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Data Literacy – schön wär’s!

Kolumne,

Die Corona-Pandemie zeigt klar auf, dass es mit der Datenkompetenz vieler Bürger nicht weit her ist. Warum die sogenannte Data Literacy eine der wichtigsten Fähigkeiten unserer Zeit ist, erklärt Gunter Dueck in seiner neuen Kolumne.

Was ist das, Data Literacy? Na klar, man muss Daten sammeln, auswerten, professionell und ethisch mit ihnen umgehen. Das sollte man können! Es wird zu wenig über das Interpretieren von Zahlen nachgedacht, auch über die Kompetenz, manipulierte Daten oder Argumente zu erkennen und überhaupt zu merken, wenn Menschen bewusst zur Täuschung oder aus Data Illiteracy schräg oder absichtsvoll argumentieren und das mit Daten „belegen“.

Ich habe mich nun ein Jahr lang über Zahlen rund um Corona gestritten. Das hat mich vieler Illusionen beraubt. Das waren jetzt keine Leute ohne Hauptschulabschluss, sondern Akademiker, mit denen man einfach nicht auf einen Fakten-Nenner kommen konnte. Behauptung: „Bei der Querdenker-Demo in Berlin waren 800.000 oder sogar 1,3 Millionen, die Polizei lügt!“ Ich habe ungläubig gefragt, wie plötzlich so viele Leute in Berlin auftauchen können, ob es Sonderzüge gegeben habe et cetera (zur früheren Cebit in Hannover kamen ein paar Hunderttausend über eine Woche, was ein logistisches Problem war). Man könnte nun aus dem Kontext normalen Lebens schließen, dass die Zahlen nicht stimmen können. Das geschah nicht. Man glaubte in dieser Zeit auch viele Monate lang, dass die Tests zu viele „falsch Positive“ diagnostizieren, darüber gab es Bücher – aber man testete schon bald nach „positiv“ ein zweites Mal, als Tests nicht mehr Mangelware waren. 

Dann folgte die kollektive Leugnung einer zweiten Welle, was uns vielleicht so 20.000 Leichtsinnstote einbrachte. Statistik: Anfang November 2020 war die britische Variante des Virus zu 5 Prozent in Großbritannien vertreten, zu Weihnachten nahe 100 Prozent. Das dauerte also sechs bis acht Wochen. Mitte Februar 2021 war in Deutschland die neue Mutante mit 5 Prozent vertreten, Anfang März wurde über Lockerungen diskutiert und schließlich zugelassen. Mitte März lag der Anteil der Mutante bereits bei mehr als 70 Prozent. Kann es vielleicht sein, dass wir Ende März im Schlamassel enden? Der Focus berichtete Anfang März: „Infektionen steigen, aber die Todesfälle sinken!“ Toll, was? Es liegt daran, dass die Toten noch zur abklingenden Welle zählen, aber das Ansteigen der Neuinfektionen die neue Mutante ankündigt. Oft wird argumentiert: „In Schweden ist alles besser, sie haben gestern nur zwei Tote gehabt!“ Das liegt daran, dass die Fälle in fast allen Ländern am Tag der Meldung als Fall gezählt werden, aber in Schweden rückwirkend an dem echten Todestag in die Statistik eingehen; wenn also die Meldungen circa zehn Tage brauchen, sind die Zahlen der letzten Tage immer sehr niedrig, sie werden später korrigiert.

Direct Dueck

Gunter Dueck (Illustration: Irene Sackmann)
Gunter Dueck (Illustration: Irene Sackmann)

Gunter Dueck besitzt die Gabe, einen in innere Jubelstürme ausbrechen zu lassen. Das gelingt ihm, wenn man ihn als Vortragenden auf der Bühne erlebt, aber auch mit seinen Texten und Büchern, mit seinen Interviews. Er schafft es auf ganz außergewöhnliche Weise die Dinge auf den Punkt zu bringen: Oft schleicht er sich erst an ein Thema heran, um dann umso hartnäckiger ein Problem herauszuarbeiten. Seine Thesen trägt er zumeist ruhig und gelassen vor, und doch sind sie oft – das merkt man manchmal erst später – messerscharfe Fallbeile. Dann erheben sich – siehe oben – die inneren Jubelstürme. Und oft jubeln ihm die Menschen nicht nur innerlich zu: Auf großen Tagungen wie der re:publica ist er ein unumstrittener Star. Umso schöner, dass er das MERTON-Magazin mit einer regelmäßigen Kolumne bereichert. Er nennt sie „Direct Dueck“, was auf ein paar schöne scharfe Fallbeile in Textform hoffen lässt. 

Alle MERTON-Kolumnen von Gunter Dueck

Zur Beurteilung von Daten ist eine Menge Kontextwissen erforderlich, auch dafür, Manipuliertes oder einfach Falsches zu erkennen.
Gunter Dueck (Foto: Michael Herdlein)

Gunter Dueck

Mathematiker und Philosoph

Ich will damit sagen, dass zur Beurteilung von Daten eine Menge Kontextwissen erforderlich ist, auch dafür, Manipuliertes oder einfach Falsches zu erkennen. „Wenn wir mehr testen, gibt es mehr Fälle – im Grunde ist gar nichts los.“ Wie geht man mit einer solchen Aussage um? An solchen Stellen sollten Menschen so viel Bildung haben, dass sie merken, wann sie etwas selbst nicht beurteilen können. Weiter brauchen sie viel Bildung, um zu erkennen, wer es richtig beurteilen kann und auch so beurteilt. „Ich habe meinen alten Hausarzt gefragt, dem vertraue ich, weil er oft was gegen Grippe verschreibt.“ – „Ich misstraue der Politik, also glaube ich den Querdenkern.“ – „Die Seuche ist von der Pharmalobby erfunden.“ Ich wende ein: „Lässt sich denn die unendlich viel stärkere Öl-Auto-Tourismus-Lobby das einfach so gefallen?“

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Foto: iStock/ Wavebreakmedia

Im 21. Jahrhundert sollte möglichst jeder Studierende erlernen, Daten auszuwählen, zu analysieren und zu interpretieren. Den meisten fehlen jedoch diese Fähigkeiten. Hochschulen beginnen nur langsam, entsprechende Lehrformate zu entwickeln und anzubieten. Ein Netzwerk des Stifterverbandes will das jetzt ändern.

Mit Trump und Trollen für mehr Datenkompetenzen

Ich will hier absolut nicht wieder „nur Corona“ aufblättern, ich nehme die Beispiele einfach aus Ihrem jetzigen Leben. Wenn die Daten nicht vollständig sind, wenn sie unter Umständen gar nichts bedeuten können, weil zum Beispiel Corona neu ist, dann braucht es eine Menge Urteilskraft, richtig mit ihnen umzugehen. Diese Urteilskraft sehe ich in der Breite nicht. Man weiß oft nicht einmal, welche Daten überhaupt wichtig sind. Beispiel: Deutsche Unternehmen messen sich traditionell am Gewinn, also an ihrer Ertragskraft. Neue Unternehmen aber wie damals Amazon, dann Google, Facebook, Tesla, heute Beyond Meat oder AppHarvest wurden/werden jahrelang unterschätzt, weil sie wegen ihres immensen Infrastrukturaufbaus in den ersten Jahren lange Zeit nur hohe Verluste schreiben. Ist das nicht klar und notwendig? Nein, deutsche Unternehmen machen so etwas nicht, weil sie nach den alten Regeln denken und keinen Verlust machen wollen. An dieser falschen Sicht krankt derzeit unsere ganze Volkswirtschaft. Wir beurteilen das Neue anhand von Kennzahlen, an denen wir „schon immer“ etablierte Unternehmen messen. Da sind ganze Etagen im Topmanagement verblendet – bei Themen rund um Innovation ist Data Illiteracy fast die Regel. 

Noch ein Beispiel kollektiver – ach, ich schreibe mal – Dummheit: Wir machen wegen der Corona-Pandemie HUNDERTE Milliarden neuer Schulden. Dann aber verhandelt man lange hin und her, ob eine Impfdosis 12 oder 18 Euro kosten soll. 80 Millionen Einwohner mal 2 Impfdosen ergibt also je nach Preis grob gerechnet 2 oder 3 Milliarden. Wenn ich nun schnell handele und 1 Milliarde drauflege, wenn ich einfach zur Vorsicht bei mehreren Herstellern gleichzeitig kaufe, also auf Verdacht viel zu viele Dosen kaufe, dann spare ich doch – sagen wir – 100 Milliarden? Es geht mir nicht um das Zocken, aber die höheren Preise hätten den Impfentwicklern auch früh erlaubt, schnell die Produktion höher zu skalieren. Und man fragt sich, was Politik so denkt – über das Beschaffen von Masken, Impfdosen oder Tests. Und die Bevölkerung schließt die Augen vor einer zweiten und jetzt gerade vor einer dritten Welle und zahlt dieses Jahr für die Data Illiteracy noch einmal 100 Milliarden dazu; darüber hinaus retten wir bald Staaten, die für ihre Irrtümer nicht so viel Geld aufnehmen können.

Ich habe hier nur die Probleme der Urteilskraft angerissen. Urteilskraft kann durch Zahlen verbessert werden, aber sie muss auch schon einmal als Grundlage vorhanden sein. Bildung und Kontextwissen sind gefragt! Plausibilitätssinn ist bitter nötig („Ich habe in der Klassenarbeit ausgerechnet, dass 17 mal 3 gleich 83 Millionen ist. Hast du das auch raus?“). Das Verständnis für Abläufe fehlt („Einen Tag vor Weihnachten ist der Impfstoff in großer Eile EU-genehmigt worden. Warum liefert das Unternehmen nicht schon nach Weihnachten aus? Können die nicht schon mal auf eigenes Risiko 100 Millionen Dosen vorfabrizieren? Wenn das Zeug danach in den Studien echt wirken sollte, können wir es sofort verteilen“). Die Einsicht in Managementprobleme ist generell so gering, dass sehr viele Mitarbeiter sehr seltsame Erklärungsmuster bilden, die an Verschwörungstheorien grenzen („Ich vermute, dass die da oben ...“).

Urteilskraft kann durch Zahlen verbessert werden, aber sie muss auch schon einmal als Grundlage vorhanden sein.
Gunter Dueck
Gunter Dueck (Foto: Michael Herdlein)

Gunter Dueck

Wer die Abläufe und Zusammenhänge nicht kennt, beurteilt nicht nur falsch, sondern lässt sich täuschen, verführen und zur Kasse bitten. „Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe.“ Diesen Satz kennen Sie sicher, aber Sie lachen leider darüber. Das kommt Sie teuer zu stehen. Zur Urteilskraft gehört auch eine Art von Bildung, wer welche Interessen hat und vertritt ...

Oh, ich merke, das Thema ufert aus. Nehmen Sie es kurz so: Data Literacy ist ein hilfreicher Teil unseres Urteilsvermögens – und sie wird wichtiger, weil es immer komplexere Abläufe, verschiedene Interessenlagen, noch mehr Trolle und Demagogen im Netz, Marketing, Blendwerk und absichtliche „Abgrenzung von allem anderen zur sichtbaren Profilierung“ gibt. Data Literacy wird in den Medien nicht wirklich priorisiert, denn das intelligent Dumme, wenn es schrill genug ist, kommt in Talkshows, aber die blasse Wahrheit braucht bald eine Quote.

Es geht dabei nicht nur um die individuelle Data Literacy, sondern um das Vorherrschen der Data Literacy in einer Kultur. Was hilft es, wenn die Mehrheit das Falsche glaubt, weil es ihr besser so passt, wenn es eingängig klingt oder gar nützt?