Fridays for Future -Demo. (Foto: Niklas Pntk auf Pixabay)

YouTuber, Fridays for Future und die Wissenschaftskommunikation

Kolumne,

Das Rezo-Video zeige, wie lustvoll wissenschaftlich gestützte Diskurse sein können, findet MERTON-Kolumnist Uwe Schneidewind. Diese Lust an der lebendigen Auseinandersetzung spüre man in der Wissenschaft viel zu selten. Höchste Zeit, wieder mehr Haltung zu zeigen.

Das Rezo-Video im Vorfeld der Europawahl hat viel Furore gemacht. Es rückt auch eine ganz neue Form der Wissenschaftskommunikation in den Blick. Noch deutlicher wird das bei Beiträgen, die in Ergänzung zu dem Rezo-Video entstanden sind – wie zum Beispiel dem Faktencheck zu den zwölf Klimathesen der Wissenschafts-YouTuberin maiLab.

Was ist das Besondere dieser Videos aus der Sicht der Wissenschaftskommunikation?

Eine Generation, von der man glaubte, sie sei unpolitisch und eher wenig wissenschaftlich versiert, setzt sich für ein politisches Anliegen unter intensivem Zugriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse ein. Sowohl bei Fridays for Future als auch in den YouTube-Beiträgen zeigt sich eine besondere Form von wissenschaftsbasiertem gesellschaftspolitischem Engagement. Es zeichnen sich neue Kooperationsmuster einer jungen Protestbewegung mit Wissenschaftlern in der mehr als 26.000 Personen umfassenden Scientists4Future-Bewegung ab.

Wir erleben eine lustvolle wissenschaftliche Auseinandersetzung, die in weiten Teilen des heutigen Wissenschaftsgeschäftes verloren gegangen ist.
Uwe Schneidewind
Uwe Schneidewind (Foto: Bussenius & Reinicke)

Uwe Schneidewind

Worin liegt die andere Qualität dieser Wissenschaftskommunikation? Im Zentrum stehen (junge) Menschen mit einem sie stark bewegenden Anliegen. Dieses machen sie explizit und argumentieren mit wissenschaftlichen Mitteln. Es geht hier nicht allein um die Form der Kommunikation; es geht vielmehr um eine die gesamte Person umfassende Haltung, mit der das Anliegen vorgetragen wird.

Auf diese Weise erleben wir eine lustvolle wissenschaftliche Auseinandersetzung, die in weiten Teilen des heutigen Wissenschaftsgeschäftes verloren gegangen ist. Gerade die in Reaktion auf das Rezo-Video entstandenen vielfältigen „Faktenchecks“ machen deutlich, wie interessant die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Hintergründen auch für junge Menschen sein kann. Ermöglicht wurde sie durch die Kombination aus provokanten und zugespitzten Aussagen in einem Video und ihrer Hinterlegung mit wissenschaftlichen Quellen.  Das schafft die Grundlage für die vertiefte Auseinandersetzung

Was bedeutet das für den Wissenschaftsbetrieb?

Berthold Schneider, der Wuppertaler Opernintendant, mit dem ich im März 2019 das Vergnügen hatte, drei Wochen den Job zu tauschen, drückte es nach dem Tausch wie folgt aus: „Uwe, wie hältst du das nur aus? Ihr Wissenschaftler schiebt ja teilweise stundenlang Gedanken vom Hirn eines toten Körpers in das Hirn eines anderen toten Körpers und findet das ganz normal.“ Nach meiner Zeit in der Oper konnte ich diese Reaktion sehr gut nachempfinden: Künstler sind immer als ganze Person da. Erst dadurch lösen sie Resonanz und das Interesse an einer lebendigen Auseinandersetzung aus. Als Wissenschaftler verstehen wir es, uns oft allein auf den Gedanken zu reduzieren. Das ist für wissenschaftliches Arbeiten wichtig und gefährlich zugleich.

Bewegungen wie Fridays for Future oder die YouTuber wie Rezo und maiLab ermahnen uns, wieder den gesamten Menschen auch im wissenschaftlichen Handeln wiederzuentdecken: Mit ihnen erleben wir Menschen mit hoher Präsenz und als ganze Person. Das macht sie so überzeugend. Darum sehen junge Menschen 55 Minuten einem Politikvideo zu. Es ist die Authentizität, mit der die YouTuber ihre Zuhörer erreichen.

Der am Wuppertal Institut im Herbst 2018 geprägte Begriff der „Zukunftskunst“ steht genau für diese Idee: Beobachtungs- und Ausdrucksformen der Kunst als Inspirationsquelle dafür zu nutzen, um auch unser Verständnis von einer Wissenschaft in Transformationsprozessen zu erweitern. 

Das belebt eine Wissenschaft, die oft den Anschein erweckt, kein Anliegen zu haben; eine Wissenschaft, die sich viel zu oft darauf zu beschränken scheint, den Status quo – ein „There is no alternative“ (TINA) – mit vermeintlich rationalen Argumenten zu verteidigen, obwohl die Welt nach Veränderung schreit.

Transformative Wissenschaft

Uwe Schneidewind (Illustration: Irene Sackmann)

Uwe Schneidewind treibt die Vision einer sozial- und ökologisch gerechten Welt im 21. Jahrhundert um. Und er ist der festen Überzeugung, dass die Art und Weise, wie wir Wissenschaft betreiben, einen zentralen Einfluss auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse hat. Deswegen streitet er für eine „transformative Wissenschaft“ und erregt damit viele Gemüter im Wissenschaftssystem. Folgerichtig heißt diese Kolumne Transformative Wissenschaft.
Als Präsident des Wuppertal Institutes für Klima, Umwelt, Energie leitete er von 2010 bis 2020 einen der führenden Thinktanks für Nachhaltigkeitsforschung in Deutschland. Das Wissenschaftssystem und die Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft kennt er aus unterschiedlichen Perspektiven: als ehemaliger Präsident der Universität Oldenburg oder als Berater der Bundesregierung im Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU). Seit dem 1. November 2020 ist Uwe Schneidewind Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal und damit in neuer Rolle in einem auch durch Wissenschaft entscheidend geprägten urbanen Transformationsraum.​

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Wie viel lustvoller und anregender ist es, wenn Menschen mit Anliegen aufeinander treffen und sich auf wissenschaftliche Argumente beziehen. Das tut der Wissenschaft und der Kraft des Argumentes gut.
Uwe Schneidewind
Uwe Schneidewind (Foto: Bussenius & Reinicke)

Uwe Schneidewind

Wie viel lustvoller und anregender ist es, wenn Menschen mit Anliegen aufeinander treffen und sich auf wissenschaftliche Argumente beziehen. Das tut der Wissenschaft und der Kraft des Argumentes gut.

Wissenschaft und Wissenschaftskommunikation sollten den Ball aktiv aufgreifen, den die Bewegung Fridays for Future sowie YouTuber wie Rezo oder maiLab in ihr Feld spielen. Dabei geht es um mehr als nur um neue Kommunikationsformate: Es geht auch um Authentizität und um den transparenten und offenen Umgang mit Werturteilen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung.

Es gilt, Wissenschaft wieder stärker als Möglichkeitswissenschaft  zu konzipieren, die mit kraftvollen Argumenten nach Alternativen für eine wünschenswerte Zukunft sucht und sich nicht auf die Legitimation eines ungenügenden Status quo beschränkt. Das ist es, was im Kern „transformative Wissenschaft“ bedeutet.