Jürgen Richter-Gebert mit einer geometrischen Figur aus Holzstäben (Foto: David Ausserhofer)
Jürgen Richter-Gebert (Foto: David Ausserhofer)

Wissenschaftskommunikation: Der Bastler

Jürgen Richter-Gebert ist ein leidenschaftlicher Modellbauer: Der Münchner Mathematiker ist spezialisiert auf Geometrie – und bastelt komplexe Formen, Mechanismen und Ideen als Modelle zum Anfassen nach, um die Prinzipien dahinter besser zu verstehen und zu vermitteln. Dafür hat er 2021 den Communicator-Preis erhalten.

Der eine Jürgen Richter-Gebert ist der, der mit Rundkragenpullover und kariertem Hemd im großen Vorlesungssaal seine Studierenden mitnimmt in die Tiefen der Mathematik. Der andere Jürgen Richter-Gebert aber sitzt bei sich zu Hause in der Dreizimmerwohnung auf dem Fußboden, umgeben von Pfeifenreinigern, Schaschlikspießen und Haargummis, und bastelt bis drei Uhr morgens geometrische Modelle. Oder er fliegt nach New York, um im MoMath – dem amerikanischen National Museum of Mathematics – seine Visualisierungs-Apps zu installieren. „Es gibt nur eine einzige Mathematik“, sagt er und schaut streng durch seine Brille, dann geht ein Grinsen über sein Gesicht: „Aber es gibt verschiedene Arten, mit ihr zu arbeiten!“

Diese Arten hat Jürgen Richter-Gebert inzwischen alle durchprobiert. Er ist Professor an der Technischen Universität München (TUM), um „Geometrie und Visualisierung“ kümmert sich sein Lehrstuhl, aber wenn er über sein Fach erzählt, wirkt er wie ein Abenteurer, der gerade seinen Rucksack packt, um auf große Expedition aufzubrechen. Da gibt es zum Beispiel diese Geschichte mit den Kleiderbügeln: Er war gerade mit seiner Frau spazieren, sie schlenderten an den Münchner Schaufenstern vorbei, und auf einmal entdeckten sie in einer der Auslagen Kleiderbügel aus Draht. Wie angewurzelt blieb er stehen, denn zu der Zeit suchte er nach Ideen für Visualisierungen für einen anstehenden Mathematikworkshop. „Das geht doch mit Kleiderbügeln!“, dachte er. 

Jürgen Richter-Gebert baut mit Kleiderbügeln geometrische Formen (Foto: Astrid Eckert/TUM)
Jürgen Richter-Gebert (Foto: Astrid Eckert/TUM)
Mathematik zum Anfassen: Communicator-Preisträger Jürgen Richter-Gebert nutzt Alltagsgegenstände wie Kleiderbügel, um geometrische Muster zu erklären.

Spontan bestellte er bei einem Großhandel 180 Stück, und als sie geliefert wurden, erfand er gemeinsam mit seinem Ausstellungsteam in kürzester Zeit etliche geometrische Modelle wie etwa eine große Kugel aus 60 Kleiderbügeln, die nur durch die Spannung des Drahts zusammenhält. Stundenlang kann Jürgen Richter-Gebert solche Anekdoten erzählen, und er schafft es dabei, die schwierigsten mathematischen Probleme so leichtfüßig zu vermitteln, als gehe es um die Grundrechenarten.

Spielerisch-explorativen Vordringens in die Mathematik

Filmporträt des Communicator-Preisträgers 2021 Jürgen Richter-Gebert.

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Jürgen Richter-Gebert (Foto: David Ausserhofer)
Jürgen Richter-Gebert: „Es gibt nur eine einzige Mathematik. Aber es gibt verschiedene Arten, mit ihr zu arbeiten!“

„Um ehrlich zu sein, habe ich eh nur studiert, um interessante Sachen zu machen“, sagt er im Rückblick. „Wenn es sich vermeiden ließ, bin ich in keine Vorlesung gegangen!“ Lieber lernte er den Stoff an seinem Studiertisch, wo er sich die härtesten Nüsse seines Fachs als Rätsel vorstellte und in Ruhe über der Lösung brütete. „In Informatik zum Beispiel war ich mein ganzes Leben in keiner einzigen Vorlesung – außer in denen, die ich selbst gegeben habe.“ Trotzdem schaffte er die Diplomprüfung spielend, in der theoretische Informatik eines seiner Fächer gewesen war. Und dass seine Methode des spielerisch-explorativen Vordringens in unbekannte Gefilde der Mathematik bestens funktioniert, hatte er bis dahin ohnehin schon bewiesen: Bereits im Grundstudium widerlegte er eine mathematische Vermutung, die sein Professor vorher aufgestellt hatte, und bis zum Diplom schaffte er es, eine Handvoll Papers in renommierten Zeitschriften unterzubringen.

Der Communicator-Preis

Katja Becker (DFG) und Andreas Barner (Stifterverband) verleihen den Communicator-Preises 2021 an Jürgen Richter-Gebert (Mitte) (Foto: David Ausserhofer)
Katja Becker, Jürgen Richter-Gebert, Andreas Barner (v.l.) (Foto: David Ausserhofer)

Diese Forscher sind Stars. Denn sie arbeiten nicht nur in Labors, sitzen nicht nur in Bibliotheken. Stattdessen stehen sie als Medienprofis sehr oft auf den großen Bühnen des Landes. Sie können meisterhaft über Forschung reden, sie begeistern für das, was vielen Bürgern sonst nicht zugänglich wäre. Sie sind die besten Anwälte für die Sache der Wissenschaft. Solche begnadeten Wissenschaftskommunikatoren als Vorbilder zu adeln und ihr außergewöhnliches Engagement zu belohnen, war im Jahr 2000 die Idee des Stifterverbandes und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Seitdem vergeben sie gemeinsam jährlich den „Communicator-Preis – Wissenschaftspreis des Stifterverbandes“. Der Stifterverband steuert das Preisgeld bei (50.000 Euro), die DFG sucht die Preisträger aus. 2021 ging die Auszeichnung an den Mathematiker Jürgen Richter-Gebert.

Das ist eine Konstante, die sich durch sein Mathematikerleben zieht: Immer war Jürgen Richter-Gebert an der Spitze dabei. Das fing schon in der Schule an, damals in der Nähe von Darmstadt, wo seine Eltern ein Gardinengeschäft betrieben. So gut war er in Mathe, dass seine Mitschüler ihm, dem geschmähten Streber, einmal sogar auflauerten und ihn verbläuten. In der Oberstufe bat ihn sein Lehrer, er möge um Gottes Willen nicht mehr aufzeigen, damit die anderen Schüler auch einmal zu Worte kämen. „Einmal aber kam dieser Lehrer morgens in die Klasse, setzte sich in die Ecke und klagte, er habe am Abend zuvor so viel getrunken, dass ihm sein Kopf zum Zerspringen wehtue“, erinnert sich Jürgen Richter-Gebert – er weiß es noch genau, denn kurzerhand ernannte ihn der Lehrer zu seinem Stellvertreter, und so baute sich der Elftklässler vorne an der Tafel auf und improvisierte eine Unterrichtsstunde über Stochastik. 

Bei Jugend forscht baute er zu der Zeit Computerbildschirme aus Oszilloskopen und ein Texterkennungssystem. Oder später im Studium: Er war im vierten oder fünften Semester, als 1986 in Darmstadt eine Symmetrieausstellung stattfand. Eine riesige Aktion war das, die sich über ein Dreivierteljahr hinzog, beteiligt waren von der Universität über das Staatstheater bis hin zum Ballett alle denkbaren Einrichtungen, und ein Matheprofessor beauftragte den vielversprechenden Studenten, ein Exponat zum abstrakten Thema „Klassifikation von Symmetriegruppen“ zu erstellen. Jürgen Richter-Gebert setzte sich also vor seinen Computer („ein Atari 1040 ST, ein ganz toller Steinzeitcomputer!“) und entwickelte ein Programm, mit dem sich Ornamente zeichnen lassen. Das war der Moment, in dem er sich endgültig für die Geometrie als Spezialdisziplin entschied.

Wissenschaft leicht erklärt

Jürgen Richter-Gebert (Foto: David Ausserhofer)
Jürgen Richter-Gebert (Foto: David Ausserhofer)

Wenn Jürgen Richter-Gebert redet, ist ihm immer noch der leichte hessische Tonfall anzuhören, auch wenn er gerade sein zwanzigjähriges Dienstjubiläum in München gefeiert hat. Und noch eins ist charakteristisch für ihn: die Pausen, die er macht, bevor er zu einer Antwort ausholt. Er sortiert dann seine Gedanken, und oft holt er zu einer Erklärung aus, die weit zurückführt in die Geschichte der Mathematik. „Ich kann Dinge nicht kompliziert erklären“, sagt er dann lachend, und es soll wie eine Entschuldigung klingen für sein geduldiges Ausholen. Und wieder geht ein Schmunzeln über sein Gesicht. „Wenn ich Vorträge vor Mathematikprofessoren halte oder vor Schülern einer sechsten Klasse, dann unterscheiden die sich eigentlich gar nicht so sehr. Das Problem ist nur, dass ich das niemandem sagen darf: den Mathematikern nicht, weil sie sich sonst nicht ernstgenommen fühlten. Und den Schülerinnen und Schülern nicht, weil sie sonst auf einmal alles viel zu komplex fänden.“

Mit diesem Grundverständnis machte er sich in seiner Habilitation daran, ein mathematisches Problem zu lösen, das zuvor 70 Jahre lang offen war – für Mathematiker ist das eine halbe Ewigkeit, es ging um den Universalitätssatz für Polytope. Als er fertig war und seine Arbeit in einer Fachzeitschrift als „Erdbeben in der vierten Dimension“ bejubelt wurde, trug er die Ergebnisse vor Hardcoremathematikern vor. Wieder erklärte er die Arbeit so leichtfüßig, dass eine Kollegin ihn nach dem Vortrag im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen fragte, ob er sich eigentlich auch schon einmal mit richtiger Geometrie beschäftigt habe. Und während Jürgen Richter-Gebert noch ungläubig nach Luft rang, nahm ihm ein anderer Zuhörer die Antwort ab: „Meinst du, das war gerade einfach, bloß weil du’s verstanden hast?“

Exponate aus Haargummis, Schaschlikspießen und Kleiderbügeln

Das ist ein Spruch, der als Motto auch über dem kleinen Mathe-Museum stehen könnte, das Richter-Gebert an der TU München eingerichtet hat. „Museum“ ist fast zu hoch gegriffen: Gerade einmal neun mal neun Meter misst der Raum, den er passenderweise „ix-quadrat“ genannt hat (ix = römisch 9). Darin will Jürgen Richter-Gebert den Beziehungsreichtum der Mathematik zeigen, die mit fast allen Phänomenen auf der Welt etwas zu tun hat, und auch ihre Ästhetik. Hier finden sich die Kleiderbügel wieder, die er damals auf dem Spaziergang mit seiner Frau entdeckt hatte, und hier stellt er neben vielem anderen die geometrischen Modelle aus, die er nachts auf seinem Fußboden aus Schaschlikspießen und Haargummis bastelt. 

Jürgen Richter-Gebert in seinem
Jürgen Richter-Gebert in seinem "Museum" ix-quadrat" (Foto: Astrid Eckert/TUM)
Jürgen Richter-Gebert in seinem kleinen Mathe-Museum an der TU München.

Die Besucherinnen und Besucher sehen die verblüffenden geometrischen Muster, die sich aus Spiegeln ergeben, die so angeordnet sind, dass sie sich untereinander spiegeln, und können alles anfassen und bespielen. Mehr als 300 Besuchergruppen pro Jahr kommen in den winzigen Museumsraum, der damit eigentlich weit über seiner Kapazitätsgrenze liegt. Und noch eins sehen sie dort: einen Tablet-Computer mit dem Programm iOrnament, das Jürgen Richter-Gebert entwickelt hat. Mit dem Finger lassen sich da Muster zeichnen, die sich nach den Regeln der Symmetrie überall auf dem Bildschirm vervielfachen. Es ist so etwas wie die Weiterentwicklung der Software, die er damals in Darmstadt auf seinem Atari geschrieben hatte, nur eben viel ausgefeilter in allen Details. Es ist nicht das erste Programm, das Jürgen Richter-Gebert geschrieben hat (für die Software „Cinderella“ zum Beispiel bekam er 2001 den Deutschen Bildungssoftware-Preis) – aber es ist das populärste. Grafiken aus der App, die gleichermaßen von Kindern wie Profidesignern benutzt wird, waren weltweit in allen Apple Stores zu sehen. „Einmal hielt ich im New Yorker Mathemusem einen Vortrag und schlenderte danach ins neue World Trade Center. Und auf einmal sah ich dort im Apple Store auf einem riesigen Demo-Bildschirm einen Film, der mit iOrnament erstellt worden war – mit dem Programm, das ich davor zu Hause entwickelt hatte“, sagt Richter-Gebert.

Ich kann Dinge nicht kompliziert erklären.

Jürgen Richter-Gebert

Mathematiker und Communicator-Preisträger

Was für die Tablet-Nutzer eine Spielerei ist, betrachtet Jürgen Richter-Gebert als mathematisches Instrument – und nur deswegen faszinieren ihn die Computer so: „Für mich sind sie ein Hilfsmittel. So wie die Astronomen mit Teleskopen arbeiten und die Biologen mit Mikroskopen, so versuche ich mithilfe des Computers verborgene Details zu entdecken.“ Und außerdem brauche er die Computerprogramme manchmal als Motivationsschub, damit er sich in die hochkomplexen Mathematik-Fragestellungen verbeißen könne. „Alle denken immer, ein Professor lasse programmieren und mache das gar nicht selbst“, sagt Jürgen Richter-Gebert und schüttelt den Kopf: Er macht es selbst – zum einen, weil es ihm Spaß macht, nachts auf dem Sofa zu sitzen, aus den Augenwinkeln irgendeine Castingshow im Fernsehen zu verfolgen und dabei vor sich hin zu programmieren. Und zum anderen, weil er solche Aufgaben an niemanden abgibt, von dem er nicht sicher ist, dass er sie genauso gut schafft wie er selbst.

Nur manchmal macht er eine Ausnahme. Dann gibt er talentierten Studentinnen und Studenten eine wichtige Aufgabe zum Programmieren, „das sind echt harte Nüsse“, merkt er an. Für den Professor ist das eine Rückkehr in seine eigene Studentenzeit, nur eben unter umgekehrten Vorzeichen: Damals bei der Darmstädter Symmetrieausstellung war es schließlich auch einer seiner akademischen Lehrer, der ihn mit einer großen Aufgabe herausgefordert hat.