Illustration von Bernd Struckmeyer
Illustration: Bernd Struckmeyer

„Wir nehmen den jungen Menschen ein Stück Zukunft weg“

Es fehlen 17.000 Lehrkräfte für Informatik an deutschen Schulen. Für die Informatiklehrerin und Universitätsdozentin Viktoria Zoeger ist diese Lücke ein hausgemachtes Problem. Wen sie hierfür in der Verantwortung sieht und was ihr eigener Schulunterricht mit den Jugendlichen macht, erzählt sie im Interview.

Informatiklehrkräfte sind immer noch rar hierzulande – überrascht Sie das?
Nein, das überrascht mich gar nicht. Deutschlands Lehramtsausbildung wurde über viele Jahre hinweg stark vernachlässigt – sowohl an den Hochschulen als auch in der Politik. Es gab in der Vergangenheit sogar Entscheidungen, die konträr zum Trend getroffen wurden: Als vor etwa 20 Jahren IT und Digitalisierung stark an Fahrt aufnahmen, begann die Bildungspolitik in Bremen beispielsweise damit, an Gymnasien die Leistungskurse für Informatik abzubauen. 

Das klingt grotesk.
Das ist es auch.

Womit hat die Bildungspolitik das begründet?
Damit, dass man in Bremen bereits zwei Schulen mit IT-Angeboten habe und das reichen müsse. Gemeint waren das Technische Bildungszentrum Mitte, ein berufsschulisches Gymnasium, und das Schulzentrum Utbremen, das für IT-Berufe ausgebildet. Es hieß: Wer später im Berufsleben „etwas mit Informatik“ machen wolle, der könne dort hingehen, man brauche das nicht überall. 

Digitale Kompetenzen und IT-Wissen braucht heute jedes Kind, was 2022 alle wissen dürften. 
Diese Haltung hat sich sicher mittlerweile auch überall durchgesetzt. Jetzt sind es wohl eher die fehlenden Lehrkräfte, die einen flächendeckenden Informatikunterricht ausbremsen. Wir brauchen vor allem die Grundkurse in der Sekundarstufe II und mindestens zwei Unterrichtsstunden pro Woche ab der Klasse fünf in der Breite, weil wir jedes Kind erreichen müssen – noch besser wäre ab der Grundschule. Solche Kurse sollten Pflicht werden.

Informatikunterricht: Lehrkräfte benötigt

Infotafel: Es fehlen 27.000 Informatiklehrkräfte
Illustration: Stifterverband

Der Stifterverband hat in einer Studie erstmals die Zahl der Lehrbefähigungen in Informatik über die Bundesländer hinweg zusammengetragen. Demnach gibt es deutschlandweit etwa 10.000 ausgebildete Lehrkräfte an weiterführenden Schulen. Für die notwendige Einführung eines deutschlandweiten Pflichtfaches Informatik auf Spitzenniveau ab der Sekundarstufe I – wie in Mecklenburg-Vorpommern – werden bundesweit mindestens 27.000 Lehrkräfte benötigt. Die große Lücke von 17.000 Lehrkräften kann mit rund 360 Absolventinnen und Absolventen im Jahr in naher Zukunft nicht geschlossen werden.

Zur Studie

Bremen geht das Schulpflichtfach Informatik ab Klasse fünf derzeit allerdings nicht an, genauso wenig wie Hessen. Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen haben es längst eingeführt.
Die neuen Bundesländer sind diesbezüglich offener, sie fremdeln weniger mit der Informatik. Wahrscheinlich ist das noch ein Überbleibsel aus der DDR-Zeit, wo allein schon das Frauenbild gegenüber Technik und Maschinen bekanntermaßen ein ganz anderes war. Ehrlich gesagt ist es mir ein Rätsel, warum sich vor allem die alten Bundesländer so schwer mit der Informatik tun. Wobei man sagen muss, dass es auch dort endlich langsam vorangeht. Niedersachsen beispielsweise will dieses Pflichtfach 2024 einführen.

Es gibt die Informatikkurse in der Sekundarstufe I …
Ja, die werden manchmal als ITG bezeichnet. Diese Kurse erreichen aber die Fünft- bis Zehntklässler nur ein Halbjahr lang, was nicht ausreicht.

Abgesehen davon mahlen die Mühlen auch in der Oberstufe wirklich sehr langsam. Dort sind in Deutschland seit 2005 unverändert nur 2 Prozent aller Grund- und Leistungskurse Informatikkurse. Das ergaben zwei Studien vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und von der Heinz Nixdorf Stiftung. Auch der Anteil an Schülerinnen und Schülern, die Informatik belegen, hat sich seither kaum verändert. Was verpasst das Gros der Jugendlichen?
Da Informations- und Kommunikationstechnologien, aber auch Datenanalysen oder die künstliche Intelligenz mittlerweile unser ganzes Leben und die Gesellschaft durchdringen, verstehen diese jungen Menschen dann auch zwangsläufig weniger von der Welt, könnte man sagen. Nicht alle werden für die Informatik brennen, das ist klar. Die Grundlagen müssen sie aber mindestens wissen und Computer und Internet dürfen für sie keine Blackbox sein. Abgesehen davon starten die Jugendlichen, die Informatikwissen und entsprechende IT-Kompetenzen haben, auch gestärkt ins Arbeitsleben und können Karrierewege einschlagen, die ihnen ansonsten verbaut wären. Ich finde deshalb, wir nehmen sehr vielen jungen Menschen durch den fehlenden Unterricht ein Stück Zukunft weg.

Die Konkurrenz ist groß - auch andere Bereiche brauchen dringend Fachkräfte mit Informatikwissen. Viele brechen ihr Lehramtsstudium ab, weil sie abgeworben werden und anderswo mehr verdienen können.
Viktoria Zoeger (Foto:privat)

Viktoria Zoeger

Informatiklehrerin und Hochschuldozentin

Noch fehlen die Lehrkräfte. Glauben Sie, dass Deutschland dieses Problem bald in den Griff bekommt? Sie selbst gestalten an der Universität Oldenburg mit einer halben Stelle die Didaktik für Informatik in der Lehramtsausbildung mit.
Ich finde schon, dass Deutschland über eine bessere Lehramtsausbildung schnell aufholen könnte. Hierfür müssten wir aber die bürokratischen Hürden runterschrauben, mehr finanzielle Anreize für angehende Lehrkräfte im Bereich Informatik schaffen und die Hochschullehre im Bereich Informatikdidaktik ausbauen.

Das fordert auch der Stifterverband seit Jahren. Dagegen steht die nackte Realität: 2020 bestanden nur 361 Studierende ihre Abschlussprüfung im Lehramt Informatik und die Zahl der Studienabbrecherinnen und -abbrecher ist in diesem Bereich hoch.  
Ja, die Konkurrenz ist groß – auch andere Bereiche brauchen dringend Fachkräfte mit Informatikwissen. Viele brechen ihr Lehramtsstudium ab, weil sie abgeworben werden und anderswo mehr verdienen können. 
Es gibt aber auch den umgekehrten Fall: Viele Fachkräfte mit IT-Wissen erkennen nach einigen Jahren in der Wirtschaft, dass sie lieber mit jungen Menschen arbeiten möchten, und überlegen einen Quereinstieg ins Lehramt. Diesen Moment darf man nicht unnötig mit bürokratischen Hürden erschweren! Deshalb hat die Universität Oldenburg mit Projektpartnern zusammen die nagelneue Initiative #WerdeInformatikLehrerin realisiert. Sie bietet über ihre Website viel Orientierung, wie man einen Quereinstieg in den einzelnen Bundesländern schaffen kann.

Sollten wir nicht grundlegend viel mehr junge Menschen in die Informatik reinholen?
Natürlich. Das klappt wiederum durch einen guten Unterricht an der Schule.

Sie unterrichten seit 17 Jahren Informatik und Mathematik am Schulzentrum Walle in Bremen. Was lernen die jungen Leute bei Ihnen?
Das alles aufzuzählen, würde hier den Rahmen sprengen! (lacht) Sie lernen beispielsweise die Grundlagen von mindestens drei Programmiersprachen kennen, aber auch die Algorithmik oder das algorithmische Denken. 

Sind nicht gerade die Programmiersprachen das, was viele abschreckt? Ich denke da an weiße Formeln auf schwarzem Untergrund.
An denen kommt man leider nicht vorbei. Die Programmiersprachen sehen heute aber teils anders aus, manche sind visueller, also bildlicher, und damit leichter verständlich. Scratch oder Blockly verstehen die Kinder und Jugendlichen schnell und das macht dann auch Spaß, damit irgendetwas zu tun. Zu beiden Programmiersprachen gibt es jede Menge gutes und frei zugängliches Unterrichtsmaterial, das jede Lehrkraft nutzen kann. Aber auch die Schulbücher für Informatik von den großen Schulbuchverlagen finde ich neuerdings sehr gut – weil sie endlich die Grundlagen und gesellschaftlichen Auswirkungen der brandneuen Technologien vermitteln, wie KI und Machine Learning.

Projektarbeit ist besonders wichtig

Moderne Schulbücher sollten natürlich sein. Machen die freien Unterrichtsmaterialien aus dem Internet Ihre Arbeit dennoch leichter?
Mit den ganzen Online-Unterstützungsplattformen ist es anders geworden, aber nicht leichter. Man kann sich das nicht so vorstellen, dass man die Schülergruppe vor einen solchen Lehrpfad setzt und nach vier Wochen können die Kinder alles. Das funktioniert nicht, sie müssen dort durchgeführt werden und natürlich auch viel Feedback auf dem Weg bekommen. Außerdem lernt man ja vor allem über Emotionen, die ein Maschinensystem nur dürftig geben kann.

Die didaktische Qualität solcher Materialien ist teils sehr hoch. Nutzen Sie solche Angebote im Unterricht, beispielsweise vom MIT oder von anderen weltweit führenden Hochschulen?
Wenn sie ins Deutsche übersetzt sind, dann ja. Denn die Schule, an der ich arbeite, liegt in einem Brennpunkt – da kann man nicht davon ausgehen, dass alle gut Englisch können. Ich nutze beispielsweise den sehr guten Kurs „Computer Science Circles“ von der University of Waterloo aus Kanada. Der wurde von der Gesellschaft für Informatik im Rahmen der bundesweiten Informatikwettbewerbe ins Deutsche adaptiert. 

Jugendliche, die Informatikwissen und entsprechende IT-Kompetenzen haben, starten gestärkt ins Arbeitsleben und können Karrierewege einschlagen, die ihnen ansonsten verbaut wären.
Viktoria Zoeger (Foto:privat)

Viktoria Zoeger

unterrichtet Informatik und Mathematik

Ein in Kanada didaktisch wohlüberlegter Informatikkurs hilft also beim Bildungsaufstieg in Bremen mit?
Das ist schön, oder? Heute geht das alles.
Ich bin ja schon lange dabei und treffe hier und da durch Zufall ehemalige Schülerinnen und Schüler wieder. Von denen haben sich tatsächlich schon mehrere bei mir bedankt und gesagt, dass ihnen ihr Informatikwissen aus der Schule das Studium gerettet habe. Das zu hören, freut mich natürlich sehr! Manche wollen sogar beruflich tiefer in die Informatik einsteigen.

Gibt es Dinge im Informatikunterricht, die besonders lange nachhallen und deshalb unbedingt dazugehören sollten?
Was immer wieder heraussticht, ist die Projektarbeit. Dabei dürfen die Jugendlichen ihre eigenen Ideen umsetzen, was sie intrinsisch stark motiviert. Am Ende kommen bei dieser Teamarbeit oft so tolle Projekte heraus, dass sie mir buchstäblich die Tränen in die Augen treiben – weil es mich so rührt, das zu sehen. Eine Gruppe entwickelte zum Beispiel ein funktionsfähiges Musikportal nach dem Spotify-Beispiel. Andere bauten eine datenbankbasierte Website mit Tausenden von Datensätzen zur Winterolympiade mit Suchfunktionen zu Weltrekorden oder Athleten. Ich finde, solche Erfolgserlebnisse sollten wir allen Kindern mit auf den Weg geben. Auch deshalb brauchen wir das Pflichtfach Informatik an jeder Schule.

DER STIFTERVERBAND WILL MINT-POTENZIALE HEBEN

Der Stifterverband ist überzeugt: Um Wirtschaft und Gesellschaft resilient und zukunftsfähig auszurichten, spielt die MINT-Bildung (MINT= Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) eine entscheidende Rolle. Um die MINT-Potenziale der Gesellschaft zu heben, setzt sich der Stifterverband gemeinsam mit Partnern unter anderem dafür ein, ausreichend MINT-Fachkräfte auszubilden, zu halten und mit entsprechenden Zukunftskompetenzen zu qualifizieren. Dazu fördert er aktuell unter anderem: 

Übersicht über Stifterverbands-Aktivitäten im Bereich MINT

Weitere Artikel zum Thema MINT und ZUkunftskompetenzen gibt es in der MERTON-Artikelserie Warum MINT-Kompetenzen unverzichtbar sind.