3D-Model einer Stadt (Foto: iStock/Freder)
3D-Model einer Stadt (Foto: iStock/Freder)

Warum wir „produktive“ Städte neu denken müssen

Kolumne,

Die moderne Stadtentwicklung braucht neue Konzepte. Warum eine enge wissenschaftliche Begleitung dabei unverzichtbar ist, erklärt Uwe Schneidewind in seiner neuen Kolumne.

Seit November 2020 ist die „Neue Leipzig-Charta“ das europäische Leitbild für eine moderne Stadtentwicklung. Sie betont die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl und plädiert für „gerechte“, „grüne“ und „produktive“ Städte.

Die Corona-Krise und die aktuelle Flutkatastrophe haben deutlich gemacht, dass gerade die Idee der „produktiven Stadt“ in vielerlei Hinsicht neu gedacht werden muss. Das ist auch eine Herausforderung für eine diese Veränderungen in Städten begleitende Wissenschaft.

Die Grenzen des Städtebaus

Was verband man in den vergangenen Jahrzehnten mit der „produktiven Stadt“? Es ging um die Ansiedlung von florierendem Gewerbe in einer global vernetzten, hocheffizienten Wirtschaft, um boomende Einkaufsmeilen und Shoppingcenter, um steigenden urbanen Wohlstand – mit immer mehr Automobilen und größeren individuellen Wohnflächen. Organisiert wurde diese Form produktiver Stadt zumeist in räumlich getrennten Wohngebieten, Gewerbearealen, Einkaufsmeilen und Erholungsbereichen, die in der Regel nur noch mit dem Auto unkompliziert erreicht werden konnten.

Dieses Modell kommt seit einigen Jahren an seine Grenzen: Die Flächen in den Städten werden immer knapper. Gewerbe-, Wohn-, Freizeit- und Klimaansprüche stehen in einem massiven Flächenkonflikt. Die Städte „ersticken“ im Blech ihrer Automobile. Der Ruf nach neuen Formen urbanen Verkehrs wird laut. Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, wie anfällig globale Wertschöpfungsketten sein können und welche Rolle daher lokale und dezentrale Versorgungskreisläufe haben. Krisenereignisse wie die Flutkatastrophe haben einmal mehr für die Bedeutung lokaler Nachbarschaften sensibilisiert.

Statt um die Maximierung der bisherigen Produktivität geht es immer mehr um „resiliente“ und „robuste“ Städte. Leitbild einer produktiven Stadt der Zukunft ist die „15-Minuten-Stadt“, wie sie die Pariser Oberbürgermeisterin Anne Hidalgo ausgerufen hat: eine Stadt, in der alle wichtigen Grundfunktionen (Wohnen, Einkaufen, Bildung, Verwaltung, soziale Dienste, Erholung) in 15 Minuten Fuß- und Radweg zu erreichen sind. Es ist ein Plädoyer für Vernetzung und Entdifferenzierung, welches das Bild der zukünftigen Stadt prägt. Die „Neue Leipzig-Charta“ ist von diesem Geist geprägt.

Transformative Wissenschaft

Uwe Schneidewind (Illustration: Irene Sackmann)

Uwe Schneidewind treibt die Vision einer sozial- und ökologisch gerechten Welt im 21. Jahrhundert um. Und er ist der festen Überzeugung, dass die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben, einen zentralen Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse hat. Deswegen streitet er für eine „transformative Wissenschaft“ und erregt damit viele Gemüter im Wissenschaftssystem. Folgerichtig heißt diese Kolumne Transformative Wissenschaft.
Als Präsident des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie leitete er von 2010 bis 2020 einen der führenden Thinktanks für Nachhaltigkeitsforschung in Deutschland. Das Wissenschaftssystem und die Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft kennt er aus unterschiedlichen Perspektiven: als ehemaliger Präsident der Universität Oldenburg oder als Berater der Bundesregierung im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU). Seit dem 1. November 2020 ist Uwe Schneidewind Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal und damit in neuer Rolle in einem auch durch Wissenschaft entscheidend geprägten urbanen Transformationsraum.​

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Wie moderne Stadtplanung gelingt

Die „robuste Stadt“ wird nicht von heute auf morgen erfunden. Das hinter einem solchen Leitbild liegende Umbauprogramm ist gewaltig und muss in langen Linien gedacht werden. Es umfasst technische, ökonomische, politisch-institutionelle und kulturelle Dimensionen (vier Dimensionen einer urbanen „Zukunftskunst“): 

  1. Technisch geht es um (dezentrale) Infrastruktureinrichtungen auch der Risikovorsorge, einer Neuverteilung des Straßenraums, einer Aufwertung von „Stadtgrün“ und „Stadtblau“ (das heißt Wasserinfrastrukturen in der Stadt) in „Schwammstadt“-Konzepten, um neue Formen dezentraler und regenerativer Energieversorgung.
  2. Ökonomisch gewinnt eine „Wirtschaftsförderung 4.0“ an Bedeutung, die viel stärker als bisher auf lokale Wirtschaftskreisläufe und neue Wirtschaftsformen als stabilisierende Bausteine für urbane Produktivität setzt.
  3. Politisch-institutionell setzt die Stadt der Zukunft in sehr viel stärkerem Maße auf die Bedeutung und Integrationskraft von Quartieren. Sie stärkt die Bürgerbeteiligung und politische Bedeutung dezentraler Einheiten in Städten. (Beispiel)
  4. Kulturell geht die „produktive“ Stadt der Zukunft einher mit neuen Vorstellungen urbaner Lebensqualität: Aufenthaltsqualität, Klimagerechtigkeit, Vielfalt, Quartiers- und Nachbarschaftsorientierung werden zum Orientierungspunkt wünschenswerter Urbanität. Diese Veränderung läuft jedoch nicht konfliktfrei. Sie braucht Raum und Zeit für Entwicklung.
Der Wandel zu robusten Städten braucht neue Formen der ressortübergreifenden Zusammenarbeit in Städten. Und er wird nicht ohne eine enge Begleitung durch wissenschaftliche Einrichtungen gelingen.

Uwe Schneidewind

Wirtschaftswissenschaftler und Oberbürgermeister von Wuppertal

Schon die vielen Dimensionen, in denen sich der Wandel zu robusten Städten vollzieht, machen deutlich, dass ein solcher Umbau neue Formen der ressortübergreifenden Zusammenarbeit in Städten braucht. Und er wird nicht ohne eine enge Begleitung durch wissenschaftliche Einrichtungen gelingen. Transdisziplinäre Institutionen der Stadtforschung wie das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) das Deutsche Institut für Urbanistik (DIFU), das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) sowie die Stadtforschung im Leibniz-Verbund, die Forschungseinrichtungen des Ecological Research Network (Ecornet) oder die Johannes-Rau-Forschungsgemeinschaft (JRF) und universitäre Zentren der Stadtforschung (Gesamtübersicht) werden hier zu wichtigen Vermittlern: Sie machen globales und nationales Best-Practice-Wissen verfügbar, begleiten Städte bei der Umgestaltung und organisieren auf diese Weise den Transformationsprozess mit.

Städte sollten die Chance nutzen – in enger Kooperation mit der Wissenschaft –, zukunftsfähiger und robuster zu werden und damit eine neue Produktivität zu entwickeln.