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Von religiösen und pädagogischen Mythen

Kolumne,

Bei der Frage, wie digital Schule sein sollte, fehlt es an reflektierten pädagogischen Konzepten, sagt unser Kolumnist Markus Deimann. Stattdessen buhlen Mahner und Propheten lautstark um Aufmerksamkeit.

Digitales Tagebuch des Dr. D.: Neunter Eintrag, Mai 2019

Bundesbildungsministerin Anja Karliczek hat vor ein paar Wochen mit dem Ausspruch „Wir lassen uns von unserem christlichen Menschenbild leiten. Jeder technologische Fortschritt hat sich dahinter einzureihen“ für Aufsehen gesorgt. Auf den ersten Blick scheint dieser völlig aus der Zeit gefallen zu sein, schließlich leben wir in einer aufgeklärten, säkularen Gesellschaft, bei der religiöse Überzeugungen kaum noch eine Rolle spielen. Auch die Bedeutung der Kirche zeigt sich für viele nur an den hohen christlichen Feiertagen. Viel ist darüber geschrieben worden, dass an die Stelle von Gott nun Wissenschaft und Technik getreten seien und dass unsere Gesellschaft rational-bürokratisch organisiert sei. Dabei gibt uns Technologie die Illusion, über gottähnliche Macht und Kontrolle zu verfügen, und ähnlich wie Gott ist sie undurchschaubar und nicht verstehbar.

Wie wichtig sind christliche Werte für den technologischen Fortschritt?

Die Kraft und der Intellekt des Menschen wurden durch Dampfmaschinen und künstliche Intelligenz (KI) auf eine bislang unvorstellbare Weise ausgedehnt. Mit dem Vormarsch der Technik und insbesondere mit der sogenannten digitalen Transformation ändert sich auch die Bezugsquelle von Werten. Die vielfältigen religiösen Ausprägungen, wie zum Beispiel der Calvinismus, haben großen Einfluss auf die Werte zur Organisation von Gesellschaft und Wirtschaft (Kapitalismus) gehabt, werden aber seit einiger Zeit durch Werte aus nicht religiösen Quellen ersetzt, wie etwa dem Silicon Valley (siehe dazu die Kalifornische Ideologie). Zudem rücken religiöse Vorstellungen immer mehr aus unserer Alltagswelt (außer vielleicht beim Besuch der Messe am Sonntag). Stattdessen dominiert ein Wissen, das durch die Allgegenwart von technischen Geräten und technischer Infrastruktur geprägt ist. Das betrifft zum Beispiel das Wissen um die Verfügbarkeit mobilen Internets – ein in Deutschland leidiges Thema – oder das Wissen, das im Zusammenhang mit unserem Smartphone steht und unseren Alltag weitgehend strukturiert. Dieses Wissen über die kulturelle Bedeutung von Technik ist für uns selbst kaum erklärbar, dafür umso mehr spürbar. In der institutionellen Bildung spielt es keine Rolle. Es gibt kein Schulfach dazu, sondern nur Angebote zur instrumentellen Nutzung von Internet und Smartphone.

Bildung trotz(t) Digitalität

Illustration: Irene Sackmann

Markus Deimann beschäftigt sich seit 2001 mit Bildung und Digitalisierung. Er arbeitete an verschiedenen Hochschulen und promovierte und habilitierte im Fach Bildungswissenschaft. Er provoziert gerne mit Texten, Vorträgen oder im Podcast „Feierabendbier Open Education“. Es geht ihm um eine sachlich-kritische Auseinandersetzung mit Technik, jenseits von Hype und Untergangsphantasien. Seit 2017 gehört er zum Kernteam des Netzwerks für die Hochschullehre im Hochschulforum Digitalisierung (HFD). Auf MERTON schreibt er als Dr. D. eine regelmäßige Kolumne mit dem vieldeutigen Titel Bildung trotz(t) Digitalität. 

Markus Deimann auf Twitter.

Ist die Äußerung der Bildungsministerin nun als Mahnung zu verstehen, den verloren gegangenen christlichen Werten wieder mehr Einfluss zu geben? Und ist das in Stellung gebrachte christliche Menschenbild tatsächlich so bedeutsam für unsere gesellschaftlich-technologische Entwicklung? Hilfreich zur Erörterung dieser Fragen sind die „Schriften zur Technik“ von Hans Blumenberg, in denen seine vielfältigen und verstreuten philosophischen Überlegungen gesammelt sind. Der Versuch, technologische Entwicklung von einem christlichen Standpunkt aus zu begründen und zu legitimieren, ist für Blumenberg zweideutig. Zum einen gibt es den biblischen Befehl zur Unterwerfung der Erde, wozu technologische Innovationen erfunden wurden, wie etwa im Ackerbau. Demgegenüber steht aber die Unterwerfung der Erde als Ausbeutung durch Technik und menschliche Arbeit wie etwa im Bergbau oder neuerdings durch Fracking.

Untergang des Abendlandes?

Unser Verhältnis zur Technik und deren Rolle für Natur und Gesellschaft sind für Blumenberg bis heute ungeklärt. So gehen wir seit der Antike von der Natur als Ideal der unverletzten Erde aus, die uns (zum Beispiel von Gott) gegeben ist. Allerdings gaben sich die Menschen nach vielen Jahrtausenden nicht länger mit der Rolle des Empfängers zufrieden und fingen an, verborgene Schätze aus der Erde herauszuholen. Eine Technisierung und Verwissenschaftlichung setzte ein, was als Naturwissenschaft bezeichnet wird und im Widerspruch zur alltagssprachlichen Bedeutung von Natur als etwas Ursprünglichem steht. So stand die frühe Naturwissenschaft auch im Clinch mit der Lehre der Kirche, da sie eine Reihe von Glaubensüberzeugungen auf den Kopf stellte. Das ist heute geklärt und darum erscheint es ja merkwürdig, wenn eine Ministerin für Bildung und Forschung hinter die Aufklärung zurückzufallen scheint und Religion und Wissenschaft gegeneinander ausspielt.

Ähnliche Widersprüche sehen wir heute, wenn es um die Digitalisierung von Bildung geht. Hier findet sich alles, von der Prophezeiung des Untergangs des Abendlandes bis hin zur Revolution. Sie wiederholen sich mit jeder neuen technischen Entwicklungsstufe: Die Mahner und Propheten buhlen lautstark um Aufmerksamkeit für den Absatz von Aufklärungsbüchern wie „Die Lüge der digitalen Bildung“. Die Politik gibt großzügig Geld für die Aufrüstung von Schulen mit Tablets und WLAN und erwartet dadurch digital kompetente Arbeitskräfte für die Wirtschaft.

Dabei gibt es kaum pädagogische Konzepte, die den Einsatz von Technik im Unterricht begründet darstellen. Allzu oft findet sich das blödsinnige Mantra „Die Technik muss der Didaktik folgen“, was dem oben zitierten Ausspruch von Frau Karliczek ähnelt. Religion und Pädagogik gehen gleichsam von Glaubensüberzeugungen aus, die keiner weiteren Erläuterung bedürfen. Geschultes Fachpersonal reicht aus, um Pädagogik und Religion in der Praxis auszuüben. Da will man sich von der Technik nicht viel reinreden lassen, was aus Angst geschehen kann, durch den Computer ersetzt zu werden, oder aus purer Ignoranz.

Allzu oft findet sich in der Debatte um mehr Technik im Unterricht das blödsinnige Mantra „Die Technik muss der Didaktik folgen“.
Markus Deimann
Markus Deimann (Foto:privat)

Markus Deimann

Rolle der Pädagogik

Der Mangel an klug ausgearbeiteten Konzepten, die sich durch ein reflektiertes und kritisches Verhältnis zur Technik auszeichnen, zeigt sich in den vielen Studien, die keinen Effekt von Technik auf Pädagogik belegen. Der Glaube an die Kraft der Technik, die automatisch für mehr Gerechtigkeit und Demokratie sorgt, ist gewissermaßen naiv und hartnäckig. Aber auch die Erwartungen an die Bildung sind so sehr gestiegen (Inklusion, lebenslanges Lernen, Digitalisierung), dass dies eigentlich nur mit einem pädagogischen Sparmodell zu schaffen ist.

Mit Blick auf die nähere Zukunft scheint dieses Missverhältnis eher noch zuzunehmen. KI und Blockchain bestimmen bereits den Diskurs und versprechen weitere Entwicklungsstufen. Eine generelle Debatte, wie sinnvoll der Einsatz von Algorithmen in Schule und Hochschule ist, findet kaum statt, sondern wird – wir kennen das Muster – von den Mahnern und Propheten dominiert.

Es braucht wohl einen kontraintuitiven Ansatz. Wir müssen nicht nur in die Zukunft, sondern mehr in die Vergangenheit schauen, um zu verstehen, wie Pädagogik sich von den Griechen (Paideia) über die Römer (Humanismus) bis heute entwickelt hat. Es gibt dabei einen relativ stabilen Wesenskern, bei dem Mittel und Zweck zusammenfallen. Es geht um die pädagogische Praxis, die zu reichhaltigen Erfahrungen führt, aber nicht durch Lernziele vorbestimmt und durch (Zwischen- oder Abschluss-)Prüfungen getestet werden kann. Davon sind wir sehr weit abgekommen, denn Pädagogik ist nur noch Mittel für nicht pädagogische Zwecke. Wenn nun versucht wird, mit Technik Pädagogik zu verbessern, ist damit nicht eine Förderung der Qualität pädagogischer Prozesse und Praxis gemeint, sondern die Erhöhung der Outcomes. Da hilft dann auch die Erinnerung an unser christliches Menschenbild nicht mehr.