Foto: iStock.com/RichVintage
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Wahrheit oder Lüge? Warum Medienkompetenz für Schüler so wichtig ist

So gut wie alle Kinder ab zwölf Jahren surfen im Internet. Nur bringt ihnen kaum jemand bei, wie sie trotz Fake News und Manipulationen sicher durchs Netz navigieren. Schulen müssen ihnen Medienkompetenz vermitteln, fordert der Medienethiker Matthias Rath. Und das internationale Projekt Lie Detectors fängt schon mal damit an.

Es ist eine dieser merkwürdigen im Internet kursierenden Geschichten, die Juliane von Reppert-Bismarck mit in die Klasse nimmt. „In Thailand hat ein Mann eine Schlange geheiratet, eine Kobra, weil er sie für die Reinkarnation seiner verstorbenen Freundin hielt“, erzählt sie den Schülern und erklärt, dass etablierte Medien in ganz Europa darüber im November 2016 auf ihren Webseiten berichtet haben. „Wahr oder falsch?“, will sie wissen und zählt die Anzahl der Stimmen, die für das eine oder für das andere plädieren. Knapp 90 Minuten bleiben ihr dann, um mit den Schülern die richtige Antwort herauszufinden.

Die Zeit ist kurz. Juliane von Reppert-Bismarck erwartet nicht, dass die 15-Jährigen danach das Handwerk beherrschen und wissen, wie sie vermeintliche Fakten checken können, die ihnen im Netz begegnen. „Es ist ein Erfolg für uns, wenn es gelingt, bei den Kindern und auch bei den Lehrern Neugier und Interesse zu wecken, damit sie sich weiter mit dem Thema befassen“, sagt sie. 

Keine Kontrolle

Früher war die Medienwelt recht übersichtlich. Kinder lasen Bücher und Zeitschriften, die sie sich am Kiosk kauften, Bravo oder Mädchen. Sie sahen sich im Fernsehen „Pippi Langstrumpf“ oder „Schloss Einstein“ an. Manche hatten daheim einen Computer, auf dem sie spielen durften. Die Eltern wussten, was läuft. Heute stehen den Kindern die schier unendlichen Möglichkeiten des Internets offen. Sie können sich Filme anschauen, spielen, sich über soziale Medien vernetzen oder informieren, wie es ihnen gefällt. Das Problem: Ihnen steht nicht nur die gute Seite, die der Möglichkeiten des Internets, offen, sondern auch die böse, die der Fake News, des Populismus und der Manipulation. Und das, worauf sie zugreifen, was sie weiter verbreiten, lässt sich von den Eltern kaum noch kontrollieren.

Die Zugangspforte zu dieser digitalen Welt ist in der Regel das Smartphone und das besitzt heute fast jedes Kind ab seinem zwölften Lebensjahr. 89 Prozent der Jugendlichen zwischen zwölf und 19 Jahren sind täglich online, im Schnitt mehr als drei Stunden und 41 Minuten, hat die JIM-Studie 2017 des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (mpfs) in einer Umfrage unter 1.200 Kindern und Jugendlichen herausgefunden (JIM steht für Jugend, Information, (Multi-)Media). Dabei sind sie seltener auf klassischen Webseiten unterwegs. Um zu surfen, zu kommunizieren, Videos anzuklicken oder online zu spielen, nutzen sie vor allem mobile Plattformen. Doch diese Kanäle funktionieren wie Informationsmultiplikatoren: Von vielen Seiten fließen dort Meldungen ein, deren Quellen sich dann häufig kaum noch identifizieren lassen, warnen die Studienmacher.

Wir können das Thema nicht alleine den Eltern überlassen, zumal sie ja selbst häufig im Umgang mit digitalen Medien überfordert sind.
Matthias Rath (Foto: privat)
Matthias Rath (Foto: privat)

Matthias Rath

Medienethiker und Leiter der Forschungsstelle Jugend – Medien – Bildung an der PH Ludwigsburg

Woher kommen die Artikel, die auf den Konten bei WhatsApp, Instagram oder Snapchat gelandet sind? Sind das Nachrichten? Ist das Werbung? Oder sind das Fake News? Um Kindern dabei zu helfen, sich in diesem Wirrwarr an Informationen und Desinformationen zurechtzufinden, hat von Reppert-Bismarck Lie Detectors (deutsch: Lügendetektoren) gegründet. Seit Anfang 2017 schickt die gemeinnützige Organisation Journalisten in Schulen, die den Kindern Medienkompetenz vermitteln, ihnen erklären, wie echte Nachrichten gemacht sind, wie sie selbst im journalistischen Alltag Quellen überprüfen – und was den Job eines Bloggers von dem des Journalisten unterscheidet.

Ein kritisches Bewusstsein, das Know-how, wie man Fakten checkt: Für den Medienethiker Matthias Rath gehört das unbedingt zur Medienkompetenz dazu. Er fasst den Begriff aber weiter: „Kinder und Jugendliche müssen außerdem wissen, wie digitale Medien technisch funktionieren, wie sie in ihrer ganzen Breite nutzbar sind – und wie sie selbst eigene Medien produzieren und gestalten können“, erklärt der Professor, der am Institut für Philosophie und Theologie der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg die Forschungsstelle Jugend – Medien – Bildung leitet.

Schulen müssten diese Kompetenzen vermitteln, fordert er. Denn mit digitalen Medien umgehen zu können, sei heute eine Kulturtechnik und so wichtig wie Lesen und Schreiben. „Nur für den, der diese Kompetenz beherrscht, ist ein gleichberechtigter Zugang zur digitalen Welt und zu ihren Möglichkeiten, sich zu informieren, gewährleistet“, sagt der Medienethiker. Und das sei für die demokratische Meinungsbildung essenziell. „Deshalb können wir dieses Thema auch nicht allein den Eltern überlassen, zumal sie ja selbst häufig im Umgang mit digitalen Medien überfordert sind.“    

Wir müssen Medienkompetenz in den Curricula der Schulen verankern.
Juliane von Reppert-Bismarck (Foto: privat)
Juliane von Reppert-Bismarck (Foto: privat)

Juliane von Reppert-Bismarck

Journalistin und Gründerin von Lie Detectors

Juliane von Reppert-Bismarck sieht das ähnlich. Weil sie das Thema so wichtig findet, nimmt sie eine Auszeit von ihrem eigentlichen Job als Journalistin. Anstatt aus aller Welt für das Newsweek-Magazin oder für die Nachrichtenagentur Reuters zu berichten, reist sie durch Europa und wirbt für ihr Projekt. Sie arbeitet mit in einem Gremium zusammen, das die Europäische Kommission zu Fake News berät, und hält Vorträge auf Konferenzen, um zu erklären, wie wichtig es ist, Medienkompetenz in den Curricula der Schulen zu verankern. „Finnland ist eines der ersten Länder, in dem es inzwischen im Lehrplan steht“, sagt sie.   

Schulen ignorieren die Welt der Kinder

Illustration: Maren Amini

Schulen in Deutschland dagegen sind in der Regel auch heute noch internetfreie Zonen. Auch das belegt die JIM-Studie. Smartphones, Laptops oder Tablet-PCs werden im Unterricht kaum eingesetzt. Nur das Whiteboard und der Computer kommen mehrmals in der Woche zum Zug. „Schulen ignorieren damit die Welt der Kinder“, sagt Rath. Dabei würden Lehrer mit dem Thema längst nicht mehr alleingelassen. Er listet öffentliche Anbieter auf, die dafür Unterrichtsmaterial ins Netz stellen: das Projekt „so geht MEDIEN“ vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk zum Beispiel, die Initiative „Medienpass NRW“ des Landes Nordrhein-Westfalen oder das Portal „mebis“ des Landesmedienzentrums Bayern.

Die Workshops von Lie Detectors sollen Lehrern den Zugang zum Thema leicht machen. Keine Vorbereitung, kein Aufwand. „Man braucht nicht mehr als zwei Unterrichtsstunden, einen Klassenraum und einen Internetzugang mit Präsentationsbildschirm“, sagt die Projektleiterin. Nur die Journalisten sind gefordert. Für ihren Auftritt in der Klasse werden sie in einem Workshop geschult. Ihre Zielgruppe sind 10- bis 11-Jährige, die gerade beginnen, sich ins Internet zu begeben. Und 14- bis 15-Jährige, die dabei sind, sich ein Bild von der Welt zu machen und eine politische Meinung zu entwickeln.  

Bisher haben an den Workshops etwa 1.000 Schüler teilgenommen, zunächst in Brüssel, seit diesem Sommer auch in Berlin und Leipzig. Ab Herbst werden in Mecklenburg-Vorpommern und bald in Österreich, Polen und den Niederlanden Journalisten in Schulen geschickt. 

Fake News erkennen

Nach den Erfahrungen von Reppert-Bismarcks verstehen die Schüler in der Regel sehr gut, was Fake News sind. „Falsche Nachrichten, das ist Mobbing, das ist Rache oder Stimmungsmache gegen jemanden, den man nicht leiden kann“, sagen sie in den Workshops. Sie wissen auch, dass Leute versuchen, mit reißerischen Geschichten Geld  zu machen, und wie man Nachrichten im Netz verbreitet: Sie liken, was sie mögen, oder stellen hässliche Fotos von „Frenemys“ ins Netz, von Mitschülern, zu denen sie nach außen hin freundlich sind, die sie aber eigentlich nicht mögen. „Man muss dieses Wissen nur übertragen auf die Nachrichtenwelt“, sagt die Projektleiterin. 

Haben die Kinder verstanden, dass die Meldung von dem Mann und der Kobra nicht stimmt, geben die Journalisten ihnen eine Liste mit Webseiten an die Hand, mit der sie weitere vermeintlich wahre Informationen gegenchecken können. Auch darüber, dass Journalisten im Alltagsstress nicht immer gründlich arbeiten oder dass sie sich hin und wieder dazu hinreißen lassen, ein eher langweiliges Thema aufzubauschen, um es interessanter darzustellen, wird in dem Workshop diskutiert. „Dazu haben wir uns Spiele ausgedacht, die das nachvollziehbar machen“, sagt von Reppert-Bismarck. Entscheidend sei dann, den Schülern zu verdeutlichen, dass Journalismus, der manchmal fehlerhaft oder polarisierend ist, sich dennoch nicht mit falschen Informationen vergleichen lässt, die ins Netz gestellt werden – um Stimmung zu machen und zu manipulieren. 

Die Bewahrpädagogen, die das Internet am liebsten wieder abschalten würden, um seiner Unkontrollierbarkeit entgegenzuwirken, dürfen nicht weiter an der Realität vorbeiunterrichten.
Matthias Rath (Foto: privat)
Matthias Rath (Foto: privat)

Matthias Rath

Lernbox für Lehrer

Und nach dem Workshop? „Mit den Checklisten können die Schüler weiter an dem Thema arbeiten“, sagt Juliane von Reppert-Bismarck. Außerdem ist für die Nachbereitung eine Art Lernbox in Arbeit, aus der sich Lehrer wohlproportionierte Einheiten herausnehmen können. „Material für eine halbe Stunde Medienunterricht für 11-Jährige zum Beispiel oder dreimal eine Unterrichtsstunde für 15-Jährige“, erklärt sie.

„Das Thema Medienkompetenz muss endlich an Schulen ankommen“, sagt der Medienethiker Matthias Rath. „Die Bewahrpädagogen, die das Internet am liebsten wieder abschalten würden, um seiner Unkontrollierbarkeit entgegenzuwirken, dürfen nicht weiter an der Realität vorbeiunterrichten.“

„Wenn Medienkompetenz irgendwann von allen Lehrern mitgedacht und unterrichtet wird, ist Lie Detectors überflüssig“ sagt von Reppert-Bismarck. Das ist ihr fernes Ziel. Es wird wohl noch einige Jahre dauern, bis es erreicht ist – und sie wieder aus aller Welt für Medien wie Newsweek oder Reuters berichtet.

Hintergrund

Logo: Stifterverband/Sven Sedivy
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Die Digitalisierung hat die Arbeitswelt verändert - und das Bildungssystem muss sich darauf einstellen. Die Nachwuchskräfte von morgen brauchen andere Kompetenzen. Dafür sind flexible, innovative Formen des Lernens notwendig. Der Stifterverband fördert diese mit dem neuen Aktionsprogramm Future Skills. In der Programmlinie #Schule geht es beispielsweise um die Vermittlung digitaler Kompetenzen in Schulen und der Lehrerbildung. 

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