3D-Rendering Gehirn/Computerplatine
Foto: Mariia Shalabaieva/Unsplash+)

Mithilfe von Daten und steigenden Computerleistungen kann die Therapie von Parkinson und Alzheimer verbessert werden.

Wie KI die Neurologie verändern wird

Seit 50 Jahren fördert die „Schilling-Stiftung“ herausragende medizinische Forschung. Zum Jubiläum setzt sie nun auf „Computationale Neurologie“. Was sie bewegen soll, berichtet der Schlaganfallforscher Ulrich Dirnagl im Interview. Ein Gespräch über wegweisende Therapien, vergeudete Datenströme und neue Hoffnung für Querschnittgelähmte.

Herr Dirnagl, wird Künstliche Intelligenz (KI) die Therapie von Parkinson oder Alzheimer verändern?
Ja, davon gehe ich aus. Denn in der klinischen Wissenschaft waren es fast immer methodische Durchbrüche, die im Nachgang diagnostische und therapeutische Durchbrüche ermöglicht haben. Denken wir nur an die Bildgebung und die Magnetresonanztomographie (MRT). Bevor es diese Methode gab, war man über hochauflösende Bilder von Organen glücklich. Dann konnten wir plötzlich mit der MRT Organbewegungen darstellen, zum Beispiel ein schlagendes Herz, oder aber den Blutfluss im Gehirn beobachten - heute sogar Nervenverbindungen, das ist absolut fantastisch! Das hat Teile der Medizin revolutioniert.

Was könnte KI in der Neurologie jetzt anstoßen?
Das wissen wir noch nicht, das müssen wir erforschen - wobei sich manches schon abzeichnet. Ich gebe Ihnen ein spektakuläres Beispiel, das im Bereich der Neurochirurgie angesiedelt ist: In der Schweiz hat man einen jungen Mann aus den Niederlanden, der seit mehr als zehn Jahre nach einem Unfall querschnittgelähmt war, wieder zum Gehen gebracht.

Wie hat man das gemacht?
Man hat seine Hirnströme durch implantierte Elektroden abgeleitet, die zwischen Knochen und Hirn liegen. Diese Hirnströme wurden dann mit Techniken der Künstlichen Intelligenz  verknüpft, um das System lernen zu lassen, welche Impulse aus dem Gehirn bei dieser Person die Füße und Beine bewegen. Die Mediziner konnten so über eine „digitale Brücke“ die im Hirn ausgelesenen Impulse direkt an das untere Rückenmark senden, das bei diesem Patienten noch intakt war. Er kann dadurch tatsächlich aufstehen und jetzt wieder Laufen.

Das ist faszinierend.
Absolut! Der Mensch allein hätte diese Übersetzungsleistung nicht geschafft und nicht gewusst, was er genau für den Empfängersensor programmieren soll. Und dieses Beispiel zeigt ein enormes Potenzial, auch mit Blick auf Parkinson, wo man in der Therapie bereits tiefe Hirnstimulationen vornimmt und im Zuge dieser Behandlung von Patienten fortwährend Hirnströme verfolgt. Solche Daten halten wir also schon in der Hand. Wenn wir diese mit Techniken der KI kombinieren und weiter erforschen - dann kann ich mir auch hier neue Anwendungen und Therapieformen vorstellen.

Kann man mit KI Alzheimer oder Parkinson also bald heilen?
Nein, das glaube ich nicht, das wäre übertrieben. Im Moment geht es vielmehr darum, Diagnostik und Therapie zu verbessern: mithilfe von Daten, neuen mathematischen Möglichkeiten und Computerleistungen. Beides lässt sich höchstwahrscheinlich mit KI viel besser und feiner auf die Person abstimmen, was dann größere Erfolge bringen und Therapien effizienter und verträglicher machen würde. Doch das müssen wir zunächst im Labor und anschließend dann zusammen mit klinischen Forschern am Patienten beweisen.

Ulrich Dirnagl

Ulrich Dirnagl (Foto:Peter Himsel)

Der renommierte Mediziner Ulrich Dirnagl leitete bis 2022 die Abteilung für Experimentelle Neurologie an der Berliner Charité. Er ist seit 2017 zudem Gründungsdirektor des QUEST Centers for Responsible Research am Berlin Institute of Health. Von 1999 bis 2009 war Ulrich Dirnagl selbst geförderter Stiftungsprofessor der „Schilling-Stiftung für medizinische Forschung“. Anschließend wirkte er über Jahre hinweg dort im Stiftungsbeirat mit, bis er vor zwei Jahren in den Stiftungsvorstand berufen wurde.

„Der Meta-Forscher“: Ulrich Dirnagl im Durchfechter-Podcast

Das KI-Potenzial der ungenutzen Datenströme

Hätten Sie auch hier ein Beispiel?
Nehmen wir den Patienten auf der Intensivstation, dessen Gesundheitszustand ständig überwacht werden muss. Dort messen die Geräte fortwährend Daten, die man viel intensiver als bislang nutzen könnte: Hirndruck, Blutdruck, Atemfrequenz und noch vieles mehr. Während meiner Doktorarbeit vor mehr als 30 Jahren habe ich bereits versucht, aus diesen Datenströmen etwas herauszulesen: Wo gibt es Übereinstimmungen oder Muster? Und könnte man mit solchen Mustern vielleicht Aussagen über den weiteren Krankheitsverlauf treffen oder lernen, welche Therapie im Moment gebraucht wird? Wir haben damals diese Datenströme isoliert mit den mathematischen und statistischen Methoden ausgewertet, die es damals gab – ohne KI und leistungstarke Computer.

Und ist Ihnen das geglückt?
Wir sind nicht weit gekommen. Es gibt in diesem Bereich bis heute keine wesentliche Veränderung: Bislang ist nichts Relevantes an Mustern und darauf aufbauenden Voraussagen für die Patienten herausgekommen. Mit den neuen Methoden der KI könnte sich das in ein paar Jahren grundlegend verändern. Denn man könnte damit theoretisch die Datenströme aller Intensivpatienten mit einer bestimmten Diagnose analysieren und weitere Parameter hinzufügen, wenn es sinnvoll ist. Dies und die hohe Rechenleistung wären eine ganz andere Ausgangslage als die, die wir vor 30 Jahren hatten.

„Wir glucken auf unseren Ergebnissen“

Fakt ist, dass wir in der Forschung und ganz besonders in der medizinischen Wissenschaft an unseren Erkenntnissen zu sehr festhalten - wir glucken auf unseren Ergebnissen! Damit sollten wir aufhören und unsere Daten stattdessen teilen.
Ulrich Dirnagl (Foto:Peter Himsel)

Ulrich Dirnagl

Bislang wird KI in den deutschen Forschungslaboren und Kliniken kaum genutzt. Wollen Schilling-Stiftung und Stifterverband das mit ihrer Sonderausschreibung „Computationale Neurologie“ jetzt ändern?
Das wäre ein sehr hoch gestecktes Ziel! (lacht) Wir wollen aber definitiv mit einem herausragenden Forscherteam ein Zeichen setzen und in den kommenden acht Jahren zeigen, wie spannend speziell das Feld der Computationalen Neurologie ist.

Diesen neuen Begriff müssen Sie uns erklären: Was bedeutet „Computationale Neurologie“?
Es gibt nicht die eine Comuputationale Neurologie. Der Begriff soll eigentlich nur ausdrücken, dass hier eine Wissenschaft im Bereich Neurologie aktiv ist, die stark datengetrieben ist und sich darum bemüht, aus diesen Daten mittels neuer Rechenverfahren Erkenntnisse zu gewinnen. Ob dies im ambulanten Bereich, im stationär klinischen Bereich, in der Behandlung, Prävention oder Voraussage von Krankheiten passiert - das ist alles offen.

Ist die Ausschreibung entsprechend offen gemeint? Sie haben sie im Vorstand der Schilling-Stiftung mitgestaltet.
Ja. Wir haben eine Stiftungsprofessur ausgeschrieben über acht Jahre, für die sich herausragende Persönlichkeiten aus der Grundlagenforschung der Medizin, Naturwissenschaft, Mathematik und den Ingenieurwissenschaften bewerben können - eine Forschungsgruppe inklusive. Wir nennen diese Kombination „Schilling-Abteilung“. Wir möchten mit dieser neuen Schilling-Abteilung ein innovatives und strukturell wegweisendes Forschungsvorhaben mit 3 Millionen Euro an der Schnittstelle von Daten- und Naturwissenschaft, projektgebundener Industriekooperation und klinischer Forschung in der Neurologie voranbringen. Dabei ist uns der Bezug in die angewandte Forschung hinein sehr wichtig, weshalb die Leitung eines Universitätsklinikums bei diesem Vorhaben mit im Boot sitzen muss. Es ist auch so, dass diese Schilling-Abteilung nach Ablauf der Förderung nicht einfach aufhört zu existieren. Sowohl die Klinik als auch die Fakultätsleitung müssen gleich zu Anfang zusagen, dass sie die Strukturen bei Erfolg nach acht Jahren im Wesentlichen übernehmen.

Die Stifter und ihre Stiftung

Hermann Schilling lebte von 1893 bis 1961 und war Staatsfinanzrat der Preußischen Staatsbank und im Vorstand der Vereinigten Elektrizitäts- und Bergwerks-Gesellschaft (VEBA) gewesen. Seine Frau Aloysia, genannt „Lilly“ Schilling, führte nach seinem Tod die gemeinsame Stiftungsidee weiter und gründete 1970 die „Hermann und Lilly Schilling-Stiftung für medizinische Forschung“. Acht Jahre später verstarb auch sie. Die Stiftung befindet sich seit 1970 in der Verwaltung des Stifterverbandes. Volker Meyer-Guckel, Generalsekretär des Stifterverbandes, bildet neben dem Mediziner Ulrich Dirnagl den Vorstand der „Schilling-Stiftung für medizinische Forschung“.

Mehr zur Stiftung

Sie sprechen das in wissenschaftlichen Förderkreisen seit 1996 fast schon berühmte „Tandem-Fördermodell“ der Schilling-Stiftung an.
Dieses Modell ist in der Tat legendär, weil es Ende der 90er Jahre ein wichtiges strukturelles Problem in der Biomedizin anging und dann auch zu dessen Lösung beitragen konnte: die bis dato schlecht funktionierende sogenannte Translation. Damit ist gemeint, dass neue Erkenntnisse und wegweisende Behandlungsmethoden aus dem Labor möglichst schnell beim Patienten in der Klinik ankommen und nicht bloß in einem wissenschaftlichen Magazin veröffentlicht werden und schlimmstenfalls in einer Schublade verschwinden. Und umgekehrt ist gemeint, dass wichtige Forschungsfragen aus der Klinik zügig in der Forschung ankommen. Ich glaube, das Tandem-Modell ist einer der vielversprechendsten Wege, um diese Translationen erfolgreich zu machen. Deshalb wird auch in der aktuellen Ausschreibung die Stiftungsprofessorin oder der Stiftungsprofessor nur gefördert, wenn sie oder er ein eng mit einer Klinikchefin oder einem Klinikchef abgestimmtes Forschungsvorhaben vorlegen kann.

Für ein Vorhaben im Bereich Computationale Neurologie braucht es die bereits angesprochenen Datenquellen. Sind die nicht noch ein Problem - Stichwort Datenschutz?
Sicher, da brauchen wir ein Umdenken in den Kliniken, in der Politik und bei den Patienten selbst. Was ich mir aber erhoffe ist, dass mehr Forschende und mehr Klinikleitungen in den kommenden Jahren - und auch durch unsere Schilling-Abteilung - erkennen, wie wenig Sie bislang aus der Datenflut machen, die sie ja teils selbst produzieren. Fakt ist, dass wir in der Forschung und ganz besonders in der medizinischen Wissenschaft an unseren Erkenntnissen zu sehr festhalten - wir glucken auf unseren Ergebnissen! Damit sollten wir aufhören und unsere Daten stattdessen teilen.

Das klingt vielversprechend. Ich danke Ihnen für das Gespräch!