Hack Your Campus 2018 (Foto: David Ausserhofer)

„Wir lassen die jungen Leute einfach machen“

Datenkompetenz ist das neue Lesen und Schreiben, meint Cathryn Carson. In ihren Uni-Kursen in Berkeley stürzen sich die Studierenden geradezu auf das Thema. Wie schürt man so viel Begeisterung für ein scheinbar dröges Thema? Ein Interview.

In Ihrer Vorlesung „Data 8“ sitzen regelmäßig 1.300 Studierende. Alle kommen freiwillig, um zu lernen, wie man mit Daten umgeht. Das ist enorm.
Zum Herbst wollten sich sogar 1.600 Studierende einschreiben. Aber da wäre der Hörsaal aus den Nähten geplatzt, wenn wir sie alle zugelassen hätten.

Andernorts machen Studierende einen Bogen um Computer- und Statistikkurse. Was ist an Ihrer Universität anders?
Vielleicht die kalifornische Silicon-Valley-Luft! Aber Spaß beiseite: 1.600 Studierende pro Semester sind etwa ein Drittel der Studentenkohorte. Nur jeder Dritte ist also bis jetzt interessiert, in dieses extrem wichtige Wissen einzutauchen. Die verbleibenden zwei Drittel müssten wir eigentlich auch erreichen. Ebenso die Fakultätsmitarbeiter aller Disziplinen.

Sie denken also größer?
Scaling up – das ist in Berkeley unser wichtigstes Ziel für Data Literacy. Wir arbeiten seit vier Jahren daran, dass unsere Studierenden ihre Kenntnisse über einen planvollen und sinnvollen Umgang mit Daten bis in den letzten Winkel der Universität verbreiten, in jeden Fachbereich, in jedes Labor, soweit das überhaupt sinnvoll ist.

Moment mal: Die Studierenden sollen das tun, nicht die Lehrkräfte?
Ja. Eine Kohorte von Professoren lehrt in Berkeley zwar Datenwissenschaft und vermittelt Data-Literacy-Kompetenzen. Wenn eine Universität aber in dieser Größenordnung denkt, geht das nur mit den Studierenden zusammen. Und unsere Erfahrung zeigt: Der Weg über die Studierenden funktioniert erstaunlich gut. Wir lassen die jungen Leute einfach machen.

Inwiefern?
Man muss wissen: Unser Data-8-Grundkurs ist alles andere als eine Pflichtveranstaltung, sondern richtig beliebt. Die Studierenden kommen, weil sie im Bus auf der Fahrt zur Universität von Kommilitonen hören: „Du musst diesen Kurs belegen, unbedingt. Jetzt weißt du zwar noch nicht, warum, aber du wirst ihn lieben!“ 
 

Zur Person

Cathryn Carson (Foto: David Ausserhofer)
Cathryn Carson (Foto: David Ausserhofer)

Cathryn Carson ist in den USA Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der University of California, Berkeley. Unter ihrer Leitung wird seit 2014 das hochschulinterne „Data Science Education Program“ aufgebaut. Als eine der führenden Expertinnen für Data-Literacy-Lehre an Hochschulen saß Cathry Carson auch in der Jury des Förderprogramms Data Literacy Education von Stifterverband und Heinz Nixdorf Stiftung.  

Mehr zum Förderprogramm 

Die Begeisterung verbreitet sich also auf dem Campus schon fast wie ein Virus. Dann lernen die jungen Leute im Kurs Data 8 persönlich die Kraft und gestalterische Macht der Datenwissenschaft für Gesellschaft und Politik oder im Umweltbereich kennen, was viele nicht mehr loslässt. Sie wollen dieses Wissen, wie man Daten erfasst, erkundet, analysiert, visualisiert oder interpretiert, anschließend unbedingt genauso auf fundamentale Fragen ihrer jeweiligen Fachdisziplinen anwenden. 

Was teils schwierig sein dürfte. Fachbereiche wie Soziologie oder Geschichte sind bislang wenig datenaffin. 
Das stimmt. Einige Fachdisziplinen öffnen sich der Datenwissenschaft und den Analysemethoden erst zögerlich, was Studierende aber eher anspornt als entmutigt. In Berkeley kommt es immer wieder vor, dass sie dann kurzerhand als Peers von Lehrkräften bestehende Projekte oder Curricula transformieren. Bei uns haben Bachelor- und Masterstudierenden in einigen Fächern mehr Datenmodule und Analytics-Methoden für Vorlesungen und Fakultäten angestoßen und gestaltet als Professoren.

Du musst diesen Kurs belegen, unbedingt. Jetzt weißt du zwar noch nicht, warum, aber du wirst ihn lieben!

Foto: John Schnobrich via Unsplash

Beeindruckend. Auch die Connector-Kurse entstehen so, die auf Data 8 aufbauen und das Datenverständnis in einzelnen Wissenschaftsfeldern vertiefen sollen. Fakultäten entwickeln sie selbst. Hätten Sie Beispiele aus der Soziologie und Geschichte?
Im Frühjahr startet der Connector-Kurs „Children in the Developing World“. Studierende werden darin Daten aus Befragungen einzelner Haushalte in Relation setzen, wie Kinder in Entwicklungsländern ernährt und gebildet sind. Über Datensätze sollen also Einsichten erarbeitet werden, welche sozioökonomischen Variablen die Bildung und das Wachstum von benachteiligten Kindern fördern oder behindern. 

Ein wirklich schöner Connector-Kurs ist zudem – Sie wissen, ich bin Historikerin – „Making History Count: The Anthropocene and Data Science“. Darin geht es um das menschengemachte Zeitalter: das Anthropozän, in dem der Mensch großen Einfluss auf unseren Planeten nimmt. Im Kurs lernen die Studierenden mithilfe von Big Data, wie man aktuelle Entwicklungen als Teil einer geschichtlichen Entwicklung verstehen kann – der industriellen Revolution, des weltweiten Handels oder des Wirtschaftswunders Mitte des 20. Jahrhunderts. Es geht darum, dass Studierende lernen, wie man datengestützt solide Aussagen in diesem komplexen Feld treffen kann.

Ein sehr beliebter Grundkurs, spannende Connector-Kurse, spezielle Ethikkurse – Ihr „Data Science Education Program“ gilt weltweit bereits als Vorbild.
Dafür sind wir natürlich sehr dankbar, das freut uns außerordentlich – und wir helfen da auch gern anderen weiter! Überall erleben Hochschulen ja gerade dieselbe Transformation, ob jetzt in der Lehre oder in der Forschung. Berkeley ist in der glücklichen Lage, das schnell zu tun und auch vorn mit dabei zu sein. Aber auch wir lernen fortwährend dazu. Dabei hilft uns der Gestaltungsdrang unserer Studierenden, ihre Offenheit zur Kollaboration und ihre Energie wirklich sehr. Sie sind auf Ideen gekommen, die wir als Programmteam so niemals gehabt hätten. Auch Postdocs und Professoren erzählen uns immer wieder: „Wenn wir Studierende aus eurem Programm nehmen, können wir ganz anders und neu forschen, weil sie Fähigkeiten mitbringen, die wir vorher nicht hatten.“

Man könnte sagen, dass wir mit unserem Programm, sozusagen als Nebenprodukt, eine generationsübergreifende Partnerschaft auf dem Campus organisieren, bei der das Wissen in beide Richtungen fließt. 

Die Begeisterung verbreitet sich auf dem Campus schon fast wie ein Virus.

Cathryn Carson

Professorin für Wissenschaftsgeschichte an der University of California, Berkeley

Cathryn Carson im Video-Interview

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Cathryn Carson (Screenshot: Stifterverband)

Auf dem Basiswissen aus Data 8, Ihrem Grundkurs, baut Ihr gesamtes Konzept auf. Wie schaffen Sie es, dass die Studierenden gerade in diesem Kurs nicht wieder verloren gehen, wenn erst der kühle Wind von Statistik- und Programmierübungen durch den Hörsaal weht?
Das stimmt, das ist eine Hürde. Einige Teilnehmer kommen auch bloß in unsere Kurse, weil sie einen Nachweis über Statistikkenntnisse haben wollen. Aber selbst die ziehen wir größtenteils in die Datenwelt hinein. 

Das schaffen wir über unser Lehrdesign, das Datenwissenschaft und Statistik anhand von realen Problemen vermittelt. Dabei setzen wir ganz bewusst auf Themenfelder, die sehr vielen Kursteilnehmern am Herzen liegen. Wie man beispielsweise den Zugang zu sauberem Trinkwasser organisiert oder Armut effektiver bekämpft.

Läuft das als fiktive Übung oder mit echten Daten?
Ein sehr wichtiger Punkt: Die Studierenden bekommen sofort echte Daten an die Hand und erarbeiten reale Lösungsansätze – und sind nicht selten verblüfft, was sie damit auf eigentlich recht einfache Art und Weise alles anfangen können. Viele empfinden den Wechsel vom reinen Datenkonsumenten zum Datenproduzenten als überraschend wichtig und kraftvoll. Wir hören das im Teilnehmerfeedback zu Data 8 und auch zu unseren Connector-Kursen öfters: „Ich hätte niemals gedacht, dass Datenwissenschaft etwas für mich sein könnte – und jetzt ist es plötzlich ein Teil von mir.“ Mir als Professorin geht da das Herz auf.

Weil Ihr Programm so gut funktioniert?
Sicher, das auch. Viel wichtiger ist mir aber, dass wir Tausende junge Wissenschaftler erreichen. Wenn diese jungen Leute zukünftig ihre Datenkompetenz ethisch und verantwortlich einsetzen – und so den Datenreichtum unserer Welt nicht alleine den profitorientierten Interessen überlassen – kann unsere Welt hoffentlich gerechter werden. Datenkompetenz und statistisches Wissen sind auch effektive Hebel gegen Fake News und die sich mehrenden Zweifel an der Integrität von Wissenschaft. Davon bin ich überzeugt.