Illustration: K3/Sebastian Niemann
Illustration: K3/Sebastian Niemann

Schöne smarte Lernwelt

Systeme mit künstlicher Intelligenz (KI) bewerten textbasierte Klausuren erstaunlich gut. Das zeigt ein Pilotprojekt im Rhein-Sieg-Kreis bei Bonn. Vor allem Studierende profitieren davon. Wird mit smarter Technologie das Studieren bald leichter?

Dozenten kennen das Prozedere nur allzu gut: Ein Papierstapel gespickt mit Hunderten von Sätzen und Formeln wartet darauf, gelesen zu werden. Gerade textbasierte Klausuren bedeuten für Lehrkräfte und deren Assistenten einen enormen Korrekturaufwand. Das lässt sich vielerorts an der schier nicht enden wollenden Rückgabezeit ablesen. Es vergehen oft Monate zwischen dem Schreiben der Klausur und dem Zeitpunkt, an dem der Studierende die bewertete Klausur einsehen darf.  

Was nach einem reinen Organisationsproblem klingt, bringt Bachelor- und Masterstudierenden handfeste Nachteile: Wer die Klausur verhauen hat, verpasst durch lange Korrekturzeiten oft den nächstmöglichen Termin für den zweiten Anlauf. Viele empfinden das wochenlange Warten auf die Rückmeldung, ob man bestanden hat oder nicht, als zermürbend. Lange Klausur-Rückgabezeiten bremsen den Lernfortschritt aus, ohne Frage. Wie aber wäre es andersherum gedacht: Könnten kurze Zeiten womöglich das Studieren beflügeln?

Moderne, effektive Lehre

Antworten darauf suchen Paul G. Plöger, Prodekan des Fachbereichs Informatik, und die Masterstudentin Evgeniya Ovchinnikova an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Beide erforschen grundlegend die Potenziale von künstlicher Intelligenz (KI) für die automatisierte Klausurbewertung. Nicht nur, damit die Rückgabezeiten deutlich sinken, Lehrkräfte entlastet werden und Hochschulen ihre organisatorischen Abläufe optimieren können, sagt Plöger, der dem Prüfungsausschuss „Master Autonomous Systems“ vorsitzt: „Im Kern geht es uns um moderne, effektive Lehre.“

Studien zufolge sollen smarte Systeme – gemeint sind Computerprogramme, die menschliche Entscheidungsstrukturen automatisieren und die sich Inhalte maschinell aneignen können – bei der Bewertung von Freitext einen Tick genauer sein als der Mensch, berichtet Plöger weiter. Er ist überzeugt, mithilfe von KI könnte auch deshalb im Hochschulalltag gut eine Vorbewertung erfolgen: „Wenn ein smartes Programm bis auf wenige unklare Spezialfälle schon akribisch eingeschätzt hat, zu wie viel Prozent eine Klausurantwort von der richtigen Antwort abweicht, dann müssen Lehrkräfte anschließend nur drüberschauen und sagen: ‚Ja, die Varianzen waren überall klein. Alles, was ich gesehen habe, war plausibel. Also kann ich diese Note geben.‘“ 

Wenn ein smartes Programm schon akribisch eingeschätzt hat, zu wie viel Prozent eine Klausurantwort von der richtigen Antwort abweicht, dann müssen Lehrkräfte anschließend nur drüberschauen.
Paul G. Plöger (Foto: Eric Lichtenscheidt)
Paul G. Plöger (Foto: Eric Lichtenscheidt)

Paul G. Plöger

Prodekan des Fachbereichs Informatik an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg

Digitaler Korrektor

Was das KI-System noch nicht weiß, lernt es mit der Zeit. Doch wie geht das überhaupt? Wie kreiert man einen exakten digitalen Korrektor? Das untersucht Evgeniya Ovchinnikova speziell für Klausurbewertungen für die Vorlesung über neuronale Netze. Der Stifterverband und die Reinhard Frank-Stiftung fördern ihre Arbeit mit dem Digital Learning Transfer Fellowship (siehe Kasten)

„Wir mussten unser Computerprogramm zunächst mit den Fachtermini zu neuronalen Netzen vertraut machen“, sagt Evgeniya Ovchinnikov. Hierfür kombinierte die Studentin ein allgemeines Sprachmodell – eine Art Regelwerk, wie man Sätze in Deutsch schreibt – mit möglichst allen Fachbegriffen aus dem Bereich der neuronalen Netze. Es entstand auch eine englische Version. Viele Fachterminusmodule, wie für Medizin oder Jura, gebe es bereits bei Google zum Downloaden, erzählt Ovchinnikov: „Ansonsten lässt man das System möglichst viele digitale Fachbücher über das Spezialgebiet lesen.“

Versteht das KI-System alle Worte und Sätze, die in Klausuren auftauchen könnten, wird es mit Fragen und entsprechenden Antworten weiter instruiert. Evgeniya Ovchinnikov spricht von active learning: Wissenslücken und Fehlbewertungen verschwänden nach und nach, wenn das System immer wieder mit entsprechendem Feedback von Dozenten und Studierenden korrigiert werde. So weit die Theorie, denn bislang ist die automatische Klausurbewertung noch in der Testphase. Erste Ergebnisse von Probekorrekturen seien aber vielversprechend, so Ovchinnikov und Plöger.

Logo: Sven Sedivy
Logo: Sven Sedivy

Der digitale Wandel verändert die Hochschulen nachhaltig. Mit dem Einsatz von Big Data und künstlicher Intelligenz, von virtueller Realität und Robotik schreiten Technik und Digitalisierung in rasanter Geschwindigkeit  voran. Diese technologischen Innovationen fließen auch in die Weiterentwicklung von Lerntechnologien ein. Der Stifterverband und die Reinhard Frank-Stiftung vergeben Fellowships für die Analyse dieser digitalen Trends und ihrer Transferpotenziale für die Weiterentwicklung der Hochschulbildung. Im November 2017 wurden acht Fellows ausgewählt, die ihre Ergebnisse im Rahmen einer Themenwoche des Hochschulforums Digitalisierung vom 24. bis 29. September 2018 in Berlin vorgestellt haben. 

Scheu vor der Technik verlieren

Beide sehen nicht die Technik als Hürde, sondern vielmehr die Akzeptanz der Studierenden und Lehrkräfte, wobei Letztere größere Vorbehalten hätten. Das Feedback der Studierenden, die an Probebewertungen teilnahmen, betraf eher Kleinigkeiten, die schnell behoben werden konnten. So sollen beispielsweise leise Tastaturen zukünftig den Geräuschpegel im Hörsaal senken, damit sich Studierende beim Eintippen der Klausurantworten besser konzentrieren können. Was sich bereits abzeichne, so Paul Plöger: Auch Übungsaufgaben sollten während des Semesters schon digital umgesetzt werden, damit alle Beteiligen die Scheu vor der Technik verlören.

In der smarten Lernwelt von morgen sind automatisierte Klausurbewertungen gerade mal ein Mosaikstein. Vordenker und Wissenschaftler sehen in der Kombination von Bildung und KI enorme Potenziale. Vorausgesagt werden zum Beispiel lebenslange digitale Lernbegleiter, die persönliche Bildungswege anstoßen, coachen und mitgestalten, aber auch KI-Tutoren: Diese suchen für Lehrer und Dozenten eigenständig innovative Lehrkonzepte, warnen bei entsprechenden Symptomen vor Burn-out oder organisieren bei fachlichen Problemen humane Mentoren.

Noch steckt alles in den Kinderschuhen. In Zukunft sollen Lernmethoden und Inhalte nahezu in Echtzeit darauf abgestimmt werden, wie gut ein Student gerade lernt. Welche Lernantworten sie oder er gibt, verknüpft das KI-System dann auch mit körperlichen Signalen: Der Stresspegel steigt – weil die aktuellen Aufgaben zu schwer sind? Dann folgen hier erst einmal leichtere. Oder ist der Studierende konzentriert und entspannt, wirkt aber gelangweilt? Dann geht es mit dem Lernstoff jetzt schneller voran.

Wir wollen die Studenten mit unserem LA-gestützten Angebot nicht erschrecken und frustrieren, sondern genau das Gegenteil erreichen: Sie sollen sich Unterstützung holen, damit genau dieser Fall eben nicht eintritt.
Tobias Jordine (Foto: privat)
Tobias Jordine (Foto: privat)

Tobias Jordine

Techniker an der Hochschule der Medien in Stuttgart

Digitale Lernwerkzeuge

Deutsche Hochschulen dringen in den datengetriebenen automatisierten Lernkosmos eher zögerlich vor. Projekte laufen vor allem im Bereich von Learning Analytics (LA), wo die von Studierenden produzierten Daten aggregiert und noch ohne KI für Analysen genutzt werden: Wo ist eine Klausur oder ein Curriculum zu anspruchsvoll? Sind die aktuellen Beratungsangebote der Hochschule effizient? Bauen Lehrmodule in einem Fachbereich effektiv aufeinander auf? Geschaut wird bislang fast immer durch die institutionelle Brille oder aus Dozentensicht.

Neue Anwendungen drehen den Spieß nun um, wie das frei zugängliche Lernwerkzeug JavaFIT, mit dem sich Studierende der Humboldt-Universität zu Berlin Kenntnisse rund ums Programmieren aneignen. Die Software spiegelt nur dem Lernenden ganz individuell zurück, wie er mit dem Lernstoff vorankommt. Dozenten und die Hochschule bleiben dagegen außen vor.

Ziel des Pilotprojektes sei die Selbstreflexion, erklärt Informatikprofessor Niels Pinkwart, der JavaFIT über sechs Jahre an der Humboldt-Universität mit seinem Team entwickelt hat. „Gerade in den ersten Semestern können viele Studierende die Ziele ihrer Kurse noch nicht gut einschätzen, wo sie im Lernstoff jeweils hinkommen sollen oder was die wirklich wichtigen Themen aus Sicht der Dozenten sind“, so Pinkwart. Auf LA-gestützte Feedbackprozesse könnten in solchen Fällen Klarheit bringen und damit das Lernen verbessern.

Smarte Technik als Frühwarnsystem

Smarte Technik wird die Leistung von Studierenden mit den Jahren immer detaillierter und genauer einschätzen können. In Stuttgart wird an der Hochschule der Medien (HdM) mit Learning Analytics für Prüfungsleistungen und Studienerfolg (LAPS) gerade ein soziales Frühwarnsystem in der Praxis getestet, das Studierenden eine E-Mail schickt, wenn sie mit ihren Leistungen abfallen.

Was den Entwicklern von LAPS sehr wichtig war, erzählt HdM-Techniker Tobias Jordine: In dieser E-Mail stehe nicht das Analyseergebnis drin, wie: „Sie haben eine 78-prozentige Wahrscheinlichkeit für einen Studienabbruch“, denn das wäre sicherlich fatal. „Wir wollen ja die Studenten nicht erschrecken und frustrieren, sondern genau das Gegenteil erreichen: Sie sollen sich Unterstützung holen, damit genau dieser Fall eben nicht eintritt.“ Deshalb enthalte die E-Mail lediglich eine freundliche Aufforderung, „man solle doch mal über einen Beratungstermin nachdenken, weil das System ein gewisses Risiko im Studienverlauf erkannt habe“. Und wenn man darauf keine Lust habe, könne man auch den Inhalt der E-Mail einfach ignorieren.

Wie viele Studierende, die auf diese Art informiert wurden, dann tatsächlich die allgemeine Studienberatung oder Fachstudienberatung aufsuchen werden, wird sich erst in einigen Monaten zeigen, denn die ersten E-Mails verschickt das LAPS-System erst zum kommenden Wintersemester. Interesse, freiwillig am Projekt teilzunehmen, bekundeten allerdings schon viele Studierende: rund 50 Prozent der Erstsemester und 15 Prozent der übrigen Studierenden.