Illustration: Irene Sackmann

Ist die Forschungsfreiheit in Gefahr?

Und wenn ja, wie lässt sie sich retten? Ein Überblick über eine Entwicklung, die unsere Gesellschaft grundlegend verändern könnte.

Es ist nichts Geringeres als die Luft, die er atmet. So beschreibt der Biopsychologe Onur Güntürkün, was Forschungsfreiheit für ihn bedeutet. „Sie gibt mir die fantastische Möglichkeit zu erforschen, was mich interessiert. Und sie stellt sicher, dass die Wissenschaft extrem flexibel und vielseitig bleibt“, sagt Güntürkün, der an der Ruhr-Universität in Bochum lehrt, und nach einer Pause fügt er hinzu: „Deshalb ist es auch extrem wichtig, dass sie genau so erhalten bleibt und nicht eingeschränkt wird.“

Doch wenn Güntürkün seinen Kollegen zuhört, hat er manchmal das Gefühl, dass die Forschungsfreiheit in vielen Ländern längst ihre beste Zeit hinter sich hat. Dass er mit seinem ausreichend finanzierten Institut in Deutschland alleine auf einer Insel der Seligen ist. Auch die allermeisten Wissenschaftler und Forscher hierzulande beklagen schon seit Längerem, dass sie ihre Forschungsfreiheit kaum mehr richtig ausüben können. Wenig Geld, viel Zeit für die Verwaltung – von der vor allem in Deutschland einst hochgehaltenen Freiheit der Forschung bleibe nicht mehr viel übrig, beschweren sich die Professoren.

Unterdrückte Forschung I: Der sich mit Stalin anlegte

Illustration: Irene Sackmann
Nikolai Kolzow

Nikolai Kolzow (1872–1940), ein russischer Genetiker, leistete Widerstand gegen etwas, was seine wissenschaftliche Logik rundum ablehnte, in der stalinistischen Sowjetunion jedoch als Leitwissenschaft vorgegeben wurde: der sogenannte Lyssenkoismus. Das ist eine pseudowissenschaftliche Theorie, nach der die Eigenschaften von Organismen nicht durch die Gene, sondern durch die Umweltbedingungen bestimmt wurden. Kolzow ignorierte die Vorgaben von oben und hielt es weiter mit Darwin. Dafür wurde er schließlich vom Regime vergiftet.

Gesetzlich garantierte Freiheit

Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.
Illustration: Irene Sackmann

Grundgesetz, Art. 5, Abs. 3

Dabei ist die Forschungsfreiheit auf den ersten Blick noch so stark wie schon 1949. Damals wurde sie ins Grundgesetz verankert, dort heißt es bis heute in Artikel 5, Absatz 3: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Ohne diesen Satz, der unter anderem den Professoren an den deutschen Hochschulen die Freiheit der Forschung gesetzlich garantiert, stünde die Bundesrepublik vielleicht in der Qualität ihrer Wissenschaft, aber auch in ihrem Wohlstand und in ihrer Stabilität als demokratische Gesellschaft nicht dort, wo sie heute steht.

Denn Forschungsfreiheit ermögliche einen besonders ausgeprägten Erkenntnisgewinn, sagt Torsten Wilholt, Philosophieprofessor an der Leibniz Universität Hannover. Das liege vor allem daran, dass sich durch sie zwei für die Wissenschaft entscheidende Ressourcen entfalten lassen. Einerseits die Kreativität: Wer die Freiheit hat, seinen eigenen Neigungen und seiner Neugier zu folgen, werde eher kreativ sein, so Wilholt. Andererseits lokales Wissen. So bezeichnet Wilholt das Wissen, das Forschende über die jeweils eigenen Voraussetzungen haben – und darüber, wie diese Voraussetzungen in einer gegebenen Situation am gewinnbringendsten in wissenschaftlichen Fortschritt verwandelt werden können. Nun besitzt dank Forschungsfreiheit jeder Experte eine Art Mikroautonomie, das heißt, er kann selbstständig methodische Entscheidungen treffen und Korrekturen durchführen in dem Feld, in dem er sich ohnehin am besten auskennt.

In der Summe bedeutet das: Ausgerechnet diejenige Forschung, die nicht zentral gesteuert, sondern den Forschern selbst überlassen ist, bringt den meisten Erkenntnisgewinn. Und den sollte jede Gesellschaft, die Wissenschaft als Gemeinschaftsunternehmen sieht, auch anstreben, sagt Wilholt.

Unterdrückte Forschung II: Ein Buch, das Ungeheuerliches behauptet

Illustration: Irene Sackmann

Julien Offray de La Mettrie (1709–1751), französischer Arzt und Philosoph, wurde bekannt durch sein Werk „Der Mensch als Maschine“. Darin beschreibt er den Menschen als einen Mechanismus, der sich selbst steuert – ohne Hilfe der Seele. Eine derartige Behauptung war damals – die Aufklärung war noch in zarter erster Blüte – ungeheuerlich. De La Mettrie musste fliehen und ging zu Friedrich dem Großen. Dort lebte er unter dem Schutz des preußischen Königs – im Rest Europas war er wegen seiner Veröffentlichungen nicht mehr gern gesehen –, bis er im Alter von 41 Jahren verstarb.

Es gibt abseits der Erkenntnismaximierung noch eine andere Rechtfertigung für die Forschungsfreiheit, eine politische. „Damit das gesammelte Wissen und die daraus resultierenden Einsichten den Bürgern als Grundlage ihrer politischen Überlegungen und Debatten etwas taugen, muss Wissenschaft in einer Demokratie frei und unbeeinflusst sein“, sagt Wilholt. Das heißt, vor allem vonseiten der Politik dürfe es keine Vorgaben oder gar Einmischung geben. Nur dann, wenn alles Wissen für alle zugänglich sei, könne jeder Bürger sich ein eigenes Bild von der Realität machen – und erst so seine Rolle als Teil einer Demokratie vollständig ausfüllen.

Doch trotz aller Bedeutsamkeit der Forschungsfreiheit hat sie natürlich auch Grenzen. „Wir wollen schließlich keinen Fortschritt um jeden Preis“, sagt Wilholt. Versuche am Menschen ohne Zustimmung der Probanden lassen sich beispielsweise nicht durch Verweis auf die Forschungsfreiheit rechtfertigen. Wenn sie im Widerspruch zu anderen Grundrechten stehe, stoße sie rasch an Grenzen.

Die Frage ist nur, wann das der Fall ist. „Wenn der Gesetzgeber Frühembryonen einen besonderen moralischen Status einräumt, dann lassen sich damit prinzipiell auch gesetzliche Einschränkungen der Forschung rechtfertigen. Die wichtigen Funktionen der Forschungsfreiheit zeigen aber, dass jede solche Einschränkung sehr, sehr genau erwogen und begründet sein will“, sagt Wilholt. 

Forschung um jeden Preis?

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Stammzellenforschung, Fracking, Tierversuche – wo liegen die Grenzen der Forschungsfreiheit? Lesen Sie hierzu ein Interview mit der Leiterin des Umweltbundesamtes Maria Krautzberger zum Thema Fracking: „Ein lernendes Gesetz“

Schleichende Unterminierung?

Illustration: Irene Sackmann

Die Probleme liegen weniger bei bestimmten direkten Eingriffen in die Forschungsfreiheit, wie es im Falle der Forschung mit Embryonen oder der umstrittenen Rüstungsforschung an Universitäten diskutiert wird. Das Problem ist laut Wilholt vielmehr eine schleichende Unterminierung der Forschungsfreiheit. Darunter fällt immer mehr zweckgebundene Forschungsförderung, Drittmittel also: Der Professor bekommt nur dann Geld, wenn er es auch für bestimmte Projekte einsetzt. „An sich hat niemand etwas gegen Drittmittel. Das Problem ist allerdings die Abwesenheit der anderen Mittel“, sagt Wilholt. Damit meint er die immer schlanker werdende finanzielle und personelle Ausstattung der Professuren. Das Geld für die Forschung müssen die Professoren in aufwendig anzufertigenden Forschungsanträgen einwerben, von denen nur ein kleiner Teil bewilligt wird. Ein weiterer Teil der Zeit für die hochgelobte freie Forschung muss für die Begutachtung der Anträge anderer Professoren aufgewendet werden. Am Ende ist häufig lediglich ein Drittmittelantrag bei der Privatwirtschaft erfolgreich, zweckgebunden. Forschungsfreiheit ade. 

Unterdrückte Forschung III: „Und sie bewegt sich doch“

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Galileo Galilei

Galileo Galilei (1564–1642), italienischer Mathematiker, Philosoph, Physiker und Astronom, veröffentlichte 1624 seinen „Dialog über die zwei Weltsysteme“, in dem er zur Diskussion stellte, dass sich womöglich nicht alles um die Erde drehte, sondern sich die Erde – wie alle anderen Planeten – um die Sonne drehte. Daraufhin wurde ihm von der Inquisition der Prozess gemacht. Nachdem er unter Drohung mit dem Scheiterhaufen seinen „Fehlern“ abgeschworen hatte, kam er mit lebenslanger Kerkerhaft davon. Innerlich soll er seine Überzeugung, dass die Erde sich um die Sonne dreht, nie aufgegeben haben. Noch beim Verlassen das Anklagesaals, so heißt es, soll Galilei gemurmelt haben: „Und sie bewegt sich doch.“

Und doch gibt es sie noch, die Forscher, die sich nicht beklagen, sondern zufrieden sind. Darunter der Biopsychologe Güntürkün. Für ihn sind Forschungsanträge ein sinnvolles und faires Verfahren: „Geld fällt eben nicht vom Himmel, sondern ist knapp. Deshalb muss jeder seine Vorhaben den anonymen Kollegen vorlegen, um sicherzustellen, dass die Forschung relevant ist“, sagt Güntürkün. Natürlich schätzt er sich in diesem Zusammenhang auch glücklich, dass er Sekretärinnen und eine Koordinatorin hat, die ihm einen Großteil der sonstigen Verwaltungslast abnehmen.

Zufriedene Professoren wie Güntürkün sind allerdings selten geworden. Viele müssen heute bereits ganz ohne Assistenzen und Sekretäre auskommen. Von allen Seiten werden die finanziellen Zwänge so immer größer. Das kann letztlich dazu führen, dass der einzelne Wissenschaftler die Forschungsfreiheit zurückstellt: Wichtig ist ihm weniger, was er erforschen will, sondern vielmehr, in welchen Projekten er Gelder bekommt und dass er in renommierten Fachzeitschriften publizieren kann – was wiederum den Zugang zu weiteren Finanzmitteln erleichtert.

Das Problem dieser schleichenden Unterminierung: In kaum einem Landeshochschulgesetz ist festgelegt, wie viel eine Professur an Etat bekommt. Und im Grundgesetz ist die Forschungsfreiheit so grundsätzlich verankert, dass ihre Erosion durch Bedingungen und Einschnitte im Detail nicht verhindert werden kann. Doch ebenso wie manche ethischen Grenzen durch den wissenschaftlichen Fortschritt immer neu gezogen werden müssen, so erörtert die Wissenschaftsgemeinde – teilweise sehr hitzig – langsam auch Untergrenzen der Finanzierung und andere Beschneidungen. Die Diskussion um die Forschungsfreiheit – und damit ein Stück weit auch um die Zukunft der Gesellschaft und des Landes – hat gerade erst begonnen.

Unterdrückte Forschung IV: Der das Argumentieren nicht einstellen wollte

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Sokrates (469–399 vor Christus), griechischer Philosoph, wurde wegen Gottlosigkeit angeklagt, weil er immer wieder alles infrage stellte und laut Gericht die Jugend verdarb. Im öffentlichen Verfahren, in dem es um sein Leben ging, verhielt er sich genau so, wie er es in den Jahren zuvor als Bürger Athens getan hatte: Er untersuchte, fragte nach und nahm Behauptungen mit seiner scharfen Logik auseinander. Als er sich weigerte, sein Philosophieren in Zukunft einzustellen, wurde er schließlich zum Tode verurteilt und musste den berühmten Schierlingsbecher trinken.