Hand am Server
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Die Hand am Server ist die Hand, die die Welt regiert

Online-Projekte sind fragile Gebilde. Sie leben von Enthusiasmus, Lust und Kommunikation der Beteiligten. Gehen diese Antriebsmittel bei Projektverantwortlichen verloren, droht Ungemach, weiß unsere Kolumnistin. Wohl dem Projekt, das die Machtverteilung von Beginn an klug austariert hat.

Der Busfaktor ist eine Messgröße aus der Softwareindustrie. Er gibt an, wie viele an einem Projekt Beteiligte vom Bus überfahren werden können, bis das Projekt zum Stillstand kommt. Der Wikipedia-Eintrag „Bus factor“ beschreibt das Problem nur im Zusammenhang mit Softwareentwicklung. Aber schon wenn man eine Onlinecommunity zum Thema Forellenzucht oder Fußball betreibt, wird man früher oder später mit dem Busfaktor konfrontiert werden: Wichtige Dateien des Projekts liegen auf dem privaten Server von jemandem, der sich nicht mehr darum kümmert. Die Person, die dringend benötigte Tools beigesteuert hat, verabschiedet sich und hinterlässt undokumentierte, unwartbare Software. Ein häufiger Engpass sind Domains. Nur wenige Onlineprojekte geben sich eine offizielle Rechtsform und lassen eine juristische Person als Domaininhaber eintragen. Wenn die Gründer keine Lust mehr haben, kann es derart schwierig werden, die Domain von ihrem privaten Besitzer übertragen zu bekommen, dass es einfacher ist, stattdessen ein neues, ähnliches Projekt aufzusetzen. Ich hatte beide Rollen schon mehrmals inne: die der Ex-Gründerin, die Jahre für die Domainübergabe braucht, und die der Nachfolgerin, die es Jahre kostet, den Vorgängern alle für die Weiterarbeit nötigen Zugangsdaten und Berechtigungen zu entlocken.

Die Nutzung fremder Plattformen bringt andere Probleme mit sich und ist aus Datenschutzgründen oft unbeliebt. Wer statt einer Website nur eine Facebook-Gruppe hat und die Dokumentation bei Google Docs oder GitHub aufbewahrt, bewahrt aber zumindest die Funktionsfähigkeit des Projekts auch dann, wenn die Gründergeneration die Lust verliert. Einzelne können der gemeinsamen Sache dann nicht ganz so leicht den Stecker ziehen.

Ein Ticket wurde eröffnet

Kathrin Passig
Kathrin Passig (Foto: Susanne Schleyer/autorenarchiv.de)

Wer Kathrin Passigs Texte im Techniktagebuch liest, erfährt von ihren recht häufigen Reisen, vorzugsweise nach Irland. Dort schlägt sie sich nicht selten mit den Besonderheiten des Mobilfunks herum oder ergründet das kryptische Postleitzahlen- oder nicht vorhandene Hausnummernsystem. Ohnehin sind die Kapriolen der Technik offenbar ihr Herzensthema und charmante Betrachtungen wie z.B. über die hin und wieder zu erlebende Änderung der Wagenreihung bei der Deutschen Bahn lassen unvermittelt an den großen Jaques Tati denken. Doch wo Tati den Tücken des Technischen konsequent und humorvoll-linkisch erlag, findet Kathrin Passig immer einen souveränen Zugang zu den Unergründlichkeiten der postmodernen Technikwelt. Technik - so lernt man bei ihr - ist weder gut oder schlecht: Es kommt nur darauf an, wie man sich ihr nähert. Technik muss uns nicht immer so schrecklich ängstigen, sie muss uns aber auch nicht besoffen machen. Manchmal ist Technik ärgerlich und oft einfach nur komisch - in jedem Falle aber lohnt es sich, über sie nachzudenken. Darüber schreibt Kathrin Passig hier eine Kolumne, die den verheißungsvollen Titel Ein Ticket wurde eröffnet trägt. 

60 Admins beim Techniktagebuch

Onlineprojekte funktionieren in dieser Hinsicht grundsätzlich anders als herkömmliche: Vereine oder Bürgerinitiativen haben physische Räume, Schlüssel, Verträge, Geräte zu verwalten. Es ist nicht praktikabel und oft auch gar nicht möglich, allen Beteiligten Zugriff auf die Gegenstände zu gewähren. Bei einer digitalen Community ist das technisch kein Problem.

Die Blogplattform Tumblr kennt kaum abgestufte Berechtigungen zur Bearbeitung von Beiträgen. Das dort wohnende Techniktagebuch hat um die 60 regelmäßige Autoren. Alle sind Admins und können die Beiträge aller anderen bearbeiten. Die Ernennung zum Admin ist unwiderruflich. Ich kann als Gründerin nicht Amok laufen und alle anderen vor die Tür setzen, ich habe nur die Option, selbst das Projekt zu verlassen. Wenn einer meiner Mitautoren plötzlich Stimmen hört, die ihm befehlen, alle Beiträge zu löschen, lässt sich dagegen aber auch nichts unternehmen. Die Admin-Rolle bei Facebook-Gruppen funktioniert anders: Wer eine Gruppe eröffnet, kann andere Mitglieder befördern, aber alle Admins können sich gegenseitig wieder zu einfachen Bürgern herabstufen.

Ein hierarchisch organisiertes System bringt immer die Tendenz zur Zentralisierung der Macht mit sich. Zu sehen war das 2014, als Streitigkeiten über einen neuen, laienfreundlicheren Wikipedia-Editor dazu führten, dass ein deutscher Admin eigenmächtig diesen Editor für die deutsche Wikipedia abschaltete und Erik Möller, der Vizechef der Wikimedia Foundation, daraufhin einen neuen Status namens Superprotect einführte. Mit Superprotect geschützte Seiten können auch von Admins nicht mehr bearbeitet werden. Die Hand am Server ist die Hand, die die Welt regiert. Wenn es die technische Möglichkeit für Einzelpersonen gibt, anderen durch das Umlegen eines Schalters die Macht zu entziehen, dann wird von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gemacht werden.

Checks and Balances

Über den Machtmissbrauch durch Einzelne wird nicht erst nachgedacht, seit es das Internet gibt. In der Welt der Offlinepolitik hat dieses Nachdenken Lösungen hervorgebracht wie das Checks and Balances-System, die horizontale Gewaltenteilung, die zeitlich befristeten Machtpositionen. Man könnte solche Antworten in Softwareform gießen, bisher ist das aber noch kaum geschehen. Das soll kein Vorwurf sein, die traditionelle Politik hat immerhin einige Jahrtausende Vorsprung.

Wenn man den Zugriff auf Räume, Dokumente und Rechte auf viele Personen verteilen will, braucht man die Möglichkeit, Änderungen rückgängig zu machen. Nur dank dieses Prinzips gibt es Wikis, die auch ohne vorherige Anmeldung durch jeden geändert werden dürfen. Was Texte und Software angeht, ist das Konzept inzwischen weitverbreitet, aber ein gelöschter Blog, eine Facebook-Gruppe oder eine Diskussionsplattform verschwindet immer noch unwiderruflich. Hilfreich wäre auch ein Mehrschlüsselsystem: Man könnte zum Beispiel technisch vorgeben, dass Änderungen von einer bestimmten Anzahl anderer Nutzer genehmigt werden müssen. Es muss Möglichkeiten geben, die Probleme zu beheben, die amtsmüde, betrunkene oder wütend gewordene Nutzer verursachen. Die Verlagerung von Rechten auf eine höhere Hierarchieebene erzeugt neue, größere Probleme, die amtsmüde, betrunkene oder wütende Nutzer auf dieser Ebene verursachen.

Diese Erwägungen wirken so lange harmlos und rein theoretisch, wie die Gründer voller Enthusiasmus sind, die Community klein bleibt und sich alle einig sind. Die Qualität der politischen Strukturen eines Gemeinwesens erweist sich erst in schlechten Zeiten. Deshalb zahlt es sich aus, wenn man schon vorher darüber nachgedacht hat, welche technischen und sozialen Machtverteilungsmechanismen ein Projekt vor den Folgen von Busunfällen schützen können.