Illustration: iStock/ Sven Sedivy
Illustration: iStock/ Sven Sedivy

Ulrich Dirnagl: Der Meta-Forscher

Der renommierte Mediziner Ulrich Dirnagl kritisiert seine eigene Zunft, diagnostiziert übertriebenes Storyproducing und Effizienzprobleme. Seine Forschungen zur Forschung sind überaus relevant: gerade in Pandemie-Zeiten brauchen wir eine Medizin, die sich nicht so sehr aufs Ankündigen verlegt und auch bereit ist, zu Fehlschlägen zu stehen.

Wenn es nach Ulrich Dirnagl ginge, müsste vor allem die Biomedizin eine Wurzelbehandlung bekommen, weil dort vieles nicht rund läuft. Davon kann der Mediziner stundenlang erzählen. Seit 1999 leitet Dirnagl an der Charité Berlin die Klinik für experimentelle Neurologie. Mittlerweile reicht sein Blick aber weit über die klinische Biomedizin hinaus: Das Forschungssystem sei teils erschreckend uneffektiv, sagt er im Durchfechter-Podcast, in allen möglichen Themenfeldern und nicht nur in Deutschland.

Tatsachen, an denen Ulrich Dirnagl lange nagte, denn er merkte selbst, wie schleppend seine Grundlagenforschung über Jahrzehnte hinweg vorankam: „Mir war aufgefallen, dass es in der internationalen Schlaganfallforschung überall so ist: Alle kündigen an, dass sie etwas entdeckt haben, zum Beispiel tolle Effekte in einem Modell gefunden haben.“ Am Ende komme davon aber sehr wenig bei den Patienten an. „Wir können Schlaganfallpatienten gut behandeln, da hat sich in letzter Zeit sehr viel getan. Aber das kommt nicht aus der Grundlagenforschung“, bemerkt Dirnagl. Als er genauer hinschaute, erkannte er dieses Phänomen auch in anderen wichtigen Forschungsfeldern, wie der Krebs- oder Alzheimerforschung.

Hören Sie hier die ganze Folge mit Ulrich Dirnagl:

Dirnagl ging auf die Suche: Gibt es Faktoren, die man abstellen kann, wo sich die Wissenschaftler selbst im Weg stehen? Seit einigen Jahren betreibt er Meta-Forschung am Berlin Institute of Health (BIH) – forscht also über Forschung. 

Im Durchfechter (siehe Infokasten rechts) berichtet er von zwei wichtigen Erkenntnissen: Wissenschaftler lassen die Resultate ihrer Arbeit viel zu oft in der Schublade – immer gerne dann, wenn diese Studien „negative“ Ergebnisse gebracht haben – also nicht die Erkenntnisse, die man sich im Vorfeld erhofft hatte. Parallel neigen nicht wenige Wissenschaftler dazu, ihre Forschungsergebnisse aufzubauschen, damit sie spektakulärer wirken, als sie sind. Was Ulrich Dirnagl diesbezüglich besonders beunruhigt: Dieses Storytelling gleite mittlerweile schon in eine Art Storyproducing ab, wo man nur noch Dinge erforsche, die sich am Ende gut und spektakulär erzählen ließen.

Dirnagl untersucht seit Jahren, warum derartige Praktiken so gängig sind. Er ist überzeugt, dass in der Biomedizin das alte, eingeschliffene Anreiz- und Belohnungssystem viele der Fehlentwicklungen begünstigt, wenn nicht verursacht, wie etwa die Kriterien, die über die Karriere, den nächsten DFG-Förderantrag oder die Publikation in einem renommierten Wissenschaftsmagazin entscheiden. 

Illustration: Sven Sedivy

Beim Durchfechter-Podcast kommen ungewöhnliche Menschen zu Wort, die Bedeutendes gewagt haben: kühne Forscher, innovative Lehrer oder Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen. Alle Folgen in der Übersicht finden Sie auf der Podcast-Homepage. Oder aber Sie abonnieren den Podcast direkt auf Ihrem Smartphone oder Tablet in der Podcast-App Ihrer Wahl. Durchfechter ist in allen wichtigen Podcast-Verzeichnissen gelistet, unter anderen bei Apple Podcasts oder bei Spotify. So verpassen Sie keine Folge des Durchfechter. 

Spektakuläre Forschungsergebnisse in hochrangigen Wissenschaftsmagazinen sind oft aufgeblasen und häufig nicht reproduzierbar.
Ulrich Dirnagl (Foto:Peter Himsel)

Ulrich Dirnagl

Schlaganfallforscher

Doch Dirnagl wäre nicht er selbst, wenn er es dabei beließe. Er steckt viel Energie in die Entwicklung von Lösungen, die Fehlentwicklungen korrigieren oder zumindest abmildern können. Hierbei schlägt sein Herz vor allem für Offenheit, Transparenz und kollaboratives Arbeiten in der Wissenschaft.

Zum Glück ist Ulrich Dirnagl nicht nur ein Forscher, sondern ebenso ein Macher, Praktiker. Mit seinem Team probiert er viele kleine Korrekturstrategien an der Charité und am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin aus. Hierfür gründete er 2017 das BIH QUEST Center for Transforming Biomedical Research. 

Oft sind es die kleinen Stellschrauben, die am Ende viel bewirken können. Das elektronische Laborbuch ist so ein Beispiel, das die QUEST-Mitarbeiter überall dort installieren, wo Wissenschaftler sich überwinden können, ihre alten Kladden einzumotten. Ein riesiger Schritt in die richtige Richtung, glaubt Dirnagl: „Man muss sich mal überlegen: Mediziner arbeiten seit Humboldt mit solchen handgeschriebenen Kladden. Natürlich haben sie sich bewährt, sonst würde man das ja nicht tun.“ Jetzt werde die Arbeit damit aber ziemlich mühsam: „Da schreibt der Wissenschaftler dann rein: Die Daten befinden sich auf dem Server XY unter dem Link sowieso – das ist längst nicht mehr zeitgemäß“, so Dirnagl.

Über die Jahre hat der Open-Science-Pionier ein gutes Gespür für alle möglichen Widerstände entwickelt, die vielerorts moderne Ansätze und Tools abblocken. Er lässt sich davon aber nicht beirren und bleibt beharrlich bei der Sache, diese Stück für Stück aufzuweichen. 

Ein Löchlein im ganz dicken Brett

Ulrich Dirnagl (Foto:Peter Himsel)
Wissenschaftskritiker Dirnagl: „Unser Wissenschaftssystem könnte weitaus effektiver sein.“

Selbst die Gefahr, dass Wissenschaftsskeptiker womöglich seine konstruktive Kritik am Wissenschaftssystem für eigene Interessen benutzen könnten, bereitet dem Forscher keine schlaflosen Nächte: „Sollen wir jetzt unter der Decke bleiben und uns gegenseitig zu tuscheln, was wir da finden? Das kann es nicht sein!“ Aus seiner Sicht gehe es darum, zu kommunizieren, wie Wissenschaft funktioniert: „Die Skepsis gehört da dazu und ganz bestimmt auch das Akzeptieren von vorhandener Evidenz.“ Wer schon einmal mit Wissenschaftsskeptikern zu tun gehabt habe, wisse, dass deren Argumentation eine evidenzfreie Zone – und damit sehr weit entfernt von der konstruktiven Kritik des QUEST-Teams sei. 

Gerade die Biomedizin ist berühmt dafür, dass sie an spätmittelalterlichen Strukturen festhält.
Ulrich Dirnagl (Foto:Peter Himsel)

Ulrich Dirnagl

Mit der Zeit haben sich Dirnagls Einsatz und auch sein Mut herumgesprochen. Mittlerweile klopfen Interessierte aus der ganzen Welt an seine Tür, weil sie seine Expertise und die Open-Science-Praktiken und Tools, die das QUEST Center entwickelt und einsetzt, abschauen wollen. Die Sache explodiere förmlich, freut sich Dirnagl. Leider zeige diese Tatsache aber nur allzu deutlich: „Nur sehr wenige Institutionen leisten sich so eine Truppe wie uns. Wir sind immer noch eine Ausnahmeerscheinung.“

Und wie schätzt Dirnagl seinen bisherigen Erfolg selbst ein, das uneffektive Wissenschaftssystem mithilfe von Offenheit, Transparenz und kollaborativem Arbeiten zu verbessern? „Ich denke, wir haben in dieses dicke Brett ein Löchlein gebohrt. Man kann aber noch nicht durchschauen.“