Timotheus Höttges
Timotheus Höttges (Foto: David Ausserhofer)

Wer wagt, hat schon gewonnen

Die digitale Welt gibt dem Einzelnen mehr Möglichkeiten zur Entfaltung. Der Kontakt mit der neuen Technik muss an jeder Institution möglich sein, nicht nur an ausgewählten Schulen, fordert Telekom-Chef Timotheus Höttges. Ein Plädoyer.

Die digitale Revolution ist vorbei. Diese etwas steile These hat der Medienwissenschaftler Nicholas Negroponte schon 1998 in der Zeitschrift Wired aufgestellt. Er wollte damit nicht abstreiten, dass die Digitalisierung immer neue Technologien und Produkte hervorbringen würde, wie sie es bis heute tut. Aber er machte schon damals deutlich, dass Digital das neue Normal ist. Die wirklich überraschenden Veränderungen liegen Negroponte zufolge nicht nur in der Technologie, sondern darin, „wie wir gemeinsam unser Leben auf diesem Planeten gestalten“.

Ich glaube, dass Bildung bei dieser Gestaltungsaufgabe ein wesentlicher Faktor ist, und zwar durchaus Bildung im Humboldt’schen Sinne. Zugleich stimme ich dem Informatiker Joseph Weizenbaum zu, der Lesefähigkeit, Skeptizismus und Kritikfähigkeit als Voraussetzungen dafür nennt, das Medium Internet sinnvoll zu nutzen – und in meinen Augen auch dafür, sich zu selbstbestimmten, selbstdenkenden und damit zu freien Individuen zu entwickeln. Daraus würde ich aber eben nicht ableiten, dass Computer aus Klassenzimmern zu verbannen sind. Sondern eher dass das Bildungssystem erweitert werden muss um die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten, die in der digitalen Welt wichtiger werden und nützlich sind. Das erschließt sich leicht durch den Blick auf die zu gestaltenden Objekte: unsere Welt. Unser Leben. Vor allem: unser Zusammenleben. Denn all das ist bereits digital und wird noch digitaler. Wir müssen also auch unseren Kindern digitale Angebote machen, um Begegnungen mit dem Digitalen zu ermöglichen, das Lernen zu erleichtern und so zur Bildung beizutragen.

Die Digitalisierung hält Einzug in alle unsere Lebensbereiche. Wir haben den Farbfilm schon lange vergessen. Wir lesen E-Books. Wir sprechen mit unseren Mitmenschen – und mit unserem Smartphone. Wir kaufen online ein. Wir navigieren digital. Wir produzieren vernetzt. Die Digitalisierung schreitet rasant voran. Wer vor wenigen Jahren von der Vision selbstfahrender Fahrzeuge gesprochen hat, sollte nach Ansicht einiger Zuhörer eher zum Arzt gehen als in die Autoindustrie. Und heute? In wenigen Jahren werden Roboter – nichts anderes ist ja so ein Fahrzeug – noch ganz andere Aufgaben übernehmen können. Und die Maschinen lernen. Wie wir Menschen entwickeln sie sich im Laufe ihres Lebens weiter. Sie werden vielleicht nicht weise, aber vielseitiger. Die Grenzen ihrer Einsetzbarkeit verschieben sich. Und sie erschließen oder eröffnen neue (Gestaltungs-)Räume. 

Von der Fabrik zum 3-D-Drucker

Diese Änderungen bedeuten mehr Komfort und neue Chancen für Wachstum. Sie bedeuten aber auch, dass sich unsere Gesellschaft – und die Unternehmen sind ein Teil davon – wandeln muss. Oder vielmehr: wandeln kann! Der Einzelne erhält viel mehr Möglichkeiten zur Entfaltung. Grenzen, die bislang schwer überwindbar waren, lösen sich auf.

Es muss zum Beispiel keine Trennung mehr zwischen Theoretiker und Praktiker geben oder zugespitzt zwischen Denker und Macher. Als Digital Natives werden unsere Kinder in ihrer Freizeit von Konsumenten zu Produzenten. In der Medienbranche können wir das schon länger beobachten: Früher brauchte es RTL und Deutschland sucht den Superstar, um berühmt zu werden. Heute bietet jeder besser ausgestattete Laptop die Hard- und Software, um Filme produzieren zu können – so entstehen YouTube-Stars.

Im nächsten Schritt werden ganz andere Branchen von der Digitalisierung erfasst, sogar in der klassischen Produktion. Früher brauchte man ein Labor, heute kann man die reale Welt mit Sensoren und der Analyse von Daten vermessen. Früher brauchte man eine eigene Fabrik oder handwerkliches Geschick, um ein Werkstück herzustellen, heute gibt es den 3-D-Drucker. 

Aus Re-Kombination entstehen Innovationen

Fakt ist, dass die Digitalisierung uns allen die Instrumente an die Hand gibt, zu Machern zu werden. Eine wichtige Voraussetzung ist: Kreativität. Sie ist oft einfach die Fähigkeit, Gelerntes und Vorhandenes neu zu kombinieren. Aus der praktischen Übersetzung dieser Denkleistung, die letztlich aus Re-Kombination besteht, entstehen Innovationen. Der Fahrdienstanbieter Uber ist so ein Beispiel: Autos, Fahrer, Smartphone, das war alles schon da. Uber nahm diese drei Elemente und machte daraus ein völlig neues Mobilitätskonzept.

Das ist die Welt von morgen und zur Hälfte auch schon die von heute. Bereiten wir unsere Kinder darauf vor? Geben wir ihnen das an die Hand, was sie für die Gestaltung des Zusammenlebens brauchen? Gehen wir das Problem an, das eine Schülerin aus Köln bei Twitter einmal sehr schön zusammengefasst hat? Sie schrieb: „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.“

Was sind also die Inhalte, die wir unseren Kindern vermitteln müssen? Und wie machen wir das? Kann uns die Digitalisierung als Hilfsmittel dabei dienen? 

EINE NEUE INNOVATIONSKULTUR?

Logo Forschungsgipfel 2017
Illustration: Stifterverband

Um radikale Innovationen zu wagen und agile Anpassungsprozesse zu etablieren, bedarf es einer gesellschaftlich verankerten Innovationskultur, die sich durch Risikobereitschaft und Flexibilität auszeichnet. Dabei ist die Gesellschaft stärker in Forschungs- und Innovationsprozesse einzubinden. Ziel des Forschungsgipfels 2017 ist es, gemeinsam Vorschläge für den Aufbau einer Innovations- und Wagniskultur zu formulieren.

Vorschau auf den #FoGip17

„Programmiere oder werde programmiert.“

Zunächst zu den Inhalten. Wie gezeigt, geht es in der digitalisierten Welt unter anderem darum, die Denker auch zu Machern zu entwickeln. Wir müssen also die Macherqualitäten stärken. Dazu gehört für mich ganz klar das Programmieren. Unsere Kinder lernen Englisch in der Schule – eine Weltsprache. Aber auch Programmiersprachen sind global. Java, Ruby und Co. werden weltweit genutzt und ermöglichen länderübergreifende Zusammenarbeit im digitalen Segment. Gleichzeitig gilt, was der Medientheoretiker Douglas Rushko gesagt hat: „Programmiere oder werde programmiert.“ Seine Überzeugung ist, dass nur, wer selbst programmieren kann, in der Lage ist zu verstehen, wie die digitale Welt funktioniert – und sie damit auch mitgestalten kann. Ein Beispiel dafür, wie wichtig digitales Wissen und digitale Fähigkeiten eben auch für die Bildung sind. Anwendung und Reflektion gehen Hand in Hand. Dafür braucht es nicht einmal ein eigenes Schulfach; Mathematik und Informatik bieten schon heute den richtigen Rahmen.

Aber auch die weiteren sogenannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) werden in Zukunft eher eine wachsende Bedeutung haben. Wer in 3-D druckt, dem nutzen Kenntnisse zu Materialeigenschaften, wie sie etwa in Physik und Chemie vermittelt werden. Wer Prototyping praktizieren will, also sein eigenes Produkt selbst bauen möchte, der muss eben auch Technik gelernt haben. Tüfteln macht ganz nebenbei auch eine Menge Spaß! 

Hinzu kommt, dass wir in meinen Augen auch ökonomisches Wissen besser vermitteln müssen. Die großen Erfinder des Silicon Valley etwa sind eben nicht nur gute Tüftler wie Mark Zuckerberg, sondern auch Marketinggenies wie Steve Jobs oder Unternehmertypen wie Jeff Bezos. Dazu gehört, scheitern zu lernen. Also eine Haltung zu entwickeln, die Kindern erlaubt, Großes zu denken und Großes zu tun. Etwas zu wagen. Der Satz „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“ ist eigentlich falsch. Besser passt: „Wer wagt, hat schon gewonnen.“ 

Wir müssen die Wissensvermittlung digitalisieren

Foto: iStock/ Marco_Piunti

Zu diesem Was der Bildung gehört aber zwingend auch das Wie. Damit unsere Kinder die digitale Welt gestalten können, müssen wir auch die Wissensvermittlung digitalisieren. Wir brauchen hier eine Art digitale Revolution. Wir müssen vorhandene Systeme dem aktuellen Wandel zu einer digitalen Welt anpassen. Bücher sollten somit durch E-Books und Schultafeln durch YouTube-Videos ergänzt werden. Klassische Vorlesungen im Hörsaal sind gut, denn für die Gestaltung unseres Zusammenlebens ist natürlich das reale Zusammenkommen wichtig. Aber es spricht auch viel dafür, sogenannte MOOCs, Massive Open Online Courses, zu nutzen. Durch sie entstehen neue Chancen des Lernens, für alle Kinder und für alle Altersstufen. Etwa dadurch dass Schüler beim Lernen räumlich ungebunden sind. Dadurch dass sie online auf die besten Lehrer weltweit zugreifen könnten. Ein Kind in Hamburg kann so virtuell einen Kurs in München besuchen – ohne physischen Aufwand, dafür mit maximalem Nutzen. Und bei aller berechtigten Kritik an sozialen Netzwerken: Sie sind eben nicht nur ein Ort der Hasskommentare, sondern auch eine Plattform, die positiven, fruchtbaren und bereichernden Austausch zwischen Menschen ermöglicht.

Vorbilder für diese zukunftsorientierte Art von Bildung sind zum Beispiel Coursera, Khan und Udacity, drei Plattformen für Onlinekurse aus den Vereinigten Staaten. Es tut sich schnell die Frage auf, wieso Udacity, das der Deutsche Sebastian Thrun gegründet hat, nicht auch in Deutschland entstanden ist. Wie kann es sein, dass nur ein Bruchteil deutscher Schüler überhaupt Zugang zu einem Tablet hat? Und warum ist Deutschland laut internationalen Studien wie der International Computer and Information Literacy Study Schlusslicht beim Umgang mit digitalen Medien? 

Wir brauchen neben Dichtern und Denkern offensichtlich noch mehr Digitalisierer. Es gibt sie ja: Viele Lernende, aber auch immer mehr Lehrende sind längst in digitaler Aufbruchstimmung.
Timotheus Höttges
Timotheus Höttges (Foto: David Ausserhofer)

Timotheus Höttges

Timotheus Höttges (54) ist seit 2014 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre begann er seine Karriere bei einer Unternehmensberatung.

Wir brauchen neben Dichtern und Denkern offensichtlich noch mehr Digitalisierer. Es gibt sie ja: Viele Lernende, aber auch immer mehr Lehrende sind längst in digitaler Aufbruchstimmung. Übrigens kann auch die herausragende Arbeit, die viele Büchereien inzwischen bei der Vermittlung digitaler Kompetenzen leisten, nicht genug gelobt werden.

Gleichwohl beobachte ich im System Schule auch eine Art Abwehrhaltung. Woher kommt die? Sicherlich ist mangelnde Transparenz ein Problem. Was passiert eigentlich mit den Daten derer, die lernen und lehren? Werden die verkauft? An potenzielle Arbeitgeber? Der Fall des Schweizer Mathematikers Paul-Olivier Dehaye, der vergeblich 
als Kursanbieter bei Coursera versucht hat, genau das herauszufinden, war sicher keine gute Werbung. Aber liegt es vielleicht auch daran, dass die Institutionen Schule und Universität bislang über eine Art Monopol bei der Wissensvermittlung verfügten? Und sich darum herausgefordert fühlen?

Die Digitalisierung sollte jedoch weniger als Bedrohung angesehen werden, sondern vielmehr als Chance. Webinare gehören inzwischen durchaus zum Repertoire deutscher Hochschulen. Auch die seit Jahren angemahnte engere Verzahnung von Theorie und Praxis gelingt durch duale Studiengänge und Dozenten aus der Praxis immer mehr. Der Wille ist also da. Die Schritte scheinen mir, der ich lediglich Beobachter bin, jedoch zu zaghaft. Ich bin überzeugt: Wenn wir alle unseren Kindern dieselben Chancen für eine digitale Zukunft geben möchten, müssen sie wichtige Bildungsinhalte an jeder Schule finden können, nicht nur an ausgewählten oder privaten Einrichtungen.

Ich bemängele darum, dass die digitale Transformation noch nicht vollends an unseren Schulen angekommen ist. Deutschland gehört beim Einsatz digitaler Medien im Unterricht zu den Schlusslichtern. Es fehlt nicht nur die Ausstattung für einen flächendeckenden IT-gestützten Unterricht, sondern auch qualifiziertes Lehrpersonal, das im Umgang mit Computertechnologien ausgebildet ist; eine große Baustelle im deutschen Bildungssystem. Die Telekom Stiftung und der Stifterverband haben sich dieser Baustelle angenommen und bemühen sich darum, gerade in der Lehrerausbildung digitale Kompetenzen zu stärken. Sicher ein kleiner, aber wirksamer Baustein. Ein weiterer könnte eine „Bildungscloud“ sein: ein Ort im Internet, an dem Schüler, Lehrer, aber auch Schulverwaltungen digitale und interaktive Lehr- und Lernmittel nutzen und austauschen können. Geprüftes und verlässliches Wissen jenseits von Google und Wikipedia. Joseph Weizenbaum hatte ja recht: Etwas in eine Suchmaschine einzugeben und das Ergebnis auszudrucken ist das Gegenteil von Bildung.

Zeitgemäße Infrastrukturen zum Lernen

Unsere Digital Natives drängen schon jetzt an die Hochschulen. Was erwarten sie? Eine angemessene und zeitgemäße Infrastruktur zum Forschen und zum Lernen. Weniger Theorie, mehr Praxis. Denn wenn wir für das Leben lernen sollen, kann es nicht schaden, lebensnahere Inhalte vermittelt zu bekommen. Zusammengefasst lautet meine These: Die Bildungseinrichtungen müssen das tun, was auch die Unternehmen tun müssen. Sie müssen design thinking betreiben. Die Ausgangsfrage ist dabei immer: Welches Problem muss ich für den Kunden lösen? Im zweiten Schritt werden dann die nötigen Kompetenzen dafür zusammengetragen.

Ein Gedanke zum Schluss: Das Bildungssystem muss vieles sein. Aber eines darf es nicht sein: Teil einer Lieferkette, die den Unternehmen den Rohstoff Mensch passgenau zuliefert. Wir lernen nicht für die Schule oder die Unternehmen, sondern für das Leben. Lassen wir unseren Kindern mehr Zeit. Dafür, die Welt aktiv zu entdecken. Und dafür, sich selbst zu entdecken. Wir werden alle immer älter. Es gibt keinen Grund zu Eile und Hektik.

Uns aus der älteren Generation sind die Kinder im Umgang mit Technik längst überlegen. Hier können wir ihnen nichts vormachen. Aber wir müssen ihnen schlicht die reflektierte Begegnung mit der Digitalisierung ermöglichen. Und wir müssen ihnen etwas mit auf den Weg geben, das sie nicht zu reinen Technikanwendern macht, sondern zu Technikgestaltern. Bei aller digitalen Euphorie sollten sie frei bleiben und die Oberhand bewahren, um so das Leben auf diesem Planeten gestalten zu können – ganz so, wie es Negroponte gefordert hat.