Somalische Frauen studieren Englisch im kenianischen Flüchtlingslager Dadaab.
Somalische Frauen studieren Englisch im kenianischen Flüchtlingslager Dadaab. (Foto: iStock/journalturk)

Trotz Krieg studieren

In Krieg und Krisensituationen kämpft die Zivilbevölkerung um ihr tägliches Überleben, aber auch immer wieder um ein Stückchen Normalität. Lernen und studieren gehören dazu. Wo noch ein Internetzugang besteht, kann durch digitale Lernangebote vieles erreicht werden, was in der realen Welt aufgrund der Sicherheitslage nicht mehr geht. Corina Niebuhr über umsichtige Initiativen, die Bildung und Lernen auch in Kriegsgebieten möglich machen.

Die Hilferufe kommen immer öfter aus Kriegsgebieten: In E-Mails bitten Professoren, Wissenschaftler und Studierende um Unterstützung bei Kollegen, Institutionen und Hochschulen in der westlichen Welt. Man hofft, dass man zumindest über digitale Medien weiter an höhere Bildung und aktuelles Fachwissen andocken kann. Viele der Anfragen kommen aus Aleppo. Vor Kriegsausbruch 2011 studierte in Syrien mehr als ein Viertel der 18- bis 24-Jährigen, das Hochschulsystem war gut aufgestellt. Heute sind viele Universitäten zerbombt oder mittellos und Lehrkräfte Mangelware; in den Flüchtlingscamps der Aufnahmeländer dürstet eine ganze Generation studierfähiger junger Menschen nach Wissen, Zertifikaten und Hochschulabschlüssen.

In Zeiten von Massive Open Online Courses (MOOCs) und Open Educational Resources (OER) erscheint es naheliegend, Menschen in Kriegs- und Krisensituationen einfach über digitale Medien mit modernen Lehr- und Lernangeboten zu versorgen. Wie erfolgreich wäre dieses Vorhaben? Was wird bislang realisiert? Welche Rolle spielen dabei deutsche Hochschulen und Institutionen?

Zunächst der Blick zurück nach Syrien: So erstaunlich es ist, in den von der Regierung kontrollierten Gebieten geht das Studium weiter und auch in Teilen der von den sogenannten Rebellen kontrollierten Gebiete gibt es weiter Bildungsaktivitäten, zumindest bis zu dem Niveau, dass Schüler ihr Abitur machen können. „Dieses Abitur wird aber von niemandem anerkannt, weil es vor Ort keine Institution mehr gibt, die die Qualität der Abschlüsse garantieren könnte“, sagt Carsten Walbiner, ein Kenner des Nahen Ostens, der in Amman für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) das Projekt HOPES leitet. 

HOPES wird von der EU finanziert und bietet studierfähigen jungen Syrern in Jordanien, Ägypten, im Irak, im Libanon und in der Türkei Studienberatung und Stipendien an. Walbiner hört oft aus erster Hand, wie stark sich das syrische Hochschulsystem durch den Krieg verändert hat: Den Exodus an Lehrkräften könne die nachwachsende Generation nicht mehr ausgleichen; einigen Universitäten gingen Lehrmittel und finanzielle Ressourcen aus; Professoren verlören zunehmend den Anschluss an aktuelles Fachwissen, weil der internationale Austausch fehle.

All das passiere unter einer extrem angespannten politischen Situation, was zweifelsohne auch Rückwirkungen auf die akademische Freiheit habe, glaubt Walbiner. Deshalb gehe es auch nicht bloß darum, Container mit Lehrbüchern oder E-Learning-Software zu schicken oder eben OER-Material anzubieten – das könne im Einzelfall helfen, dringlich seien aber auch Antworten auf die Fragen: „Wie können wir verhindern, dass das akademische Niveau in Syrien zu tief absinkt, dass die Hochschulbildung aufgrund des Konflikts zu stark politisiert wird?“ Der DAAD-Mitarbeiter warnt vor zu viel Optimismus: Mögliche Partnerhochschulen müssten all das, was gebraucht wird, auch leisten können, womit man die westlichen Hochschulen schlichtweg überfordere, weil sie darauf in der Regel nicht eingestellt seien. „Die immer stärker werdenden existenziellen Fragen der syrischen Lehrkräfte und Studierenden lassen dann auch so manchen akademischen Diskurs hohl erscheinen.“ 

Die existenziellen Fragen der syrischen Lehrkräfte und Studierenden lassen so manchen akademischen Diskurs hohl erscheinen.

Carsten Walbiner, DAAD

Carsten Walbiner ist realistisch und keineswegs pessimistisch. Er weiß um die Kraft höherer Bildung, betreute von Palästina aus Studierende in Gaza, die seit der israelischen Blockade 2007 in einer teils zerbombten Stadt leben, viele gewaltvolle Konflikte in der Umgebung erleben müssen und nicht wegkommen. „Das ist wirklich Krise pur, Krise zugespitzt“, so der DAAD-Mitarbeiter. Genau diese Stipendiaten seien erfolgreicher gewesen im Studium als die Stipendiaten aus dem Westjordanland. „In ihrem wirklich schweren Leben ist Bildung ein wichtiger Fluchtpunkt, sie lernen 14 und mehr Stunden am Tag.“ Gleichzeitig hofften seine Stipendiaten in Gaza so auf eine Chance, mit einem hohen Bildungsniveau doch noch aus dem Elend herauszukommen oder zumindest innerhalb dieses Elends ihre Situation und die von anderen zu verbessern.

Dem Wahnsinn etwas entgegensetzen

Vincent Zimmer (Foto: Stifterverband)
Start-up-Gründer Vincent Zimmer

Ähnliches erfuhr Vincent Zimmer mehrfach, Mitgründer von Kiron Open Higher Education, ein 2015 gegründetes Social Start-up, das von Berlin aus Flüchtlingen zunächst virtuelle Lernumgebungen, Mentoring oder ein Buddy-Programm bereitstellt und sie nach durchschnittlich zwei Jahren Digitalstudium an Partnerhochschulen in Deutschland, Jordanien, Frankreich oder Italien vermittelt, wo die Studierenden in der Regel gleich ins dritte Fachsemester einsteigen und ihren Bachelorabschluss machen können. Das Team von Kiron bekommt oft Nachrichten und Anfragen von Syrern, die in den besetzten Regionen weiter unter Einsatz ihres Lebens auf den Campus gehen, weil sie auf einen Start in ein besseres Leben hoffen. Eine Gruppe solcher Studierender organisierte selbstständig Lerngruppen, nachdem ihre Universität zerbombt wurde. Jetzt studieren sie über Kiron in anderen Ländern weiter, wie der Türkei oder Jordanien. Vincent Zimmer fragte nach, warum sie sich in Syrien fürs Weiterstudieren so lange den Gefahren ausgesetzt haben. Die Antwort war: Man müsse diesem Wahnsinn doch irgendetwas entgegensetzen.

Hochschulbildung als humanitäre Hilfe mitten in Krisensituationen anzubieten, ist noch eine zarte Pflanze, die vor allem außerhalb der Kriegsgebiete wächst: in den Flüchtlingslagern. Schulbildung gibt es dort schon lange, mit dem Sekundarlevel war aber das Ende der Fahnenstange erreicht, auch wenn es hier und da vereinzelt noch Weiterbildungsangebote gab. Genau das ändert sich gerade. Noch sind es Pioniere, die sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen, wie höhere Bildung in Flüchtlingscamps mithilfe von Digitalisierung, internationalen Partnerhochschulen und Netzwerken möglich wird. Aber das Verständnis in der globalen Hochschulwelt wächst, dass derartige Bildungsanstrengungen keinesfalls nur eine Einbahnstraße sind, sondern auch wertvolle, neue Einblicke in die Potenziale moderner Lehr- und Lernformen geben. 

Akteure wie beispielsweise InZone, eine von Barbara Moser-Mercer an der Universität Genf gegründete Initiative, oder das globale Netzwerk Borderless Higher Education for Refugees (BHER) haben ganz klar ein Ziel vor Augen: Die Bildungsanstrengungen in den Camps sollen zertifiziert und international anerkannt werden. Beide Initiativen erproben und erforschen, welche MOOCs, welche Angebote für Blended- und Connected Learning, welche digitalen Kommunikationsmedien oder Prüfungsszenarien für Menschen sinnvoll sind, die aus Kriegsgebieten kommen, teils traumatisiert sind, in Camps leben müssen und nicht wissen, was das Morgen bringt.

Das BHER-Konsortium entstand, weil zwei Professoren dringend Handlungsbedarf sahen: Wenona Giles und Don Dippo von der York University in Toronto. Ihre Initiative konzentriert sich seit 2014 auf das Flüchtlingscamp Dadaab in Kenia, nicht weit von der Grenze zu Somalia entfernt. Mittlerweile unterrichten Lehrkräfte und Graduate-Studierende der York University, der kanadischen University of British Columbia wie auch der Kenyatta University in Nairobi und der kenianischen Moi University Dadaab-Flüchtlinge. Ausprobiert wird beispielsweise eine Kombination aus drei Monaten intensivem Präsenzunterricht und neun Monaten Onlineunterricht. Mit ersten Erfolgen: 123 Dadaab-Studierende erlangten bereits das „Certificate in Educational Studies“ der York University, obwohl sie kein einziges Mal in Kanada waren. Viele von ihnen streben im nächsten Schritt das „Diploma in Teacher Education – Primary“ an der Kenyatta University an – wieder über die Studienangebote von BHER. 

Wenig Interesse in der westlichen Welt

Barbara Moser-Mercer
Barbara Moser-Mercer (Foto: Martin Magunia)
InZone-Direktorin Barbara Moser-Mercer

Doch den Pionieren geht es nicht darum, einer gewissen Anzahl an Flüchtlingen, vielleicht nur den talentiertesten, Hochschulabschlüsse zu ermöglichen, während diejenigen, die den Kurs nicht schaffen, hinten runterfallen. Einen solchen Ansatz dürfe man sich nicht leisten in einem Kontext, in dem das humanitäre Völkerrecht gelte, erklärte Barbara Moser-Mercer, Direktorin von InZone, vor einigen Monaten in Bonn während eines Streitgesprächs, zu dem das Hochschulforum Digitalisierung (HFD) geladen hatte. Eine Regel sei: Do no harm! Deshalb sei das Ziel von InZone auch, möglichst allen Teilnehmern einen Abschluss zu ermöglichen, nicht bloß 10 Prozent. Viele offene, digitale Lernangebote der westlichen Welt, wie MOOCs, haben hohe Abbruchquoten.

Solche offenen Lehr- und Lernformate auf den Kontext von Bewohnern von Flüchtlingscamps in Kenia, im Nahen Osten oder anderswo zu übertragen, ist in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung: Sie müssen kulturell angemessen sein, linguistisch, aber auch im Sinne eines humanistischen Hilfsangebots funktionieren, wo Konkurrenzsituationen kontraproduktiv sind und gerade kooperatives Lernen gebraucht wird. Die Inhalte sollten für die Menschen wirklich relevant sein und möglichst von ihnen mitentwickelt werden. Denn explizit höhere Bildung ist eine Chance, den Menschen in Flüchtlingscamps das Vertrauen zurückzugeben, dass jeder Mensch zählt, geachtet werden muss und gewaltfreie Konfliktlösungen möglich sind.

In Bonn, während des Streitgesprächs, kritisierte Barbara Moser-Mercer, dass es bisher wenig Interesse gebe in der westlichen Welt, diese Aspekte bei der Entwicklung freier Lehr- und Lernmaterialien mitzudenken. Hierfür würde sie gerne eine Lanze brechen: „Es gibt sehr viele gute OER, aber die Anpassung, die vorgenommen werden muss für den humanitären Kontext, ist enorm.“ Sie spricht aus Erfahrung.

InZone entwickelt in den kenianischen Flüchtlingscamps Dahaab und Kakuma seit einiger Zeit ein Modell für Hochschulbildung, das humanitäre Kriterien und Prinzipien respektiert. Barbara Moser-Mercer und ihr Team setzen dabei auf spezielle Lernorte in den Camps, die sogenanntes Connected Learning möglich machen. Es geht darum, nicht nur Wissen zu unterrichten, sondern ebenso kritisches Denken zu fördern, den intellektuellen Austausch, Teamfähigkeit, Problemlösefähigkeit.

Modelle, wie man Menschen unter schwierigsten Bedingungen all das erfolgreich beibringen kann, noch dazu auf OER und digitale Medien gestützt, sind ein großer Gewinn für die globale Lerngemeinschaft – denn diese Modelle müssen ja nicht zwangsläufig nur im Entwicklungshilfekontext angewandt werden.

Es gibt sehr viele gute OER. Aber die Anpassung für den humanitären Kontext ist enorm.

Barbara Moser-Mercer, InZone

Von Deutschland aus realisieren vor allem der DAAD und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) etliche Projekte für höhere Bildung in Krisenregionen, wobei sich vieles auf den Wiederaufbau von Hochschulstrukturen in früheren Kriegsgebieten wie Afghanistan konzentriert: Aufbau von IT-Infrastruktur, von Fakultäten oder Studiengängen. Eingebunden sind hierbei oft auch sehr engagierte Hochschulmitarbeiter und Lehrkräfte. 

Neue Wege geht das deutsche Social Start-up Kiron Open Higher Education, das systematisch alle Barrieren aus dem Weg räumt, die Flüchtlingen den Weg zum Studium verbauen. Das Start-up bietet Hochschulen, die mit der Bildungsplattform zusammen arbeiten wollen, einen Komplettservice für die Aufnahme von Flüchtlingen an: Kiron übernimmt Serviceleistungen, Qualitätsleistungen, passt das Curriculum an und fördert die Studierendenzielgruppe so, dass sie beim Transfer an die Hochschule auch qualifiziert genug ist. 20 deutsche Hochschulen arbeiten bereits mit Kiron zusammen, darunter die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen (RWTH Aachen) und die Leuphana Universität Lüneburg.

Da es vielerorts kaum Studienplätze für Flüchtlinge gibt und oft auch Studiengebühren anfallen, hält Kiron über ein vorgelagertes modernes Onlinestudium mit Einsatz von weltweit produzierten MOOCs, Sprachunterricht, Tutoring und Mentoring die Präsenzzeiten an Hochschulen gering. Das Konzept geht auf: 50.000 Menschen will Kiron langfristig ein Studium ermöglichen, rund 2.000 Studierende haben bereits Zugang zu den Kursen auf der Studienplattform. Etwa die Hälfte davon sind Syrer.

Wie offen sind deutsche Hochschulen für Kiron und das Flüchtlingsthema? „Sehr offen“, sagt Vincent Zimmer. Auch jetzt, wo der Hype nach der großen Flüchtlingswelle vorbei sei und das mediale Interesse abnehme, bleibe das Interesse groß, weil die Hochschulen von diesem Thema überzeugt seien und weil es in ihre Strategie passe.

In Amman vergeben Carsten Walbiner und sein Team HOPES-Stipendien nicht nur an syrische Flüchtlinge, sondern auch an hilfebedürftige Studierende aus den Gastländern Jordanien, Libanon, Ägypten und Irak, damit keine zusätzlichen Konkurrenzprobleme entstehen. Die Flüchtlingswellen aus Syrien seien für diese Länder eine wirkliche Bürde, so der DAAD-Mitarbeiter; im Libanon beispielsweise kämen auf rund vier Millionen Einwohner zwei Millionen Flüchtlinge. Der Zudrang von Flüchtlingen an die Hochschulen der Aufnahmeländer im Nahen Osten sei enorm. „Die Regierungen und Universitäten haben sehr viel getan, auch einzelne Professoren, die beispielsweise selbst Spendenfonds aufgebaut haben, damit Flüchtlinge die Studiengebühren zahlen können.“ Walbiner hält Stipendien für wichtig, plädiert aber für viel mehr ausländische Finanzhilfen für die Universitäten der Gastländer: „Die sowieso schon teilweise sehr maroden universitären Strukturen laufen durch die zusätzlichen Studentenzahlen jetzt Gefahr, weiter erodiert zu werden.“

Auch Partnerschaften mit deutschen Hochschulen seien sicher sinnvoll, wenn man bedenke, dass die Hochschulen im Nahen Osten schon am Rande ihre Kapazitäten sind und zusätzliche Anstrengungen kaum bewältigen können. Digitale Lehre beispielsweise sei zudem noch völlig unüblich und werde bislang auch kaum anerkannt, womit auch Kiron zu kämpfen habe.

Könnten geflüchtete syrische Lehrkräfte helfen? Diese stärker in den Blick zu nehmen, einen Pool an syrischen Lehrern und Professoren aufzubauen, beispielsweise in Deutschland, und mit ihnen digitale Hochschulangebote zu produzieren, die dann in Kriegsgebieten oder in Hochschulen im Nahen Osten genutzt werden könnten, flankiert von Vorlesungen oder Tutoring über digitale Medien, sei sicher eine gute Idee, glaubt Carsten Walbiner. In diese Richtung geht bereits das Jamiya Project, das syrische Akademiker und europäische Hochschulen vernetzt.