Illustration: Irene Sackmann
Illustration: Irene Sackmann

„Wir müssen mehr als nur Wissen vermitteln“

Der Bremer Professor Georg Müller-Christ erforscht, wie sich nachhaltige Entwicklung in Unternehmen bringen lässt. Im MERTON-Interview erzählt er, welche Kompetenzen Nachwuchskräfte dafür brauchen – und wie man bereits Studierende auf die unvermeidlichen Konflikte einer ökologischen Transformation vorbereiten kann.

Herr Müller-Christ, wir leben in einem Zeitalter multipler Krisen: Rohstoffe scheinen immer knapper zu werden, Gas ist zur Mangelware für die deutsche Industrie geworden, Lieferketten reißen wegen Ressourcenmangels. Gleichzeitig brauchen wir wirtschaftliches Wachstum, um unseren Wohlstand erhalten zu können. Wie geht das zusammen?
Wir gehen jetzt in die nächste Entwicklungsphase, in der es darum geht, dass wir in 20, 30 Jahren weitgehend von nachwachsenden Rohstoffen leben müssen. Das Gute daran: Wir haben das Wissen, das Potenzial und auch das Geld, um eine weitgehende Kreislaufwirtschaft aufzubauen. Das bedeutet aber auch, dass sich ganz viele Produkte ändern müssen. Das bringt Dilemmata mit sich, die auch auf unsere künftigen Absolventinnen und Absolventen zukommen: Die Führungskräfte in den Unternehmen von morgen werden permanent unvereinbare Dinge schaffen müssen. Zum Beispiel, auf den Märkten erfolgreich sein – und zugleich weniger Ressourcen verbrauchen.

Welche Fähigkeiten braucht man dafür? Was sollten bei Ihnen ausgebildete Nachwuchskräfte in die Unternehmen bringen?
Es ist mehr ein Denken, in einem Sowohl-als-auch – das ist der echte mindshift, der meiner Meinung nach jetzt ansteht. Wir sind sehr stark in einer Entweder-oder-Denkhaltung erzogen: So sind alle unsere Systeme ausgerichtet. Doch jetzt lernen wir, dass es in vielen Bereichen ein Sowohl-als-auch gibt. Um diese komplexere Welt zu bewältigen, braucht man sogenannte Future Skills. Die vielleicht wichtigste Fähigkeit, um Komplexität zu ertragen, ist aber das, was ich „Dilemma-Kompetenz“ nenne. Das Problem dabei: Die meisten Menschen können Dilemmata nicht aushalten. Wenn man das ernst nimmt, müsste man sagen: Wir geben euch die Gelegenheit, euch in bestimmten Situationen auszuprobieren und zu schauen: Kann ich das? Das ist mehr als Wissensvermittlung. Und darauf sind wir als Hochschule ganz schlecht vorbereitet ...

Zur Person

Georg Müller-Christ (Foto: privat)
Georg Müller-Christ (Foto: privat)

Georg Müller-Christ ist Professor für Nachhaltiges Management an der Universität Bremen und hat den Stifterverband bei der Entwicklung des Programms Transformative Skills unterstützt. Das Ziel: An der Schnittstelle zwischen Unternehmen und Hochschulen vernetzen und vermitteln, um auf den Bedarf an Zukunftskompetenzen zu reagieren – mit einem Fokus auf Nachhaltigkeit. 

Lassen sich solche Kompetenzen an einer Hochschule überhaupt vermitteln? Und wenn ja, wie?
Wenn junge Menschen diese Komplexität von heute und morgen gestalten wollen, müssen sie ausgesprochen robuste, stabile Persönlichkeiten sein. Da geht es – zusätzlich zum Fachwissen – um Leadership-Qualifikationen, etwa die Frage: Inwieweit kennt der Mensch sich selbst gut, um den äußeren Umständen standzuhalten und in ihnen agieren zu können? Da geht es darum, widersprüchliche Perspektiven zu verstehen, konflikt-, aber auch dialogfähig zu sein. Persönlichkeitsentwicklung ist hier gefragt. Was für Hochschulen noch relativ fremd ist, denn bisher haben sie Tools, Theorien und Wissen vermittelt.

Bisher? Spielen denn die Vermittlung von Fachwissen und wissenschaftliches Arbeiten nun bei Ihnen im Studium nicht mehr die zentrale Rolle?
Es geht hier um ein Sowohl-als-auch. Als Betriebswirtschaftler brauche ich solides Grundlagenwissen. Ich muss bestimmte mathematische Fähigkeiten haben, etwa Controllingsysteme verstehen können, im Sinne von: Ich beherrsche mein Fach. Doch zusätzlich zum Fachwissen soll nun immer mehr fachübergreifendes Wissen gelehrt werden. Das Problem ist nur: Man kann und darf Studierenden nur eine bestimmte Menge an Stoff zumuten. Wann immer ich den Kanon mit einem neuen Thema bestücke, muss ich also ein altes streichen. Und das fällt uns als „System Hochschule“ total schwer, zu sagen: Wir nehmen ein Thema raus, das hat nun keine Bedeutung mehr, damit wir „Nachhaltigkeit“ neu aufnehmen können. Auf diese Art von Bedeutungsumverteilung sind wir als Institution überhaupt nicht eingerichtet.

Ein Denken hin zu einem Sowohl-als-auch – das ist der echte mindshift, der meiner Meinung nach jetzt ansteht. Weg von der Entweder-oder-Denkhaltung, in der wir erzogen wurden.
Georg Müller-Christ (Foto: privat)
Georg Müller-Christ (Foto: privat)

Georg Müller-Christ

Was bedeutet das denn: Bedeutungsumverteilung?
Bis zu einem bestimmten Maß an Komplexität waren die jungen Leute gut ausgerüstet, wenn sie Analyse-Tools, Werkzeuge, Theorien kannten. Das war weitgehend ein Wirken im Außen. Was wir heute aber feststellen – nicht nur in Hochschulen, sondern auch in Unternehmen: Dieser nächste Schritt an Komplexitätsbewältigung braucht den Blick nach innen. Das heißt: Ich muss mich als Mensch sehr viel besser kennen, um mit dieser Komplexität da draußen umzugehen, das heißt: Jetzt aber müssten wir an die Person herangehen. Aber: Dürfen wir das? Und wie macht man das überhaupt?

Und? Wie macht man das?
Indem die Lehrenden als Menschen auftreten – und nicht nur als Wissensträger, als Vorlesende. Wenn man ernst nimmt, dass es neue, andere Skills und Kompetenzen braucht, dann muss man Studierenden die Gelegenheit geben, sich in bestimmten Situationen auszuprobieren. So lese ich mir nicht nur etwas an, sondern erfahre etwas.  

Sie nutzen dazu das Instrument der systemischen Aufstellungen, das man eigentlich aus der Familientherapie kennt. Was hat es damit auf sich?
Aufstellungen, bei denen Personen stellvertretend Probleme oder Konflikte repräsentieren, geben mir die Möglichkeit, mir sehr viel komplexere, systemische Bilder von der Realität zuzulegen: Bei denen ich nicht davon ausgehe, dass ich die Möglichkeit habe, direkt in irgendwas zu intervenieren oder eine Wirkung hervorzurufen. Intuition spielt bei diesem Ansatz zur Komplexitätsbewältigung eine wichtige Rolle. Sie hilft, die Frage nach dem Wozu zu beantworten: Die Frage nach dem Sinn des Ganzen, die sich zunehmend stellt. In die Wirtschaftssysteme ist nur Fülle und Marktbefriedigung eingebaut, aber nicht Sinn. Und da ein „Weiter wie bisher“ nicht mehr funktioniert, müssen wir fragen: Was ist denn sinnvoll? Und auf dieser Basis neue Entscheidungen treffen.

Wie kommt das bei Ihren Studierenden an? BWL gilt bei vielen als ein Fach, das Themen wie Nachhaltigkeit, transformative Skills oder neuen Methoden keine hohe Priorität einräumt.
Nach meinen Beobachtungen kann man heute gar nicht mehr so genau sagen: Das ist ein typischer BWLer und der steht für dieses und jenes. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass überall junge Menschen aufwachen und neue Fragen, andere Fragen stellen, unabhängig vom Fach – und die Hochschule auch deutlich in Richtung Nachhaltigkeit schieben können.

Eine oft als schwerfällig wahrgenommene Institution in Bewegung zu bringen, den „Tanker“ Hochschule nachhaltig zu positionieren: Keine leichte Aufgabe, oder?
Querschnittsthemen, also Themen, die alle Bereiche berühren, die haben es immer unglaublich schwer: Sei es an der Uni, sei es in Unternehmen. Mit Themen wie Nachhaltigkeit produzieren Sie permanent Zusammenstöße in solchen Institutionen. Die Hochschulen etwa sind alle disziplinär ausgerichtet, die Forschung in die Tiefe gehend. Sie müssten aber interdisziplinär, übergreifend forschen. Dafür aber fehlen die dauerhaften Strukturen – und die Anreize. Speziell Forschung für nachhaltige Entwicklung ist immer fachübergreifende Forschung, und die wird weitgehend initiiert durch Fördermittel des Bundes. Um die wird hoch kompetitiv gerungen. Die Chancen, leer auszugehen, sind hoch. Deshalb werden dann Bereiche als Nachhaltigkeitsforschung definiert, die ohnehin da sind. So entsteht wenig Neues.

Wird Nachhaltigkeit denn in der Lehre angemessen adressiert?
Was die Lehre angeht, ist man meiner Ansicht nach kaum weitergekommen. Wenn man das Ziel ausgibt: Es gibt etwa drei Millionen Studierende und jeder oder jede sollte wenigstens einmal eine Nachhaltigkeitsveranstaltung besucht haben ... Davon sind wir meilenweit entfernt.

Gibt es Hochschulen, die dabei Vorreiter sind?
Am weitesten ist da die Leuphana Universität Lüneburg, die ja sogar eine eigene Nachhaltigkeitsfakultät hat. Hier wird das Thema Nachhaltigkeit über die Pflichtveranstaltung „Wissenschaft in Verantwortung“ vermittelt, die jeder Erstsemester besuchen muss. Ansonsten scheitern die meisten Hochschulen daran, dass es weder Strukturen für die Entwicklung von Nachhaltigkeit gibt noch Personen, die das vorantreiben.

Um solche Strukturen zu schaffen, haben Sie die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltigkeit an Hochschulen (DG HochN) gegründet. Auch eine Kooperation mit dem Stifterverband im Programm „Transformative Skills für Nachhaltigkeit“ ist geplant. Welche Ziele verfolgen Sie mit diesem Engagement?
Bei DG HochN verstehen wir uns als einer Art Kontaktbühne, auf der die Menschen zusammenkommen können, um über das Nachhaltigkeitsthema zu reden, und auf der man auch unterschiedliche Sichtweisen erfährt. Eigentlich sind wir so etwas wie eine nachhaltige Tankstelle für Menschen, die sich Energie von Gleichgesinnten holen können, um dann vor Ort weiterzuarbeiten.

KOMPETENZEN FÜR NACHHALTIGKEIT

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Der Stifterverband begleitet die Transformation in Wirtschaft und Wissenschaft und trägt dazu bei, dass Hochschulen und Unternehmen nachhaltiger agieren und die dazu notwendigen Kompetenzen frühzeitig an junge Menschen vermittelt werden. Wie er dabei agiert und welche Schwerpunkte er setzt, lesen Sie hier