Tony Cragg, Skulptur „Points of View“, Salzburg 2014 (Foto: [Eweht](https://bit.ly/2P5lA4w), [Points of View 04](https://bit.ly/2zM0x1L), [CC BY-SA 3.0](https://bit.ly/1p2b8Ke) via [wikimedia commons](https://bit.ly/YklbAF)
Tony Cragg, Skulptur „Points of View“, Salzburg 2014 (Foto: Eweht, Points of View 04, CC BY-SA 3.0 via wikimedia commons

Wissenschaft muss Zukunftskunst werden

Kolumne,

Wir brauchen mehr wissenschaftlich begründete Zukunftsentwürfe, fordert Uwe Schneidewind. Welche Rolle Kunst und Kreativität dabei spielen, erklärt er in seiner neuen Kolumne.

Ende August ist das neue Buch des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie mit dem Titel Die Große Transformation erschienen. Es geht auf die technologischen, ökonomischen, politischen und kulturellen Umbrüche ein, die mit der Vision einer Nachhaltigen Entwicklung verbunden sind, und trägt den Untertitel „Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels“. Das Titelbild ziert das Skulpturenensemble „Points of View“ des Bildhauers Tony Cragg. Im Buch spielt der Begriff der Zukunftskunst eine zentrale Rolle.

Ein Buch aus einem wissenschaftlichen Nachhaltigkeits-Thinktank mit solch intensiven Kunstbezügen – passt das zusammen? Eindeutig ja! Mit einem solchen Blick öffnen sich neue Perspektiven für die Klima- und Nachhaltigkeitsdebatte und für das Wissenschaftssystem insgesamt.

Schlechtes Gewissen statt Kreativität

Was zeichnet Künstler aus? Es ist ihre Kreativität, ihre Gestaltungslust, die Offenheit für das Experiment. Künstler greifen vielfältige Einflüsse und Stimmungen auf und verdichten sie in einem Kunstwerk. 

Im Umgang mit den Klima- und Nachhaltigkeitsherausforderungen lässt sich derzeit wenig von dieser Haltung finden: Die Antworten auf den Klimawandel werden als Verpflichtung und Bürde empfunden. Sie lösen ein schlechtes Gewissen statt Kreativität aus. Dabei steht hinter der Idee der Nachhaltigen Entwicklung eine faszinierende zivilisatorische Vision: Zehn Milliarden Menschen auch auf einem begrenzten Planeten die Chance zu geben, ein gutes Leben zu verwirklichen. Dass dies so ist, ist nicht der (naturwissenschaftlichen) Klimaforschung anzulasten. Sie muss durch exakte und nüchterne Mess- und Modellierungsarbeit die Dynamiken und Folgen der durch den Menschen verursachten Klimaveränderungen aufzeigen.

Das Versagen liegt vielmehr darin, dass Wissenschaft im Anschluss an ihre Forschung nur noch wenig zu bieten hat. Denn auf die naturwissenschaftliche Klimaforschung muss eine sowohl politik-, sozial- und kulturwissenschaftlich als auch ökonomisch und psychologisch aufgeklärte Transformationswissenschaft folgen, welche die Politik und Gesellschaft bei der Bewältigung der mit dem Klimawandel verbundenen Transformationsherausforderungen unterstützt.

Eine solche Wissenschaft darf nicht alleine nach vermeintlich naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten soziale Dynamiken erforschen. In einer solchen Reduktionsspirale befinden sich heute große Teile der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die Qualität von Datensätzen, die angewandte Methodik und die Ausdifferenziertheit der Modelle bestimmt deren Forschung stärker als die Relevanz des Untersuchungsbereiches.

Transformative Wissenschaft

Uwe Schneidewind (Illustration: Irene Sackmann)

Uwe Schneidewind treibt die Vision einer sozial- und ökologisch gerechten Welt im 21. Jahrhundert um. Und er ist der festen Überzeugung, dass die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben, einen zentralen Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse hat. Deswegen streitet er für eine „transformative Wissenschaft“ und erregt damit viele Gemüter im Wissenschaftssystem. Folgerichtig heißt diese Kolumne Transformative Wissenschaft.
Als Präsident des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie leitete er von 2010 bis 2020 einen der führenden Thinktanks für Nachhaltigkeitsforschung in Deutschland. Das Wissenschaftssystem und die Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft kennt er aus unterschiedlichen Perspektiven: als ehemaliger Präsident der Universität Oldenburg oder als Berater der Bundesregierung im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU). Seit dem 1. November 2020 ist Uwe Schneidewind Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal und damit in neuer Rolle in einem auch durch Wissenschaft entscheidend geprägten urbanen Transformationsraum.​

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Wissenschaftlich begründete Zukunftsentwürfe

All diese Schlüsseldisziplinen der Gesellschaftsgestaltung liefern kaum noch Orientierungswissen. Insbesondere wissenschaftlich begründete Zukunftsentwürfe sind im Wissenschaftsbetrieb auf dem Rückzug. Doch die aktuellen Gesellschaften im Umbruch brauchen genau solche Entwürfe: Wie können demokratische und inklusive Gesellschaften im Zeitalter von Populismus und Klimawandel gelingen? Wie müssen zivilgesellschaftliches Engagement und politische Steuerung künftig zusammenwirken? Was sind zukünftige Entwicklungspfade für eine dysfunktionaler werdende Wirtschaftsordnung?

Auf diese Fragen würde eine Wissenschaft antworten, die sich als Möglichkeitswissenschaft versteht. Eine solche Wissenschaft ist interdisziplinär und vergrößert die Möglichkeitsräume für all diejenigen, die eine zukunftsgerechte Welt mitgestalten wollen.

Das Versagen liegt vielmehr darin, dass Wissenschaft im Anschluss an ihre Forschung nur noch wenig zu bieten hat.
Uwe Schneidewind
Uwe Schneidewind (Foto: Bussenius & Reinicke)

Uwe Schneidewind

Die Idee der Zukunftskunst ist von einer solchen Perspektive getragen. Wissenschaft würde es guttun, sich mehr von der Ganzheitlichkeit und Inspirationskraft künstlerischen Wissens inspirieren zu lassen. Wissenschaft sollte wieder viel öfter zur Zukunftskunst werden. Sie würde damit auch gesellschaftlich an Relevanz gewinnen.