Warum ich den Fake News ein bisschen dankbar bin

Kolumne,

Fake News haben unser Vertrauen in Medien und Wissenschaft erschüttert. Warum das für Forscher aber auch eine große Chance sein kann, erklärt Patrick Breitenbach in seiner neuen Kolumne.

Neulich wischte ich behände durch die Timeline des Jahres 1475. Da findet man nämlich allerlei interessanten Content. Beispielsweise Instagrams von Belagerungen oder Snaps mit funny Facefiltern von irgendwelchen wichtigen Influencern. Und zwischen all den bunten Posts tauchen unverhofft auch einige merkwürdige Sharepics auf, welche den angeblichen Ritualmord an „Simon von Trient“ visualisieren. So kursierte damals eine Infografik der Hetze gegen eine religiöse Menschengruppe, welche sich im Nachhinein als Legende, also als Fake News, entpuppte. Doch einige User wurden damals wie heute misstrauisch. Die Skepsis machte sich breit und viele Menschen begannen damit, Macht und absolute Wahrheit kritisch zu hinterfragen. So entstand einige Jahrhunderte später eine Periode oder neue Bewegung, die wir im Nachhinein als „Aufklärung“ bezeichnen.

Holzschnitt von Michel Wolgemut, Wilhelm Pleydenwurff, veröffentlicht in Hartmann Schedels Weltchronik 1493 (Gemeinfrei; Quelle: Wikimedia)
Der angeblichen Ritualmord an Simon von Trient

Wissen zugänglich machen

Müsste man ein Mantra für die Aufklärung formulieren, könnte es beispielsweise so lauten:

Wir glauben nicht, wir forschen, um zu wissen.

Das Ergebnis der Forschung ist die Erkenntnis. Jede gewonnene Erkenntnis soll fortan nicht irgendwo in Klöstern, Silos oder Servern versteckt werden, sondern bestmöglich dezentral, für alle zugänglich und sichtbar zur Verfügung gestellt werden. Zum Beispiel in einer ersten analogen Form der Wikipedia, der 1728 vom englischen Schriftsteller Ephraim Chambers veröffentlichten Cyclopaedia. Somit sind für mich Forschung und Wissensvermittlung untrennbare Bestandteile der Wissenschaft. Wissen schaffen bedeutet, Wissen zu teilen. Egal ob auf Papier oder strombetriebenen Siliziumkristallen.

Ich bin dem Phänomen Fake News auf eine kleine Art und Weise sehr dankbar. Es lässt uns über Manipulation nachdenken und reden. Wir öffnen uns dem Themenfeld der Desinformation und Propaganda. Einen derartig breiten und intensiven Diskurs hätte ich mir beispielsweise schon nach der unsäglichen Fake-Infografik-Show von Colin Powell vor der Uno gewünscht. Die derzeitige aktuelle Omnipräsenz von Fake News weckt, bei all dem Ärger, zugleich auch immer einen Bedarf an Aufklärung – von der es, von mir aus, gar nicht genug geben kann.

Egal ob man Fake News nun als Gerüchte, Hoaxes, Falschmeldungen, Ideologien, Dogmen, Legenden, Mythen oder Propaganda bezeichnet, der inhaltliche abstrakte Kern bleibt dabei stets konstant. Informationen beeinflussen unser Denken. Unser Denken bestimmt unser Handeln. Wenn dem so ist, dann sind Informationen wirkmächtiger als reine Worte. Sie schaffen Realität – und sind natürlich auch immer ein potenzielles Herrschaftsinstrument. Fake News sind ein Werkzeug der Herrschaft, das es zu durchschauen, zu begreifen und handzuhaben gilt.

Das mächtige Instrument der Desinformation

Ein Mensch, der den Zusammenhang von Desinformation und Macht sehr früh erkannt hat, heißt Roger Stone. Mr. Stone ist ein US-amerikanischer Wahlkampfstratege und Machiavelli-Fanboy. Er wird in den USA als der Erfinder von Schmutzkampagnen und professionellem Lobbyismus gehandelt, worauf Stone selbst unfassbar stolz ist. Die sehenswerte Netflix-Dokumentation „Get me Roger Stone“ porträtiert schonungslos offen einen zynischen alten Mann, der bereits als junger Student tief in den Wahlkampf von Richard Nixon involviert war (Fun Fact: Er hat sich später sogar Nixons Konterfei auf den Rücken tätowieren lassen). Er gilt als Präsidentenmacher, sowohl von Ronald Reagan als auch von Donald Trump. Beides gelang ihm übrigens mit dem gleichen strategischen Ansatz, einer ähnlichen Wahlkampftaktik und einem völlig identischen Slogan: „Make America great again.“

Roger Stone wollte Donald Trump schon in den 1990ern zum Präsidenten küren. Beide verbindet also eine lange Freundschaft – oder sagen wir lieber strategische Allianz. Humanismus, Mitgefühl, Respekt oder Anstand sucht man bei Roger Stone vergeblich. Er spricht offen an, was ihn und sein Netzwerk ausschließlich antreibt: Gewinnen. Gewinnen. Gewinnen in einem Spiel, das er früh und schnell dank unmittelbarer Belohnungen verinnerlicht hat. Stone erzählt, wie das Präsidentschaftsrennen zwischen Nixon und Kennedy in seiner damaligen Schule simuliert wurde. Der Schüler Roger Stone wollte wissen, ob man die simulierte Wahl in der Schule nicht irgendwie strategisch beeinflussen kann. Damals war er noch kein Fan von Richard Nixon und so verbreitete er das Gerücht, dass, falls Nixon gewählt werden würde, der Samstagsunterricht eingeführt würde. Er verbreitete in seiner Schule also einen politischen Programmpunkt, der a) nicht stimmte und b) dazu führte, dass Kennedy ziemlich eindeutig in seiner manipulierten Wahl als Präsident gewählt wurde. Das war die zündende Heureka-Erfahrung, die Initiation Roger Stones zum eiskalten Politstrategen. Durch diese Erfahrung wurde Stone vermutlich klar, wie wirkmächtig Informationen sein können – egal ob sie wahr sind, frei erfunden oder einen schmackhaften Cocktail aus beidem bilden. 

Das Traurige an diesem Porträt (und natürlich ist das nur eine der vielen möglichen Perspektiven auf die Person Roger Stone) ist die Erkenntnis, dass die letzte Barriere zwischen Wahrheit und Lüge im Grunde nur Werte wie Ehrlichkeit, Offenheit und Anstand sind. Für Zynikgott Stone spielen all diese Werte für Schwächlinge keine Rolle. Politik ist für ihn ein simples gefühlbefreites und hyperemotionalisiertes Spiel, das es zuallererst zu gewinnen gilt. Lügen, Verleumdung und Hetze sind dabei akzeptierte Mittel zum Zweck.

Die Vernetzung der Dinge

Patrick Breitenbach (Illustration: Irene Sackmann)

Die Vernetzung der Dinge heißt Patrick Breitenbachs regelmäßige Kolumne über Innovation, Digitalisierung und Wandel. Breitenbach ist derzeit Senior Manager Corporate Learning bei Bayernwerk und entwickelt dort Konzepte, Strategien und Formate zum Thema Lernen und unterstützt das Unternehmen im digitalen und nachhaltigen Wandel. Als gelernter Mediendesigner und langjähriger Podcaster beschäftigt er sich seit vielen Jahren autodidaktisch mit der soziologischen, ökonomischen, politischen, philosophischen, pädagogischen und kulturellen Perspektive der Digitalisierung.

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Alle Kolumnen von Patrick Breitenbach. 

Es geht für Akteure wie Stone nur noch darum, zu gewinnen, bestehende Gesetze zu biegen oder zu umgehen und stets die Deutungshoheit und den Diskurs zu erobern und das Beste für sich und sein Netzwerk herauszuholen. The winner takes it all. Keine Gnade für die Kontrahenten. Kein Mitleid für die Verlierer in diesem Spiel.

Dokumentationen wie diese sind ebenfalls ein Teil der Aufklärung rund um das Thema Fake News. Zuschauer lernen viel Meta über die Mechanismen von Fake News und nebenbei lernen sie noch die Akteure kennen. Sie lernen zu verstehen, wie Informationen eingesetzt werden, um Macht zu erlangen, sie zu sichern und entsprechend auszuschöpfen.

Wissenschaft muss zurück zu den Wurzeln der Aufklärung finden

An dem Punkt also, wo sich ein gesellschaftlicher Diskurs intensiv über die Wirkweise von Information und Desinformation Gedanken macht, wird Forschung begonnen, werden wichtige neue Hypothesen formuliert, Denkanstöße gegeben, Erkenntnisse geteilt und diskutiert. Man könnte das Phänomen Fake News also als aktivierenden, weil ernst zu nehmenden Stresstest für eine offene und aufgeklärte Gesellschaft betrachten. Man (oder natürlich auch immer frau) könnte diese Krise als Chance begreifen und Wissenschaft und Journalismus wieder zurück zu ihren ursprünglichen Wurzeln der Aufklärung führen – jenseits der rein ökonomischen Interessen in Form von Drittmitteln oder Werbegeldern.

Die Auseinandersetzung mit Fake News hält heute viele Journalisten und Wissenschaftler dazu an, etwas gründlicher zu arbeiten und sich selbst auch mal mutig kritisch zu reflektieren. Auf der anderen Seite sollten Wissenschaftler und Journalisten nun die Stimme erheben, um mehr Zeit und Geld für ihre gründliche Arbeit, welche zu mehr Vertrauen führt, zu verlangen. 

Es gibt keine objektive Wahrheit

Das einzig gangbare Antidot gegen Desinformation ist seit vielen Jahrhunderten die Haltung der Aufklärung an sich: Neugier, Skepsis, Forschung und Wissensvermittlung.
Patrick Breitenbach
Patrick Breitenbach (Foto: AMX Design - Alex Stiebritz)

Patrick Breitenbach

Die Beschäftigung mit Fake News hält Regierungen auf Trab, die sich der Demokratie verschrieben haben. Sie sind vielleicht nun bemühter darin, ihre Bevölkerung, den Demos, sorgfältiger und transparenter zu informieren und komplexe politische Prozesse genauer und einfacher zu erklären. Also in einer aufklärerischen Haltung das vorzuleben, was man sich eigentlich wünscht: Klarheit. Und in logischer Konsequenz führt das Phänomen Fake News uns allen vor Augen, dass die Welt aus vielen verschiedenen Perspektiven betrachtet werden muss und wir dann immer noch nicht die absolute und objektive Wahrheit vor Augen haben.

Und da ich ein großer Fan von Karl Poppers kritischem Realismus bin, betrachte ich den Falsifikationismus, also die Bestrebung, eine Behauptung zu widerlegen und nicht zu beweisen, als wichtigstes Werkzeug, um Desinformation entgegenzuwirken. Wissenschaft und Journalismus sollten sich demnach weniger darauf konzentrieren, die Welt zu beschreiben, wie sie ist (denn das wird ihr nie gelingen), sondern vielmehr aufzeigen, wie sie eben ganz bestimmt NICHT ist.

Zum Schluss bleibt mir wie immer nur der Appell an die Wissenschaft, sich den gegenwärtigen und neuen Medien stärker zu öffnen. Die Wissenschaftskommunikation ist heute mehr denn je dazu aufgefordert, ein Gegengewicht zum Unsinn in den sozialen Medien zu bilden. Wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse rund um Fake-News-Themenfelder wie Impfdebatte, Migration oder historische Zusammenhänge müssen anschlussfähig vermittelt werden. Auf allen Kanälen. In allen Sprachen und in vielfältiger Ästhetik.

Und pst, lieber Leser: Wenn schon vom Zeitalter der Ich-Medien die Rede ist, so besteht bei mir immer noch die Hoffnung, dass auch die Eigenverantwortung der Social-Media-User auf den Plan gerufen wird. Aus meiner Sicht sind nämlich alle Aktivitäten in den öffentlichen sozialen Netzwerken von publizistischer Natur. Jeder Like, jeder Share, jeder Retweet ist in meinem Verständnis bereits ein publizistischer Akt und unterliegt damit einer gewissen Verantwortung. Der Konsument wird zum Prosument. Die Grenzen zwischen Journalismus und Meinung verschwimmen. Das Trendthema Fake News trägt am Ende vielleicht auch dazu bei, Medienkompetenz zu entwickeln. Teile ich unhinterfragt Informationen? Ist diese Meldung oder Quelle glaubwürdig? All das mündet hoffentlich durch Aufklärung in einen mündigeren Bürger. Also, wie sieht es aus? Teilst du noch oder denkst du schon?