Foto: Quartier Zukunft/KIT
Foto: Quartier Zukunft/KIT

„Wir arbeiten hart daran, dass wir überflüssig werden“

Der Nachhaltigkeitsforscher Oliver Parodi vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) über sein Reallabor in der Karlsruher Oststadt, über weltweite Auswirkungen des lokalen Versuchs – und darüber, wie man einen abgenutzten Begriff wie „Nachhaltigkeit“ mit Leben füllt.

Herr Parodi, in der Karlsruher Oststadt leiten Sie schon seit vielen Jahren das Reallabor „Quartier Zukunft – Labor Stadt“. Welcher Moment aus dieser Zeit hat sich besonders in Ihr Gedächtnis eingebrannt?
Das war ein Ereignis aus dem Jahr 2015: Damals haben wir in der Oststadt unseren „Zukunftsraum für Nachhaltigkeit und Wissenschaft“ eingerichtet. Das war ein lang gehegter Wunsch von uns und der Karlsruher Bürgerschaft, und bei der Eröffnung war die Wissenschaftsministerin von Baden-Württemberg dabei, der Karlsruher Oberbürgermeister und das Präsidium des KIT. Das war ein prägender Moment.

Kann man sagen: Da ist Ihr Reallabor von der virtuellen Idee zum greifbaren Projekt geworden?
Wir waren ja bereits seit 2012 in Karlsruhe aktiv, aber durch diese Räumlichkeiten ist so eine Art Nachhaltigkeitszentrum entstanden. Früher war an der Stelle einmal ein Laden – wir haben innen drei Räume und dazu eine große Schaufensterfläche für die Kommunikation nach außen. Inzwischen treffen sich da auch viele Initiativen, die sich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen und mit unserem Reallabor erst einmal gar nichts zu tun haben.

Oliver Parodi (Foto: KIT)
Oliver Parodi (Foto: KIT)
Oliver Parodi, Leiter der Forschungsgruppe „Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation“ am KIT

Vielen gilt „Nachhaltigkeit“ mittlerweile als Unwort, unter dem jeder etwas anderes versteht und bei dem sich jeder etwas Passendes heraussucht. Wie ist das bei Ihnen?
Wir stoßen tatsächlich auch auf ganz unterschiedliche Verständnisse von Nachhaltigkeit. Wenn wir mit dem Umweltamt reden oder mit dem Kulturamt, versteht man dort etwas völlig anderes darunter als zum Beispiel bei einem großen Energieversorger oder bei der Slow-Food-Initiative. Das sind alles Akteure, die wir versuchen in unser Boot zu holen, und wichtig ist tatsächlich, erst einmal allen klarzumachen, was wir selbst unter dem Begriff verstehen.

Jetzt bin ich gespannt.
Das Wort „Nachhaltigkeit“ stammt eigentlich aus der Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts. Dort bedeutete es, nicht mehr Holz pro Jahr zu schlagen, als in der gleichen Zeit nachwachsen kann. Nachhaltigkeit heißt also, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln gut zu haushalten, um heute und in Zukunft ein gutes Leben führen zu können.

Das ist immer noch eine recht weitgespannte Definition.
Und genau deshalb wurde an meinem Heimatinstitut, dem Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse, vor bald 20 Jahren ein „integratives Konzept nachhaltiger Entwicklung“ erarbeitet, das Nachhaltigkeit mit Inhalten und konkreten Zielen füllt. Hierzu haben wir ein Flugblatt gestaltet, auf dem das, was Nachhaltigkeit inhaltlich ausmacht, allgemein verständlich und in aller Kürze dargestellt ist. Abstrakt gesprochen gibt es drei Oberthemen: Die menschliche Existenz zu sichern ist Punkt eins. Punkt zwei ist es, die Fähigkeit der Gesellschaft zu erhalten, Produkte herzustellen und Dienstleistungen bereitzustellen. Und schließlich Punkt drei: deren Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten zu bewahren.

Das Projekt

Zukunftsraum für Nachhaltigkeit und Wissenschaft (Foto: Quartier Zukunft/KIT)
Zukunftsraum für Nachhaltigkeit und Wissenschaft (Foto: Quartier Zukunft/KIT)
Oliver Parodi leitet die Forschungsgruppe „Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation“ am KIT.

Der Bauingenieur und Philosoph Oliver Parodi hat 2011 die Idee vom „Quartier Zukunft – Labor Stadt“ entwickelt. Erklärtes Ziel: In der Karlsruher Oststadt sollen Wissenschaft und Gesellschaft erproben und erforschen, wie eine „Kultur der Nachhaltigkeit entstehen und gelebt werden kann“. Dazu werden Anwohner, Vereine, Initiativen und Unternehmen zusammengebracht, um Pionier-Ideen zu entwickeln und Innovationen auszuprobieren. In den Nachhaltigkeitswissenschaften nennt sich dieser Ansatz heute auch Reallabor – er bringt gezielt Experimente in eine bestehende gesellschaftliche Umgebung ein und die Forscher können so beobachten, was dabei an Neuem entsteht. Dafür gab es 2018 den Forschungspreis „Transformative Wissenschaften“ des Wuppertal Instituts und der Zempelin-Stiftung im Stifterverband. Oliver Parodi leitet die Forschungsgruppe „Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Transformation“ am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT).

Partipartionswerkzeug_Reallabor (Foto: Quartier Zukunft/KIT)
Partipartionswerkzeug_Reallabor (Foto: Quartier Zukunft/KIT)
Ein interaktives sogenanntes Partipartionswerkzeug aus dem Reallabor mit einem Stadtplan der Karlsruher Oststadt, der sich mit Kärtchen bestücken lässt.

Lassen sich solche hehren Ziele überhaupt herunterbrechen auf die Ebene eines einzelnen Stadtviertels, so wie Sie das in der Karlsruher Oststadt versuchen?
Nachhaltigkeit soll nicht in der Nische bleiben und wir sind auch keine Selbsthilfegruppe. Wir versuchen, den Nachhaltigkeitsgedanken bei uns in die Breite zu tragen – und das tun wir, indem wir ganz unterschiedliche Themen ansprechen und die verschiedensten Veranstaltungen anbieten. Wir richten uns also nicht nur an Umweltschützer oder Fahrradaktivisten, sondern sprechen beispielsweise auch mal unspezifisch ein älteres oder junges Publikum an oder auch Unternehmen und öffentliche Verwaltungen.

Werden Sie doch bitte einmal ganz konkret: Was hat sich denn seit Bestehen des Reallabors in der Oststadt verbessert?
Wir wollten im normalen Karlsruher Stadtleben starten und es in Richtung Nachhaltigkeit entwickeln. Da sind an vielen Stellen Änderungen zu sehen – vermeintlich unspektakuläre Dinge, die aber doch großen Einfluss haben. Ein Reparaturcafé etwa, ein Nachbarschaftstreff oder eine Gruppe, die ein Label für Secondhand-Ware entwickelt. Ich habe das noch nie gezählt, aber es sind bislang sicher weit mehr als 30 solcher Impulse von unserem Reallabor ausgegangen.

Nachhaltigkeit ist als theoretisches Konstrukt für Wissenschaftler handhabbar, aber sie ist eben sehr fern vom Alltag. Wie man das Thema übersetzt und auf die Straße bringt, habe ich erst im Reallabor gelernt.
Oliver Parodi (Foto: KIT)
Oliver Parodi (Foto: KIT)

Oliver Parodi

Und wie ist es bei den Unternehmen, die Sie ja ansprachen – was ändert sich dort?
Da geht es langsam voran, zugegebenermaßen. Unternehmen müssen ja Gewinn machen und haben damit Einschränkungen, die es fast unmöglich machen, Nachhaltigkeit in aller Tiefe umzusetzen. Aber es gab über all die Jahre immer wieder insbesondere kleinere, lokale Unternehmen, die gern mit uns zusammengearbeitet haben. Und ich beobachte in jüngster Zeit, dass Nachhaltigkeit auch für große Firmen immer wichtiger wird. Von einem DAX-Unternehmen bis zu größeren Mittelständlern kommen inzwischen immer mehr Unternehmen auf uns zu und melden Beratungs- und auch Änderungsbedarf an. Wir sehen, dass sich auch die Ökonomie Stück für Stück in Richtung Nachhaltigkeit entwickelt.

Was haben Sie denn selbst durch das Reallabor über Ihr großes Forschungsthema, die Nachhaltigkeit, dazugelernt?
Ich war tief verhaftet in wissenschaftstheoretischen und ethischen Fundierungen von Nachhaltigkeit. Dann bin ich sozusagen langsam wieder aufgetaucht in die Praxis (lacht). Das war schon ein großer Lernprozess: Nachhaltigkeit ist als theoretisches Konstrukt für Wissenschaftler handhabbar, aber sie ist eben sehr fern vom Alltag. Wie man das Thema übersetzt und auf die Straße bringt, habe ich erst im Reallabor gelernt.

Sind Sie denn als Forscher in der Karlsruher Oststadt ausschließlich Beobachter der Prozesse, die Sie mit Ihrem Reallabor angestoßen haben – oder nicht auch Akteur?
Wir sind beides, und das macht die Laborarbeit gleichermaßen schwierig wie spannend. Für mich ist das aber eine großartige Kombination: Wir können zugleich wertvolles Wissen erzeugen und auch noch in der Praxis etwas ändern.

Stifterverband
Stifterverband

Im 100. Jahr seines Bestehens sucht der Stifterverband Deutschlands beste 100 Ideen und Projekte für das Bildungs-, Wissenschafts- und Innovationssystem von morgen. Gemeinsam mit dem großen Partnernetzwerk des Stifterverbandes, bestehend aus Stiftungen, Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, vernetzt „Wirkung hoch 100“ Querdenker und Pioniere und verhilft ihren Projekten zum Durchbruch. Für die finanzielle und ideelle Förderung stehen schon jetzt mehr als zwei Millionen Euro bereit.
Gesucht werden Projekte, die geeignet sind, besondere Wirkung zu erzielen, wie zum Beispiel das hier vorgestellte Reallabor „Quartier Zukunft – Labor Stadt“. Auch ist es dem Stifterverband wichtig, dass Projekte die sich bewerben wollen, übertragbar und skalierbar sein sollen. Nicht zuletzt ist der Grad der Vernetzung von Projekten von Bedeutung. Alle Teilnahmekriterien zum Wettbewerb finden sich auf der Ausschreibungsseite. Bewerbungsschluss ist der 14. September 2020. 

Nun ist Ihr Wirkungskreis seit vielen Jahren auf die Karlsruher Oststadt beschränkt. Haben Sie nicht darüber nachgedacht, den Radius zu vergrößern, um auch anderswo ähnliche Impulse zu geben?
Ein Reallabor lebt vom Lokalen und vom Konkreten – das ist die Stärke des Formats, das kann man so nicht über die ganze Welt ausdehnen. Man muss Vertrauen aufbauen, man muss mit konkreten Personen zusammenarbeiten, Netzwerke bilden. Aber unser Reallabor hat trotzdem jetzt eine Ausstrahlungskraft über Karlsruhe hinaus. Wir haben inzwischen Besucher aus mehr als 30 Nationen zu Gast gehabt, die uns befragt und beforscht haben – aus Afrika, Australien, Südamerika, Europa. Einige Projekte haben sich an uns orientiert: Freiburg etwa hat ein Quartier der Zukunft ausgerufen, auch in Nordrhein-Westfalen haben sich mehrere Reallabor-Ansätze bei uns inspiriert.

Bald liegt Ihre Gründungsidee ein Jahrzehnt zurück. Wie soll es weitergehen mit dem Reallabor?
Bislang werden Reallabore als zeitlich begrenzte Unternehmungen aufgesetzt, als Projekte mit Laufzeiten von zwei bis maximal fünf Jahren, dann verschwinden sie wieder. Das ist für mich kein Labor, sondern eher ein Experiment. Ein wesentliches Potenzial des Ansatzes liegt meiner Meinung nach darin, das Reallabor als Labor und transformative Infrastruktur zu institutionalisieren. Vergleichen Sie es doch einmal mit einem naturwissenschaftlichen Labor: Das baut ja auch niemand auf, um es nach drei Jahren wieder einzustampfen.

Gibt es denn ein Ziel, das Sie in den kommenden Jahren erreichen möchten?
Wir arbeiten hart daran, dass wir überflüssig werden. Aber ich glaube nicht, dass das in den nächsten 30 Jahren passieren wird, weil wir einfach noch dermaßen weit von einem nachhaltigen Zustand unserer Gesellschaft entfernt sind. Die Arbeit wird uns so schnell wohl nicht ausgehen.

Oliver Parodi bei Forschergeist

Foto: Quartier Zukunft/KIT
Foto: Quartier Zukunft/KIT

Im Juni 2019 war Oliver Pardi bereits im Stifterverbands-Podgast Forschergeist zu Gast, um von seinem Reallabor zu berichten. Hören Sie hier das ganze Gespräch.
Der Podcast „Forschergeist“ bietet Einblicke in die Arbeit von Wissenschaftlern und versucht auszuloten, was Forschergeist ausmacht: Neugier, Ausdauer und Mut. Moderiert wird der Podcast von Tim Pritlove. Er ist über alle üblichen Podcast-Verzeichnisse abonnierbar (zum Beispiel iTunes) und auch direkt im Webplayer zu hören.

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