Virtuelle Fahrt durch unser Blutsystem (Foto: Screenshot The Body VR)

Virtuelle Realität wird uns klüger, kreativer und empathischer machen

Kolumne,

Virtuelle Realität (VR) macht bewusstseinserweiternde Erfahrungen möglich. Was das für Bildung und Wissenschaft bedeutet, erklärt unser Kolumnist Patrick Breitenbach.

Gottverdammt! Die Bombe wird mir in wenigen Minuten um die Ohren fliegen. „Außenteam? Wie geht es jetzt weiter?“, rufe ich ungeduldig. „Wir haben uns kurz beraten. Es ist definitiv der blaue Draht, den du kappen musst!“, meldet das Außenteam zurück. „Seid ihr euch absolut sicher?“, raune ich zurück. „Ja, wir sind das mehrfach durchgegangen und sind einhellig der Ansicht, dass es der blaue sein muss. Es sei denn, du hast irgendetwas übersehen, was du uns noch nicht mitgeteilt hast!“, antwortet das Außenteam. „Nein. Ich sehe nur die fünf Drähte. Also gut. Auf eure Verantwortung …“ Klick … Geschafft! Erleichtert beende ich „Keep Talking and Nobody Explodes“, setze meine VR-Brille ab und gebe jedem aus meinem Team ein saftiges High Five.

Doch mal Bomben beiseite. Es ist sowieso gerade viel zu laut da draußen. Lassen Sie uns lieber gemeinsam eine Weile eskapieren. Lassen Sie uns in die Zukunft der virtuellen Welten der Wissenschaft schauen und uns, bei all der angebrachten Kritik und den Gefahren, vor allem auf die positiven Aspekte dieser neuen Technologie genannt VR konzentrieren.

Strukturen der Intelligenz können nur durch konkrete Aktivität gebildet werden … unter Einbeziehung aller Sinne und größtmöglicher Bewegungsfreiheit.

Jean Piaget

Biologe und Entwicklungspsychologe

Die Theorie des erfahrungsbasierten Lernens (auch bekannt unter dem Begriff konstruktivistische Didaktik) geht von der Grundannahme aus, dass erst eine richtige handfeste praktische Erfahrung, also eine begreifbare Interaktion mit einem Lerngegenstand, gelungene Lernresultate ermöglicht. Als wir Kleinkinder waren, haben wir uns die Welt nicht durch lesen oder reden erschlossen, sondern wir haben nach ihr gegriffen. Kinder, so der Entwicklungspsychologe Jean Piaget, lernen in erster Linie erfahrungsbasiert, das heißt durch rumprobieren, beobachten und andere nachahmen. Ein ziemlich komplexes Gebilde wie zum Beispiel eine Katze kann man einem Kind zwar theoretisch erklären, aber wirklich verstehen wird das Kind eine Katze erst dann umfassend, wenn es Erfahrungen mit dem Tier machen kann, also wenn es die Katze in Bewegung sieht, ihr Miauen hört oder ihr Fell berühren kann. Erst durch diese unmittelbare Erfahrung, so Piaget, bildet sich ein Begreifen aus. 

Eintauchen in neue Welten

Und genau diese Erfahrung des Eintauchens, diese Immersion in eine enorm größere Informationswelt, macht VR aus bildungstechnischer Perspektive so reizvoll. Man kann – wenn man möchte – neue Welten entdecken und auch erschaffen. Und diese neuen Erfahrungswelten werden zukünftig auch unsere Gesellschaft entsprechend transformieren.

Anwendungen für die virtuelle Realität werden von ihren Produzenten und den meisten Konsumenten als immersive experience beschrieben, also als eine hoch involvierende Erfahrung, die man durch das Eintauchen in eine neue Realitätsebene erfährt. Klar, schreiben kann man darüber viel und ausführlich, aber wirklich begreifen wird man VR nur, wenn man es selbst einmal erfahren hat. Egal wem ich bisher so eine Brille angeboten habe, Studierenden oder der Generation 60+, zuverlässig lieferten meine Probanden jede Menge Ahs und Wows als Rückmeldung. Sogar die eingefleischten Nichtdigitaler und Technikskeptiker konnten sich dem Zauber der neuen Wirklichkeitsebene nicht entziehen. Gut, abgesehen von denen, die leider bei dem Versuch seekrank wurden und kurzfristig abbrachen (nicht erbrachen).

Doch was konkret könnte diese offenbar bewusstseinserweiternde Technologie mit uns Menschen machen? Was ist heute schon möglich und was könnte in der nahen Zukunft der Fall sein? Und für diese Kolumne am allerwichtigsten: Welche Bildungserfahrungen sind möglich und wie kann Wissenschaftskommunikation und -vermittlung davon unmittelbar profitieren? Meine These zur VR lautet: Diese Technologie ermöglicht es uns, in Zukunft kreativer, klüger und empathischer zu werden – sofern wir das möchten.

Die Vernetzung der Dinge

Patrick Breitenbach (Illustration: Irene Sackmann)

Die Vernetzung der Dinge heißt Patrick Breitenbachs regelmäßige Kolumne über Innovation, Digitalisierung und Wandel. Breitenbach ist derzeit Senior Manager Corporate Learning bei Bayernwerk und entwickelt dort Konzepte, Strategien und Formate zum Thema Lernen und unterstützt das Unternehmen im digitalen und nachhaltigen Wandel. Als gelernter Mediendesigner und langjähriger Podcaster beschäftigt er sich seit vielen Jahren autodidaktisch mit der soziologischen, ökonomischen, politischen, philosophischen, pädagogischen und kulturellen Perspektive der Digitalisierung.

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Alle Kolumnen von Patrick Breitenbach. 

1. Wissensvermittlung

Jede neue Medienform hat uns – neben allerhand Problemen – zugleich einen enormen Schub an Kultur, Wissen und Kreativität beschert. Heute würde kein normaler Mensch mehr behaupten, dass uns Lesen per se dümmer macht. Doch am Ende kommt es immer noch darauf an, was und wie wir lesen. Gleiches gilt für die Inhalte von VR. Natürlich kann ich mich stundenlang dem Ballerspiel gegen Zombies hingeben und werde dabei allerhöchstens meinen Umgang mit Waffen und allerlei Kriegstaktik und Strategie trainieren. Ich kann mich allerdings auch für echte Bildungsinhalte entscheiden und wahlweise Ausflüge zum Mond, auf den Mars, den Everest, zu ausbrechenden Vulkanen oder zu Gladiatorenkämpfen in das römische Kolosseum unternehmen. Interessant wird es vor allem dann, wenn es um Objekte oder Orte geht, die vermutlich kein Mensch je selbst betreten wird oder kann, wie zum Beispiel das Innere unseres Körpers oder ein Gemälde von Dali.

Das Innere unseres Körpers entdecken

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Was ist „The Body VR“?

All diese handfesten Erfahrungen (denn an haptischen Komponenten wird im Bereich VR gerade eifrig geforscht) werden uns einen enormen Bildungsschub verschaffen. Das heißt jetzt aber nicht, dass man immer und überall die Brille aufhaben muss, um gute Lernerfahrungen zu machen. Ganz im Gegenteil – ich sehe VR als sinnvolle und bereichernde Ergänzung anderer Lernarten. Manchmal braucht man allerdings den Abstand, den ein guter, klarer und abstrakter Text uns bietet, um bestimmte Zusammenhänge besser zu verstehen. Aber mit VR hat man ein Werkzeug erschaffen, das dem bildungs- und erfahrungshungrigen Menschen enorm viel neue Nahrung schenken wird.

2. Forschung und angewandte Wissenschaft

(Foto: Screenshot Universität Basel)
Vorbereitung auf die OP: Chirurgen erkunden die Organe des Patienten virtuell, bevor sie den ersten Schnitt setzen.

Mal sehen – was gibt es denn heute schon in der angewandten Wissenschaft? Chirurgen bereiten sich mittels VR-Anwendungen auf anstehende OPs vor. Die erste OP wurde bereits live für VR-Nutzer mittels 360-Grad-Kamera gestreamt. Man schaute dem Chirurgen dabei nicht über die Schulter, sondern stand ihm direkt gegenüber, zwischendrin der Patient. Der Chirurg selbst hat sich vielleicht vorher sogar mit VR auf seine OP vorbereitet. Sein Patient war vielleicht zuvor in der CT-Röhre und eine VR-Anwendung konnte diese Bilder in eine virtuelle Umgebung einspielen, in der ein Chirurg dann mittels Brille die betroffenen Organe des Patienten intensiv erkunden konnte, bevor der erste Schnitt gesetzt wurde. Überhaupt scheint der Einsatz von VR für Genesungsprozesse von Patienten nach einer OP oder Krankheit ganz hilfreich zu sein. Das karge Krankenzimmer verwandelt sich in offenbar heilsame virtuelle Welten, die das Wohlbefinden von Patienten in Krankenhäusern steigern und so den Heilungsprozess verbessern. Auch als Schmerzmittel ist VR im Gespräch. 20 Minuten virtuelle Erfahrung erzeugen laut diesem Mini-Versuch durchschnittlich 24 Prozent Schmerzlinderung. Aber auch das gute alte Mikroskop erhält dank VR-Technologie eine kleine Renaissance: Die vom Mikroskop erstellten Bilder lassen sich zur besseren Erkundung in eine 3-D-Umgebung umwandeln. Und hier drin sieht man einfach ein klein bisschen mehr als vor dem Mikroskop (Gleiches gilt für das Teleskop). Neben den ganzen Anwendungen zum Betrachten von Dingen gibt es natürlich auch noch die gestaltende Möglichkeit des Prototypings und der technologischen Simulation. Architekten planen gemeinsam mit ihren Kunden Häuser. Ingenieure bauen virtuelle Windkanäle, um mit ihnen zu experimentieren.

3. Kollaboration

VR ist ein wunderbarer Rückzugsort. In Zeiten von vor Erregung überschwallenden sozialen Netzwerken bietet VR die totale Entspannung. Der perfekte Ort des Eskapismus. Aber so still und unkommunikativ wird VR nicht bleiben. Auch hier werden kommunikative Netzwerkräume entstehen. Allerdings macht es keinen Sinn, sich in VR mit 100 Leuten gleichzeitig in einem Raum zu unterhalten wie auf Facebook oder Twitter. VR bietet in Zukunft eine ganz neue Meetingkultur. So werden wir in einigen Jahren unseren eigenen Körper als virtuellen Avatar abbilden.

Das Video von Donald Trumps Gesicht, das von einem Schauspieler bedient wird, ist da schon recht eindrucksvoll. Jetzt kombinieren Sie diese Technik mit der Technik der virtuellen Konferenzräume und Sie haben im Grunde einen Beamer erschaffen. Also beamen im Sinne von Scotty. Sie müssen nicht mehr um die halbe Welt fliegen, um sich Face-to-Face auszutauschen. Übrigens sind Meetings in VR in der Regel dann auch kein langweiliges Business-Meeting am großen Konferenztisch mehr, sondern man trifft sich unmittelbar am Objekt und tauscht sich darüber aus. Der Ingenieur lädt seine Stakeholder zur Besichtigung ein, der Touristiker zeigt seinen zukünftigen Gästen die Destination und der Wissenschaftler, nun ja, der vermittelt ebenfalls seine theoretischen und pragmatischen Modelle. Hier führt man sozusagen Kommunikation am und im Zweifel im Objekt, also an der sichtbaren und immer mehr fühlbaren Sache. Das ist unfassbar spannend für extrem viele gesellschaftliche Bereiche. Und natürlich sind hochkarätige Konferenzen, auf denen man per Brille direkt im Publikum steht, eine wesentlich spannendere Erfahrung, als sich Videos von der gleichen Konferenz auf der distanzierten Mattscheibe anzugucken.

4. Selbstoptimierung

Das Thema Selbstoptimierung wird ja rege rauf und runter diskutiert. Halten wir dennoch fest: Offenbar hat der Mensch ein reges Bedürfnis, an sich zu arbeiten, stetig zu lernen und gewisse Dinge zur Perfektion zu bringen – natürlich gleichberechtigt neben dem Bedürfnis nach Ruhe, Entspannung, Genuss und Müßiggang. VR kann uns dabei helfen, uns zu optimieren. Es kann uns in Zukunft gesünder, selbstbewusster, empathischer und angstfreier werden lassen.

Bereits heute behandelt man verschiedene Ängste mit Unterstützung von VR. Hier kann man sich in einem geschützten Raum Schritt für Schritt seinen Ängsten stellen und somit Angst Zug um Zug aktiv abbauen. Natürlich nicht ohne die Begleitung von erfahrenen Therapeuten. Es gibt aber auch Anwendungen, mit denen wir ständig an uns arbeiten können. Neben allen bereits beschriebenen Bildungserfahrungen kann man zum Beispiel mittels bestimmter Anwendungen sein Selbstbewusstsein trainieren. Man kann Vorträge vor Menschen halten, die gar nicht da sind, oder eben, wie eingangs berichtet, Teamkommunikation mithilfe von virtueller Bombenentschärfung trainieren. Prothesenträger sind heute in der Lage, durch die VR-Technologie ihre Phantomschmerzen zu beseitigen. Und wäre es nicht ein unfassbares Glücksgefühl, endlich alleine fliegen zu können?

Der ehemalige Harvard-Psychiater und nicht unumstrittene LSD-Guru Timothy Leary hat in den Neunzigerjahren – da war auch die erste spürbare Welle von VR – die Technologie als LSD der Neunziger beschrieben. Die spannende Frage für die Wissenschaft im 21. Jahrhundert lautet daher: Was machen wir nun Sinnvolles mit den beeindruckenden Reisen in andere Welten? Und vor allem: Was machen diese Reisen dann mit uns? Wir werden es vermutlich nur selbst erfahren können.