Ashis Nandy (Foto: Garima Jain)
Ashis Nandy (Foto: Garima Jain)

Streitbar und versöhnlich

Der Inder Ashis Nandy prägte die weltweiten Postcolonial Studies wie kein Zweiter. Für sein Lebenswerk hat er nun den hoch dotierten Hans-Kilian-Preis erhalten.

Mit sechs Jahren sah Ashis Nandy Dinge, die er zeitlebens nicht vergessen sollte. Das war 1943. In Nandys Heimat, der Präsidentschaft Bengalen im damaligen Britisch-Indien, herrschte eine entsetzliche Hungersnot, die ein Jahr lang andauerte. Anschließend zählte man drei Millionen Hungertote. Eine unfassbar hohe Zahl. Wer waren diese Menschen und warum hatte ihnen niemand geholfen?

Diese Fragen lassen Ashis Nandy bis heute nicht los. Er selbst hatte die Opfer damals in Kalkutta über Monate hinweg gesehen, wie sie mit Kindern auf dem Arm auf der Suche nach Essen verzweifelt durch die Straßen irrten. Wie sie stahlen, um vielleicht doch noch zu überleben. Später, als Nandy schon einer der bekanntesten indischen Sozialtheoretiker und Psychoanalytiker war, gab er diesem Ereignis einen Namen: Genozid.

Ashis Nandy ist weltweit dafür bekannt, dass er die Dinge beim Namen nennt. Der heute 82-Jährige gilt als streitbar und mutig. Als jemand, der Worthülsen entlarvt und so das mit Begriffen getarnte Geschehen sichtbar macht: Genozid statt Hungersnot. Denn Winston Churchill ließ auch 1943 Lebensmittel aus dem Kolonialreich Britisch-Indien nach Europa exportieren. Eine Ignoranz von vielen, die die Katastrophe begleiteten.

Weg vom wissenschaftlichen Mainstream

Ashis Nandy (Foto: Alexander Kochinka)
Ashis Nandy (Foto: Alexander Kochinka)

Nandy setzt sich zeitlebens für Menschenrechte und das Überleben von Kulturen ein.  Als Sozialtheoretiker und Psychoanalytiker verfasste er über Jahrzehnte hinweg Aufsätze, die inhaltlich fern vom wissenschaftlichen Mainstream liegen. Viele dieser Arbeiten zum Postkolonialismus sorgten weltweit für Aufsehen. Manche enthalten Sprengstoff für öffentliche Diskussionen, wie sein Aufsatz über „Sati“, die Witwenverbrennung, oder sein bekanntestes Werk „Der Intimfeind: Verlust und Wiederaneignung der Persönlichkeit im Kolonialismus“. Nandy beschreibt darin seine These, dass der Antikolonialismus in Indien selbst im kolonialen Wertekanon stecken geblieben sei.

Seine akademische Karriere ist eng mit dem Centre for the Study of Developing Societies (CSDS) in Neu-Delhi verbunden, dem er in den 1990er-Jahren als Direktor vorstand. Es ist Indiens führendes Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften, ein weltweit einflussreicher Thinktank, dem Nandy heute noch als Senior Honorary Fellow angehört. Bekanntheit genießt er über Indien hinaus: Das US-amerikanische Magazin „Foreign Affairs“ zählte Ashis Nandy 2008 zu den 100 weltweit wichtigsten Intellektuellen. Die internationale Reichweite seiner Arbeit zeigt sich unter anderem in Fellowships an verschiedenen Universitäten in den USA, Großbritannien und Deutschland. In Deutschland übernahm der Sozialanalytiker 1994 den ersten UNESCO-Lehrstuhl am Zentrum für Europäische Studien der Universität Trier. Er kehrt aber immer wieder nach Delhi zurück.

Mitbegründer des Postkolonialismus

Ashis Nandys Steckenpferd sind die Postcolonial Studies, die er seit den 1960er-Jahren mitbegründete. Auch heute gilt er als Koryphäe in diesem Wissensbereich. Kein Wunder, denn der Postkolonialismus ist genau das Spannungsfeld, in dem er biografisch wie auch akademisch sozialisiert wurde und das ihn tief prägte.

Was viele andere Denker nur aus der Literatur kennen, hat Nandy persönlich erlebt. Er verfolgte, wie Indien nach einer 89 Jahre andauernden britischen Kolonialherrschaft im Jahr 1947 die Unabhängigkeit gewaltfrei erkämpfte. Wie nach dem Abzug der Briten das Land in zwei Teile zerbrach: in ein vorwiegend muslimisches Pakistan und ein mehrheitlich hinduistisches Indien. Und wie im Zuge dessen rund 1,2 Millionen Muslime und Hindus, die zuvor über Jahrhunderte hinweg vergleichsweise gut miteinander ausgekommen waren, plötzlich zu Todfeinden wurden.

Analyse der indischen Kultur

Ashis Nandy fragte sich: Was war bloß aus den Lehren und Strategien von Mahatma Gandhi geworden? In dessen Sichtweisen sieht Nandy nach wie vor viel politisches Potenzial. Gandhi, der geistige und politische Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, propagierte Gewaltfreiheit und lebte diese eindrucksvoll vor. Er berief sich bei seinen Lehren auf eine 5.000 Jahre alte indische Hochkultur und wurde 1948 von einem fanatischen Hindu erschossen.

Warum begann die Unabhängigkeit Indiens mit so einer großen Idee, die dann derart schnell verpuffte? Weshalb ist die indische Gesellschaft nach der Vertreibung der fremden Kolonialherren nun so feindselig ihren eigenen Gruppen gegenüber? Und das, obwohl in der indischen Verfassung all die Ideen der europäischen Aufklärung verankert sind, die unter anderem auch durch die Briten in Indien verbreitet wurden: wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Meinungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit. Nandy untersuchte, was dahinterstecken könnte – aus einem indischen Blickwinkel heraus und nicht durch die Brille der europäischen Wissenschaft.

Mahatma Gandhi (Foto: [Von Unbekannt](https://www.flickr.com/photos/55638925@N00/255569844/), [Gemeinfrei](https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2369294)
Mahatma Gandhi (Foto: Von Unbekannt, Gemeinfrei
Vorbild Gandhi, der geistige und politische Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung

Dabei zeigt er auf, wie Inder im Postkolonialismus selbst die Stereotypen über eine vermeintlich minderwertige indische Kultur am Leben hielten: Vorurteile und Herabsetzungen, die die Briten während der Kolonialzeit in Indien verbreitet hatten, lehrten Inder nach dem Abzug der Briten einfach unreflektiert an den von Briten gegründeten Universitäten und Schulen weiter. Zu Nandys Stärken zählt aber, dass er in seiner Arbeit zum Postkolonialismus eine Balance findet zwischen der Kritik an und einer Anerkennung europäischer Leistungen – eine Ausgewogenheit, die in den Postcolonial Studies als bemerkenswert gelten kann. 

Ausgezeichnetes Lebenswerk

Mit ihrem internationalen Forschungspreis würdigt nun die Köhler-Stiftung das herausragende Werk von Ashis Nandy: Ihm wurde der diesjährige Hans-Kilian-Preis (siehe Kasten) verliehen, der mit 80.000 Euro versehen ist und deutschlandweit zu den höchstdotierten Auszeichnungen im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften zählt. Nandy freute sich sehr über die Auszeichnung. Er möchte erreichen, dass sich in seiner Heimat Indien noch einiges zum Besseren wendet.

Davon können ihn auch die gerichtlich geführten Klagen nicht abhalten, die teilweise von Funktionären der hindu-fundamentalistischen Regierung stammen, die ihn mundtot machen wollen. Der politische Wind bläst dem liberalen Denker Ashis Nandy heftiger denn je ins Gesicht, aufseiten der Orthodoxie hat er erbitterte Gegner. Deshalb sei der Preis, so bedankt er sich herzlich, unendlich wertvoll: Die Anerkennung aus dem Ausland gebe ihm jetzt etwas mehr Ellbogenfreiheit.

Hans Kilian hat immer wieder die Aufgabe der Sozialwissenschaft und der Psychoanalyse betont, das Unsichtbare und das, was manche Gesellschaften gerne unsichtbar machen würden, dem Verbergen und Vergessen zu entreißen. In einer Welt, in der ehemals schützende und sichtbare Gemeinschaften mehr und mehr zerstört und durch anonymisierende Massengesellschaften verdrängt werden, ist diese Aufgabe dringlicher denn je.
Ashis Nandy (Foto: Alexander Kochinka)
Ashis Nandy (Foto: Alexander Kochinka)

Ashis Nandy

anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Hans-Kilian-Preis

Hans-Kilian-Preis

Der Hans-Kilian-Preis wird alle zwei Jahre vergeben, erstmals 2011. Er soll herausragende Forschung auf dem Gebiet der metakulturellen Humanisation auszeichnen und mit dem Preisgeld von 80.000 Euro auch aktiv voranbringen. Die Köhler-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft rief den Preis ins Leben. Sie fördert mit dieser Initiative Wissenschaftler, die Grenzen zwischen Disziplinen und Kulturen kreativ überschreiten und produktive Synthesen zwischen bislang isolierten Wissensgebieten schaffen.

Website zum Hans-Kilian-Preis