Beispiel nicht stehlen. Und zwar nicht nur, weil es gesetzlich verboten ist, sondern auch, weil es den eigenen Wertvorstellungen widerspricht. Anders als in Demokratien kommt es in Diktaturen sicherlich häufiger zu Widersprüchen zwischen formalen staatlichen Regelungen und informellen moralischen Normen. Woran die Menschen sich dann eher orientieren, hängt von vielen Faktoren ab. Zum einen spielen Sanktionen, mit denen der Staat regelwidriges Verhalten ahndet, sowie die Wahrscheinlichkeit, dabei entdeckt zu werden, eine Rolle, zum anderen aber auch, wie stark sich jemand moralischen Normen verbunden fühlt und ob sich Mitstreiter für abweichende Überzeugungen finden. Doch auch in Demokratien können formelle und informelle Regeln kollidieren. Ein Beispiel dafür ist der in öffentlichen Parks herrschende Leinenzwang für Hunde, den viele Hundebesitzer jedoch ignorieren, weil sie der informellen Regel anhängen, ihren Vierbeinern Auslauf zu bieten. Die Angst vor Entdeckung ist vergleichsweise gering, es gibt viele andere, die es genauso machen, und auch die mögliche Sanktionierung ist überschaubar. 

Regelkonformes Verhalten ist der Schmierstoff einer Gesellschaft.
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Susanne Hahn (Foto: Henning Ross)

Susanne Hahn

Sie haben die Auszeichnung der Max Uwe Redler Stiftung für Ihre Habilitationsschrift Rationalität. Eine Kartierung erhalten. Was ist die Essenz Ihres Werkes?
Ausgangspunkt meiner Arbeit waren die vielen oft miteinander inkompatiblen Bedeutungen und Interpretationen, die in der wissenschaftlichen Debatte mit dem Begriff der Rationalität verbunden sind. Dies hat regelmäßig zu Missverständnissen und damit verbundenen (Schein-)Disputen sowie letztlich zu einem Auf-der-Stelle-Treten der wissenschaftlichen Debatte geführt. Mit einer erweiterten Fragestellung wird die verfahrene Debatte wieder in Gang gebracht. Warum ist es überhaupt wichtig, von rationalem und irrationalem Handeln zu sprechen? Was sind die Unterscheidungsinteressen und Zielsetzungen, bezüglich derer die Rede von (ir)rationalem Handeln eine zentrale Rolle erhält? In dieser erweiterten, differenzierten Sicht lässt sich ein entsprechendes Begriffsfeld entwickeln, das Rationalität in ihren verschiedensten Ausprägungen und Bedeutungen erfasst, präzisiert, benennt, sortiert und so für verschiedene wissenschaftliche Fragestellungen nutzbar macht. 

Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung?
Der Preis bedeutet mir nicht nur aus persönlichen Gründen sehr viel. Ich freue mich vor allem darüber, dass die Stiftung ein Zeichen setzt, indem sie den Preis für ein deutschsprachiges Buch reserviert. Derzeit gibt es auch in der Philosophie die dreifache Forderung, nur noch Aufsätze, nur noch in englischer Sprache und nur noch in bestimmten Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Auch diese Sorte von Texten ist erforderlich. Doch die philosophische Arbeit ist oft viel grundsätzlicher und umfassender und braucht deshalb auch das Buchformat. Zudem ist die sprachliche Nuancierung überaus wichtig, die in der Muttersprache in der Regel am besten gelingt. Der Preis honoriert diese Aspekte und zeigt, dass sorgfältige Arbeit und ein langer Atem nach wie vor anerkannt werden. Außerdem würdigt er damit die gegenwärtige deutschsprachige Philosophie, die derzeit – nach einer verbreiteten, aber meines Erachtens nicht gerechtfertigten Auffassung – im internationalen Vergleich eine eher untergeordnete Rolle spielt.

Die Stiftung

Die Max Uwe Redler Stiftung wurde vom Hamburger Bank- und Außenhandelskaufmann Max Uwe Redler (1937–2007) errichtet. Er hatte testamentarisch verfügt, dass nach seinem Tode eine gemeinnützige Stiftung zur Förderung der Philosophie und Sozialethik gegründet werden soll. Stiftungszweck ist die Vergabe eines Preises, der den Namen „Deutscher Preis für Philosophie und Sozialethik" trägt. Der mit 100.000 Euro dotierte Philosophiepreis der Max Uwe Redler Stiftung ist die bedeutendste Auszeichnung auf dem Gebiet der Philosophie und Sozialethik im deutschsprachigen Raum.