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„Wir dürsten nach Orientierung“

Die Welt wird zunehmend unüberschaubar: Immer mehr Menschen verspüren deshalb Zukunftsängste und flüchten sich in scheinbar einfache Lösungsangebote. Doch wir müssen lernen, das Unvorhersehbare zu managen und paradoxe Situationen auszuhalten, meint der Soziologe Thomas Druyen.

Was machen Robotik, Digitalisierung und andere Zukunftsthemen mit unserer Psyche?
Das kommt auf den Beruf und die jeweilige Lebenswelt an. Aber durchschnittlich kann man sagen, dass ein Großteil der Menschen mit latentem Unwohlsein und Ängsten auf Zukunftsthemen reagiert. Die Technik ist aber nur die zweite Einwirkungswelle. Grundlegend sind Unüber­schaubar­keiten in der Politik, in der Gesellschaft, in der Alterssicherung und prinzipiell in der Geschwindigkeit der Veränderung. Trotz der größten Wissensvorkommen der Weltgeschichte sind Verständnis und Durchblick extrem kompliziert und absolute Mangelware. Die Menschen spüren nachhaltig, dass unsere alten Denkmuster, Verhaltensweisen, Problemlösungen und Planungen irgendwie nicht mehr richtig funktionieren.

Was wiederum das Unwohlsein verstärkt?
Jawohl, weil der Druck im Kessel ständig steigt. Brexit, die Eskalationsstufen in der Türkei oder jetzt auch noch die paradoxe Ära Trump. Vorhersagen werden von der Wirklichkeit pulverisiert und hinter der nächsten Ecke lauert mit Gewissheit eine Überraschung – das ist psychisch und neuronal eine totale Überforderung. Dies führt zu einer Verlagerung von der Rationalität – die nicht mehr die lösende Oberhand gewinnt – zur Emotionalität und zur Wahrnehmung aus dem Bauch heraus. Wir dürsten nach Orientierung und brauchen relativ einfache Wege. Und hierbei sind der vermeintlich gesunde Menschenverstand und die eigene Intuition extrem hilfreich.

Thomas Druyen

Thomas Druyen (Foto: Stifterverband)

Thomas Druyen ist Direktor des Institutes für Vergleichende Vermögenskultur und Vermögenspsychologie (IVV) sowie Direktor des Institutes für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement (IZZ) an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien (SFU). 

Website von Thomas Druyen

Bauchgefühl ist das Wort unserer Zeit. Wissenschaftler wie Gerd Gigerenzer postulieren, dass der Mensch mit einem Mix aus Intuition und Heuristiken – also Bauchgefühl und einfachen Grundregeln – Unvorhersehbarkeiten weitaus besser bewältigen kann als mit komplexen Berechnungen und Analysen.
Da trifft Gerd Gigerenzer den Nagel auf den Kopf. Dies hat er ja auch nachhaltig untermauert und erläutert. Dennoch ist es natürlich keine Lösung, wenn wir uns jetzt mit acht Milliarden intuitiven Lebenseinschätzungen auseinandersetzen dürfen. Rationalität und Emotionalität brauchen einen Dialog, und sie müssen idealerweise synchronisiert werden. Nehmen wir die Rententhematik. Ein um 30 Jahre verlängertes Leben bedarf ganz zwangsläufig auch einer viel längeren Lebensarbeitszeit. Das ist vernünftig, nachvollziehbar und unumgänglich. Unser Bauch findet da sicher auch Einwände und Bedenken. Also, um eine bedachte Entscheidung zu treffen, sind Bauch und Kopf vonnöten.

Verstecken sich Entscheider heutzutage zu sehr hinter Formeln, Analysen, Berechnungen?
Diese Praxis hat Hochkonjunktur. Aber die Szenarien bei der Deutschen Bank, bei Volkswagen oder spätestens der US-Wahlkampf haben eindeutig dokumentiert, dass faktengestützten Verlautbarungen und analytischen Ankündigungen allein mit Vorsicht und Skepsis zu begegnen ist. Dennoch kann kein Vorstand auftreten und über sein Bauchgefühl oder den geträumten Kaffeesatz reden. Noch gelten Emotionalität und radikale Offenheit gerade bei uns in Deutschland als Schwäche. Von einer Kultur des Scheiterns, wie sie bei Google längst Normalität ist, sind wir allzu weit entfernt. Insofern bedarf es einer dringenden und präventiven Rückbesinnung auf innere Wertorientierungen. Die Schnelligkeit der Veränderung lässt Fehler in einem veränderten Licht erscheinen: eben als modellhafte Beispiele, neue Erkenntnisse in Echtzeit zu generieren und somit allmählich zu lernen, Unvorhersehbarkeit zu managen.

Wir brauchen also ein klares Statement in Richtung Intuition und Heuristik?
Auf jeden Fall, zumindest als komplementäre Erkenntnishilfen. Je unübersichtlicher, komplexer, verrückter unsere Zukunft erscheinen mag, umso weniger wagen sich im Durchschnitt Menschen und Manager vor, wirkliche Verantwortung zu übernehmen. Es kommt zu einer Stausituation, da sich allzu viele Entscheidungsnotwendigkeiten aufhäufen. Das ist mit einem überfüllten Schreibtisch oder einer überlaufenden Badewanne vergleichbar. Ab einer bestimmten Schwelle gibt es nur noch Reaktion und Fremdbestimmung, die Regie hat man total verloren. Dieser Punkt scheint in vielen Lebensbereichen erreicht oder überschritten zu sein. Ob weltweite Verschuldung, Flüchtlingsdramen oder Finanzmärkte – präventive Souveränität ist nicht in Sicht. Alles scheint nach Notfallszenarien abzulaufen. Daher helfen Intuition und Heuristiken, das Gefangenendilemma der Entscheidungsverschiebung aufzulösen.

Thomas Druyen im Video-Interview

„Wir haben noch nie so viel Wissen in der Welt gehabt und noch nie so wenig Verständnis. Und das führt zu einem latenten Unwohlsein bei den meisten, irgendwo.“

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Die Krux des Zögerns

Wird das jetzt der Kompass auf dem Weg in eine immer komplexer werdende Zukunft: den oder die wichtigsten Gründe für ein Themenfeld identifizieren, anschließend die Intuition nur darauf ausrichten und den ganzen Rest ignorieren?
Es gibt kein simples Allheilmittel, um durch Komplexität zu navigieren. Daher brauchen wir lernende und sich ergänzende Erkenntnissysteme. Aber Ihre Andeutung in Richtung Kompass ist sehr hilfreich. Ehe wir uns vor lauter Wissensoptionen gar nicht mehr selbst bewegen, sondern lediglich von anderen wie Alphabet Inc. oder Amazon und so weiter bewegt werden, ist die Rückgewinnung eines eigenen Koordinatensystems völlig unverzichtbar. Vernunft, Emotionalität, Faktenlage und gesunder Menschenverstand sind verschiedene Stränge, um Handlungsurteile zu fällen. Aber gefällte Urteile oder klare Meinungsäußerungen ohne Handlung und Umsetzung sind nichtig und mehr oder weniger ein Gestaltungsverzicht. Das ist die große Krux des Zögern, Wartens und Fernbleibens: Die Entscheidung treffen dann die anderen. Insofern gibt auch der Nichtwähler eine Stimme ab oder besser: Er verschenkt sie, ohne ihre Wirkung zu kennen. 

Forscht Ihr Zukunftsinstitut bereits an Heuristiken, die wichtig werden?
Ja, in der Tat. Unser neues Forschungsfeld heißt nicht umsonst Zukunftspsychologie. Wir untersuchen die Auswirkungen der demografischen Zäsur, der Digitalisierung, der künstlichen Intelligenz und auch der Robotik auf unsere Psyche und unsere Gefühle. Was machen diese gravierenden Veränderungen und vor allem die radikale Beschleunigung mit unserer Innenwelt? Wie können wir uns in diesem Meer des Wandels und in diesem Tsunami der Informationen behaupten und vernünftige Entscheidungen treffen? Vor diesem Hintergrund beschäftigen wir uns mit Konzepten des Probehandelns, um ein präventives Gerüst für diese Zeiten der Unvorhersehbarkeit zu gewinnen. Vergleichen Sie es mit der umfassenden Vorbereitung eines Astronauten auf einen Raumflug. Da werden so viele Eventualitäten wie möglich bedacht und geübt. Für die Zukunft brauchen wir die richtige Einstellung und die richtige Ausrüstung. Übergewicht und Übergepäck sind wahrlich gefährlich. 

Wir müssen lernen, paradoxe Situationen besser auszuhalten.

Thomas Druyen

Was müssen wir noch ablegen, damit dies gelingt?
Wir müssen lernen, paradoxe Situationen besser auszuhalten. Bislang haben wir immer versucht, Widersprüchlichkeiten aufzulösen und die Gegenteile zu harmonisieren. Dieses Modell hat über Jahrhunderte gut funktioniert, aber diese Zeit ist vorbei. Nehmen wir ein Beispiel: Der Satz „Alt werden, aber nicht alt sein“ hat eine ganz lange Tradition. Er gilt als paradox. Das ist er aber nicht mehr. Heute müssen wir beides lernen, üben und umsetzen. Alt werden ist eine Kunst und alt sein noch mehr. Da heutzutage ganz viele unterschiedliche Wahrheiten existieren – die je nach Perspektive auch einleuchtend erscheinen –, sind wir gezwungen, Paradoxien zu ertragen und anzunehmen.

Was wäre hierfür ein weiteres Beispiel?
In vielen Berufen oder Entscheidungsfunktionen ist es unmöglich geworden, die vorhandene und täglich wachsende Fachliteratur zu lesen. Niemand schafft es heute mehr zu lesen, was er eigentlich glaubt, lesen zu müssen: für den Job, die persönliche Entwicklung, Zukunftsentscheidungen oder über Gesundheit und Ernährung.  Gleichzeitig gab es nie mehr Wissen und war es nie leichter, genau an diese Informationen heranzukommen, als jemals zuvor. Dieser Widerspruch lässt sich nicht mehr lösen: Wir können unsere Zeit, unsere Lesestrategie nicht mehr weiter optimieren, wir müssen diesen Widerspruch schlichtweg akzeptieren, aushalten und neue Wege suchen. Da erscheint die künstliche Intelligenz tatsächlich als evolutionäre Erweiterung und konsequente Selbstverständlichkeit.

Ist das nicht auch ein Grund dafür, dass wir uns immer stärker an die Zukunft ausgeliefert fühlen: Was wir auch tun, wir haben damit keinen Erfolg mehr?
Das ist eine Denksackgasse, aus der wir dringend rausmüssen! Ja, alles wird auf den Kopf gestellt – akzeptieren wir es, auch wenn sich immer mehr nicht mit den alten Mustern erklären, sortieren, analysieren oder lösen lässt. Aber eins sollten wir uns dennoch selbstbewusst vor Augen führen: Die flächendeckende Stärke der algorithmischen Technologie ist vor allem die korrelative Speicherkapazität – ein grandioses Dienstleistungsuniversum. Aber das Unbekannte, das Unbewusste, unsere Zweifel, unsere Träume oder unsere Gedanken werden sich noch lange der externen Fokussierung und Speicherung entziehen. Es bleibt genug Raum für uns, den Unerklärbarkeiten der neuen Welt mit menschlichen Entscheidungen und Einsichten in die Parade zu fahren. Dennoch geht es mit und nicht gegen die Technik.

Heuristiken, Intuition, Probehandeln, eine andere Fehlerkultur – was kann uns noch helfen?
Zur dynamischen Beantwortung dieser Frage arbeitet mein Institut an Studien, Büchern, Doktorarbeiten. Erste konkrete Ergebnisse zu einem Zukunftsbarometer sind schon für das kommende Jahr geplant. Grundsätzlich aber brauchen wir in dieser historischen Situation ganz wesentlich Selbstbewusstsein, Mut und Talent. Diese Tugendausstattung brauchen unsere Kinder und Jugendlichen. Das ist jetzt die ultimative Grundlagenarbeit unserer Gesellschaft. Zukunftsausrichtung und Zukunftsbewältigung beginnen in der Schule, in der Kita – dort muss Bildung neu ausgerichtet und revolutioniert werden. Zukunft beginnt immer im Kopf.