Wir lieben Geschichten, Mythen, Legenden. Die Wissenschaft muss ihre Geschichten neu erzählen. (iStock/ Avid Creative)

Wissenschaft muss uns wieder neu bezaubern

Kolumne,

Was wäre eine Geschichte mit dem rationalen und emotionslosen Spock, aber ohne den draufgängerischen Captain Kirk? Langweilig, sagt unser Kolumnist Patrick Breitenbach. Wenn man für Wissenschaft begeistern will, muss man ihre Geschichten deshalb spannend erzählen. Erst dann könne Wissenschaft ihre ganze aufklärerische Kraft in der Gesellschaft entfalten und Demagogen und Verschwörungstheoretiker in ihre Schranken weisen.

Wie erblicken wir eigentlich die Welt? Nun, Lichtreize fallen in zwei winzige Löcher unseres Kopfes und werden dann mittels Nervenbahnen in unser Gehirn weitergeleitet. Dort findet dann eine Art Ordnung dieser rohen Reize statt. Dabei entsteht nicht einfach nur ein starres Abbild wie bei einer Kamera, sondern dieser Vorgang ist sowieso ständig in Bewegung; das Gehirn nimmt zugleich eine kontextuale Einordnung dieser Reize in Form von Geschichten vor. Sehen – hören, fühlen, riechen natürlich auch – produziert immer eine Geschichte und/oder referenziert auf eine bereits vorhandene, mag sie auch noch so klein und belanglos daherkommen. Um ein Glas Orangensaft wahrzunehmen, müssen Sie wissen, was man mit dem Glas Orangensaft alles anfangen kann – wie man das Objekt kontextual einordnet. Sie haben dazu vielleicht schon sehr viele Geschichten und Verknüpfungen im Kopf. Sollten Sie Orangensaft jedoch noch nicht kennen, so haben Sie nun die Wahl, wie Sie sich diesen Orangensaft erschließen. Entweder Sie interagieren mit ihm oder beobachten Interaktionen der anderen oder lassen sich von Interaktionen der anderen erzählen. Im Mittelpunkt stehen jedoch stets die Geschichten des Orangensaftes und damit die Einordnung des Objektes in einen größeren Sinnzusammenhang. 

Und so begegnen wir Tausenden dieser kleinen und ganz großen Geschichten in unserem Leben. Es gibt regelrechte Erzählstränge und Story-Universen. „Kultur“ ist so ein großer Erzählstrang, der sich über Tausende Jahre per Kommunikation durch die Weltgeschichte schlängelt und zugleich bei Menschen dafür sorgt, dass sie durch diese Geschichten eine Identität entwickeln. Ich erzähle, also bin ich. Wir saugen diese großen und kleinen Geschichten von Geburt an in uns auf. Daher ist es nur indirekt entscheidend, an welchem geografischen Ort wir geboren werden. Entscheidend ist eher, in welchen Erzählstrang wir hineingeboren werden. Glauben die Menschen um uns herum, die Welt sei von einem allmächtigen Wesen gelenkt, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir es auch glauben – es sei denn, wir erleben alternative Geschichten, die uns von einem ganz anderen Erzählstrang überzeugen. Zum Beispiel von einem Erzählstrang der Wissenschaft, welcher uns eine ganz andere Perspektive auf die Wirklichkeitskonstruktion der Welt ermöglicht.

Entzauberung der Welt

Apropos Wissenschaft und Mythen: Das große Zeitalter der Aufklärung – also die Top-Story für die Verwissenschaftlichung der Welt schlechthin – zog damals in den Krieg der Geschichten. Die Aufklärung wollte unter anderem mit den mystischen Geschichten der Theologen und Ideologen brechen. Dies gelang einerseits durch die Sezierung, also Dekonstruktion, der alten mystischen Geschichten und andererseits durch die anschließende Überschreibung mit neuen Erzählungen, also durch eine neue Konstruktion. Doch ganz so einfach ist dieser Vorgang nicht und viele Menschen sind ziemlich gereizt, wenn man ihnen ihre identitätsstiftenden Geschichten rauben will. Daher verwende ich bewusst den Terminus „Krieg“. Man kann sich das besser mit einer kleinen Geschichte vorstellen:

Ein Mann steht auf einer Bühne und zersägt eine Frau in einer Kiste. Jedenfalls will er diesen Eindruck erwecken. Als er die beiden Kisten auseinanderschiebt, sieht der Beobachter im Publikum, dass die Frau trotz ihrer „Zersägtheit“ noch vollkommen intakt ist und mit Armen und Füßen wackelt. Wow! Was für ein Wunder! Das Publikum raunt vor Entzückung und attestiert dem Zersäger magische Kräfte. Doch plötzlich steht ein Mann im Publikum empört auf und brüllt: „Sie Scharlatan! Das ist doch alles nur ein billiger Trick! Sie haben in Wirklichkeit zwei Frauen in zwei Kisten gequetscht und gaukeln uns hier doch nur etwas vor! Betrüger!“ Das restliche Publikum fängt an zu buhen und es fliegen Gegenstände durch den Saal. Und zwar genau auf den empörten Beobachter, der den Magier soeben auf der Bühne entzaubert hat. 

Die Vernetzung der Dinge

Patrick Breitenbach (Illustration: Irene Sackmann)

Die Vernetzung der Dinge heißt Patrick Breitenbachs regelmäßige Kolumne über Innovation, Digitalisierung und Wandel. Breitenbach ist derzeit Senior Manager Corporate Learning bei Bayernwerk und entwickelt dort Konzepte, Strategien und Formate zum Thema Lernen und unterstützt das Unternehmen im digitalen und nachhaltigen Wandel. Als gelernter Mediendesigner und langjähriger Podcaster beschäftigt er sich seit vielen Jahren autodidaktisch mit der soziologischen, ökonomischen, politischen, philosophischen, pädagogischen und kulturellen Perspektive der Digitalisierung.

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Mit jeder nüchternen wissenschaftlichen Erkenntnis stirbt irgendwo ein kleines, süßes Einhornbaby.

Patrick Breitenbach

Der große Soziologe Max Weber prägte den Begriff "Die Entzauberung der Welt". Weber beschreibt damit den soziologischen Effekt, der durch Intellektualisierung entsteht, nämlich eine Entzauberung der Welt für deren Betrachter. Je nüchterner, sachlicher und abstrakter Wissenschaft erzählt und je stärker das Verstandesmäßige betont wird, desto weniger Zauber bleibt für die Menschen übrig, die eigentlich bisher ausgesprochen gerne interessanten Erzählsträngen gefolgt sind. Heute würde man wohl sagen: Mit jeder nüchternen wissenschaftlichen Erkenntnis stirbt irgendwo ein kleines, süßes Einhornbaby.

Fantasie versus Fakten

Dabei lieben die meisten Menschen gerade die kontrastreichen, blumigen und emotionalen Geschichten. Wir lieben Gerüchte, Legenden, Mythen – kurzum alles, was uns erstaunt, gruselt, in Erregung versetzt oder irgendwie verzaubert. All das Kontraststarke, das Übersinnliche, also all das, was über unsere eigene Vorstellungskraft hinausgeht, zieht uns magisch in den Bann. Wir wundern uns eben ganz gerne. Wir wollen mit und durch diese Geschichten die Welt erfühlen. Kein Wunder also, dass die spannend erzählten Verschwörungsgeschichten auf YouTube weitaus häufiger geteilt werden in den sozialen Netzwerken als kompliziert formulierte kulturwissenschaftliche Essays über Herrschaft und Macht.

Die Wissenschaft hinterlässt, neben all ihrer Aufklärung, eben leider auch bei vielen Menschen eine emotionale Lücke, die eben nicht so einfach mit rationalen und abstrakten Fakten wieder so leicht auszufüllen ist. Der Mensch ist und bleibt ein fantasiebegabtes Wesen. Er genießt gute Geschichten und verachtet andere Menschen, die ihn darüber belehren wollen, wie unrealistisch seine Lieblingsserie erzählt ist. Und Menschen interessieren sich offenbar eher für Platons Höhlengleichnis, wenn dieses in einer knackigen Actionstory rund um einen Hacker namens Neo verpackt ist, der gegen Maschinen, also im Grunde Platons Schatten, kämpft. Wir interessieren uns für die Lebenswelt des Mittelalters, schauen aber lieber fiktive Fernsehserien wie „Game of Thrones“, statt uns in historisch korrekte Bücher zu vertiefen, weil sie vielleicht nur nackte Fakten und wenig blumige Geschichten enthalten

Die Wissenschaft hinterlässt, neben all ihrer Aufklärung, eben leider auch bei vielen Menschen eine emotionale Lücke, die eben nicht so einfach mit rationalen und abstrakten Fakten wieder so leicht auszufüllen ist.

Patrick Breitenbach

Rationalität spannend erzählen

Ein Teil der Wissenschaft will bewusst rational sein. Kein Wunder, Rationalität ist ja auch ihr starkes Alleinstellungsmerkmal. Sie macht Wissenschaft eben auch glaubwürdig. In der Wissenschaft herrscht daher oft puritanische Nüchternheit, das nackte und abstrakte Denken eines Vulkaniers namens Mister Spock. Aber was wäre Spock ohne seinen draufgängerischen, emotionalen Gefährten Captain Kirk? Die Geschichte wäre langweilig.

Wissenschaft, so wie ich sie mir wünsche, und ihr eindeutiger Bildungsauftrag sind für mich unmittelbar gekoppelt an die Fähigkeit, gute Geschichten zu erzählen, um möglichst viele Menschen unabhängig ihres jeweiligen Kenntnisstandes oder Bildungsgrades zu erreichen. Wissenschaft kann und muss entzaubern, sollte dann aber unmittelbar wieder die Menschen neu bezaubern. Die Wissenschaft kann ja gerade durch ihr stetiges neugieriges Forschen im Grunde all die Wunder des Lebens ganz neu unterstreichen. Die Wunder bleiben erhalten, sie müssen nur einfach neu und spannend erzählt werden. Es gibt so viele ungeklärte Fragen, die einer spannenden Antwort bedürfen. Und wenn diese einmal gefunden wurde, sollte sie möglichst auch allen erzählt werden. In einer Art und Weise, dass so viele Menschen wie möglich sie verstehen. Sonst tun es nämlich weiterhin „die anderen“, also all die Unterdrücker, die Hassprediger, die Betrüger, die Demagogen und Abzocker. 

Bringt Wissenschaft endlich wieder auf die Straße! Macht sie sexy.

Patrick Breitenbach

Die Wissenschaft sollte nicht nur mit einer, sondern mit vielen Stimmen sprechen. Stimmen, die Erzählungen entwickeln, die andere Menschen gerne erfahren. Und erst wenn man zuhört, kann man überhaupt anfangen zu lernen. Die Wissenschaft sollte überall dort sprechen, wo sich Menschen erreichen lassen. Bringt sie also endlich wieder auf die Straße! Macht sie sexy. Nutzt alle Medien und Kanäle, die euch zur Verfügung stehen – egal ob auf Snapchat, auf Facebook, als Podcast oder in Fleisch und Blut auf einer Science-Slam-Bühne. Erzählt Geschichten. Schmückt sie. Macht sie interessant. Macht sie verständlich. Erst dann kann die Wissenschaft als neuer identitätsstiftender Erzählstrang seine ganze aufklärerische Kraft in der Gesellschaft entfalten und das gefühlte Chaos aus Ignoranz und Lügen wieder etwas in Ordnung bringen. Lasst uns als Wissenschaftler, im Namen des aufgeklärten Humanismus, einfach die besseren Geschichten erzählen.