(Illustration: Mimi Potter/adobe Stock_bearbeitet)
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Lasst den Wandel zu!

Die deutschen Unternehmen stecken jährlich viel Geld in Forschung und Entwicklung (FuE), doch bahnbrechend innovativ sind sie dabei immer seltener, sagt der Wirtschaftsforscher Gero Stenke. Ein Gastbeitrag.

Auf den ersten Blick scheint alles tadellos. „Die Beschäftigungsentwicklung im Jahr 2018 wird rekordverdächtig“, sagt Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Aktuell beläuft sich die Arbeitslosenquote in Deutschland auf gut 5 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs 2017 um 2,2 Prozent. Ein Wert, der wohl auch im laufenden Jahr in etwa erreicht werden wird. Dennoch sieht nicht alles rosig aus. Der Grund: ein Konzentrationsprozess im Innovationssystem.

Wachstum entsteht durch neue Produkte und Problemlösungen, kurz: durch Innovationen. Für seine Innovationskraft wird Deutschland allenthalben gelobt. Die Meldungen des Stifterverbandes passen dabei ins Bild: Im Jahr 2016 wurden in Deutschland insgesamt 92,4 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung (FuE) in Unternehmen, Hochschulen und öffentlichen FuE-Einrichtungen gesteckt. Hervorzuheben dabei: Fast 70 Prozent aller FuE-Mittel stammen aus Unternehmen der Wirtschaft. Diese Unternehmen haben zugleich ihre Mittel für FuE um mehr als 3 Prozent gegenüber dem Vorjahr erhöht; von 2014 auf 2015 waren es gar 6,9 Prozent. Auch das Personal in diesem Bereich wurde auf umgerechnet 413.000 Vollzeitstellen aufgestockt. 

Gero Stenke

Gero Stenke (Foto: David Ausserhofer)

Gero Stenke leitet beim Stifterverband das Aktionsfeld Innovation und ist Geschäftsführer der Wissenschaftsstatistik, einem Forschungs- und Beratungs­institut. Es erhebt, analysiert und interpretiert Daten zum deutschen Innovations­system. Stenke forscht zu der Frage, wie Innovationen in Unter­nehmen und Regionen entstehen, wie sie gefördert und gemessen werden können. Er studierte Wirtschafts­geographie sowie Betriebs- und Volks­wirtschafts­lehre an der Universität Hannover und an der London School of Economics. 

Gero Stenke auf Twitter

Wie viel Kraft steckt in unseren Innovationen?

Diese Meldung ist tatsächlich ein Grund zur Freude. Doch sie verführt zu einer gefährlichen Gelassenheit und zu mangelnder Selbstreflexion. Denn wahr ist auch, dass die Produktivitätszuwächse in Deutschland immer kleiner ausfallen. Innovationen beeinflussen die Produktivitätsentwicklung maßgeblich. Wie viel Kraft steckt also tatsächlich in unseren Innovationen? Denn auch über eine nachlassende Forschungsproduktivität der Unternehmen wird inzwischen laut diskutiert: Um ein neues Produkt zu erschaffen, braucht es im Vergleich zu früheren Zeiten immer mehr Ressourcen. Trotzdem ist das Produkt dann nur sehr selten eine bahnbrechende Neuerung.

Wer hinter die Kulissen blickt und weitere Daten heranzieht, der kann klar erkennen, dass das deutsche Innovationssystem einen Konzentrationsprozess erlebt. „Fokussierung auf Kernkompetenzen“ wird so etwas gern genannt. Weil Technologien komplexer werden und auch Inflation eine Rolle spielt, sind immer größere Summen für die Entwicklung eines neuen Produktes nötig. Dies betrifft vor allem Großunternehmen, denn FuE findet weitgehend dort statt. In Deutschland entfielen 2015 fast 81 Prozent der FuE-Aufwendungen und 72 Prozent des entsprechenden Personals auf Unternehmen dieser Größenordnung – Tendenz weiter steigend. Etwa die Hälfte der FuE-Aufwendungen wird von Unternehmen mit mehr als 10.000 Beschäftigten erbracht. Deutschland und Japan sind damit weltweit die Länder mit der stärksten Konzentration der FuE-Aufwendungen in Großunternehmen.

Starke Automobil-, schwache IT-Branche

Auf Branchenseite ist der Automobilbau Deutschlands herausragende Stärke. Fast 35 Prozent der Aufwendungen und gut ein Viertel des Personals für FuE der Wirtschaft sind dort verortet. Die Konzentration hat sich in den vergangenen Jahren eher verstärkt als reduziert. Doch eine solche Spezialisierung birgt auch riskante Abhängigkeiten. Dagegen sind typische spitzentechnologische Branchen wie die Herstellung von Datenverarbeitungsgeräten, elektronischen und optischen Erzeugnissen oder auch FuE im Dienstleistungssektor in Deutschland deutlich unterrepräsentiert.

Und die Konzentration schreitet weiter voran: In Deutschland nimmt, wie in vielen anderen Industrieländern ebenfalls, der Anteil von Unternehmen, die überhaupt Innovationsaktivitäten durchführen, seit geraumer Zeit ab. In den vergangenen 20 Jahren ist der Anteil von 53 Prozent auf aktuell 35 Prozent gesunken. FuE konzentriert sich also auf eine immer kleiner werdende Gruppe von Unternehmen, meist Großunternehmen. Problematisch ist, dass damit das deutsche Innovationssystem von einer schrumpfenden Gruppe etablierter Unternehmen abhängig ist. Ein Ausfall einzelner Akteure birgt damit zunehmend größere Risiken für das Gesamtsystem. Strukturwandel täte also gut. 

Das deutsche Innovationssystem ist von einer schrumpfenden Gruppe etablierter Unternehmen abhängig.
Gero Stenke (Foto: David Ausserhofer)

Gero Stenke

Leiter "Innovation" beim Stifterverband

Kaum Unternehmensgründungen

Doch verschärfend kommt hinzu, dass in Deutschland immer weniger Unternehmen neu gegründet werden, gerade in technologieintensiven Wirtschaftszweigen. Damit verliert das deutsche Innovationssystem zunehmend das Potenzial, sich aus sich selbst heraus zu erneuern und herauszufordern.

Die Gründe für den Rückgang der Gründungsraten von innovativen Unternehmen sind vielfach diskutiert worden. Sie reichen von Schwächen in der Ausbildung bei Schulen und Hochschulen über mangelnde Finanzierungsmöglichkeiten, insbesondere bei Wagniskapital bis hin zu soziokulturellen und psychologischen Faktoren. Weniger im Fokus stehen die etablierten Unternehmen. Doch machen wir uns nichts vor: Die Präsenz starker Großunternehmen in klassischen Industriebranchen ist auch Ausdruck einer klaren Marktkonzentration, verbunden mit einer entsprechenden Marktmacht. Diese Unternehmen sind in ihren jeweiligen Technologiefeldern extrem gut positioniert, sie sind finanzstark und haben, etwa mithilfe von Patentierung, hohe Markteintrittsbarrieren für mögliche Wettbewerber aufgebaut. All dies reduziert die Möglichkeiten und die Motivation potenzieller Neugründer. Wurde dann doch mal ein Unternehmen gegründet, können die Jungunternehmer dem Reiz eines attraktiven Kaufangebotes durch einen Großkonzern oft nicht widerstehen. Wir brauchen also Deregulierung, eine bedarfsgerechte Infrastruktur und finanzielle Rahmenbedingungen, die Gründern den Marktzugang deutlich erleichtern und Strukturwandel ermöglichen. Nur so kann das deutsche Innovationssystem die Agilität lernen, nach der allenthalben so laut gerufen wird.

Wir brauchen mehr qualifizierte Fachkräfte

Schließlich mag ein wesentlicher Grund für nachlassende Produktivität, Gründungsdynamik und Innovationsaktivität auch in der mangelnden Verfügbarkeit qualifizierter Fachkräfte liegen. Dies betrifft die Realisierung von Innovationen ebenso wie die Verbreitung neuer Technologien. So belegen empirische Studien, dass viele Beschäftigte nicht die erforderlichen Kompetenzen besitzen, um Informations- und Kommunikationstechnologien im Unternehmen wirklich effektiv einsetzen zu können. Verschärft wird das Problem durch unzureichende infrastrukturelle Ausstattungen, wie etwa mit Breitbandinternet. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass trotz voranschreitender Digitalisierung keine positiven Effekte auf die Produktivität durchschlagen.

Auch das in den Unternehmen eingesetzte Forschungspersonal lässt sich noch immer mit den Begriffen „männlich, deutsch, MINT“ beschreiben. In Deutschland besetzen forschende Frauen in der Wirtschaft nur knapp ein Viertel der Arbeitsplätze des wissenschaftlichen FuE-Personals. Qualifikationen außerhalb der MINT-Studiengänge sind kaum zu finden: Nur eine von zehn Stellen ist mit einem Arbeitnehmer mit anderen Qualifikationen besetzt. Diese Struktur wird sich letztlich negativ auf das gesamte deutsche Innovationssystemen auswirken.

Es wird Zeit, dass wir nicht mehr nur über Offenheit und Veränderungen sprechen, sondern endlich beginnen, sie zu realisieren.