Illustration: Sebastian Niemann/K3

Heimspiel?! Das digitale Tagebuch des Bildungswissenschaftlers Dr. D

Kolumne,

Über kaum eine gesellschaftliche Entwicklung wird so intensiv geredet wie über Digitalisierung. Auch bei der Bildung. Doch hier – meint unser neuer Kolumnist Markus Deimann – geht es häufig recht unreflektiert zur Sache. Höchste Zeit, das Thema systematisch anzugehen: Dr. D – übernehmen Sie!

Erster Eintrag

Sitze im ICE von Hamburg nach Mannheim und lese dank WIFIonICE über einen Roboter, der zum ersten Mal in der langen Geschichte von Universitäten eine Lehrveranstaltung eröffnet hat. Ich frage mich, warum dies ein renommiertes Nachrichtenmagazin wie Spiegel Online zu einem Anruf bei dem zuständigen Professor nötigt ­– und zu einer anschließenden Veröffentlichung des Gesprächsprotokolls.

Aber ich sollte mich vielleicht erst einmal vorstellen. Ich bin Dr. D, Bildungswissenschaftler, also jemand, der dafür bezahlt wird, sich über Bildung Gedanken zu machen. Das mache ich nun schon seit über 15 Jahren. Dabei geht es um Medien und darum, wie diese Bildung unterstützen oder auch behindern können. Am Anfang nannte man das E-Learning, heute heißt es Digitalisierung von Bildung. Aber so richtig klar ist es noch immer nicht geworden, was damit gemeint ist. Am Anfang traf sich eine überschaubare Gruppe von Menschen zum Diskutieren über E-Learning, heute ist es gefühlt die halbe Menschheit, die über die Digitalisierung redet. Am Anfang gab es eine überschaubare Anzahl von Technik(en), mit denen experimentiert wurde, heute verliert man schnell den Überblick und hat nur noch eine nebulöse Vorstellung. Am Anfang spielte E-Learning keine große Rolle für die Hochschulen, heute ist Digitalisierung von strategischer Bedeutung. 

Es passiert also eine ganze Menge und für mich wird es Zeit für eine Einordnung. Viele Themen werden von vielen verschiedenen Gruppen und Akteuren ins Spiel gebracht, mit sehr unterschiedlichen Interessen und Zielen. Dass dabei häufig von Bildung gesprochen wird, freut mich durchaus. Aber eigentlich ärgere ich mich mehr darüber, wie unreflektiert mit dem Bildungsbegriff umgegangen wird. Es wird sehr oft ein Pflichtfach Informatik gefordert. Man könnte ebenso gut ein Pflichtfach Bildungsphilosophie fordern. Dies macht kaum jemand, was daran liegt, dass Bildungsphilosophie kein besonders gut vermarkt- und verwertbares Fach ist. Aber es kann uns helfen, uns über Phänomene wie die Digitalisierung, die gerne als gesellschaftlicher Transformationsprozess dargestellt wird, zu verständigen. Es kann uns Orientierung in dieser Zeit des Umbruchs und der Disruption geben.

Wie das gehen kann, möchte ich in dieser Kolumne zeigen. Ich werde mir die Digitalisierung aus meiner Perspektive anschauen, das heißt als ein an Technik interessierter Bildungswissenschaftler. Ich werde dazu auch mein Verständnis von Bildung offenlegen und hinterfragen. Ich mache dies allerdings nicht nur für mich, sondern möchte zum Mitdenken einladen. Digitalisierung, so lesen wir ständig, betrifft uns alle. Darüber reden tun jedoch nur wenige. Zugehört wird am meisten denjenigen, die am lautesten rufen und entweder die Revolution von Bildung oder den Untergang der Menschheit vorhersagen. In beiden Fällen ist es die Digitalisierung, die das auslösen soll. Gibt es dazwischen etwa nichts? 

Wollen wir eigentlich den Roboter im Hörsaal?

Praktischer Assistent für Professoren: der humanoide Roboter Pepper (Foto: Projekt H.E.A.R.T)
Praktischer Assistent für Professoren: der humanoide Roboter Pepper (Foto: Projekt H.E.A.R.T)
Praktischer Assistent für Professoren: der humanoide Roboter Pepper

Im Fokus von Berichten zur Digitalisierung steht meistens die Technik oder ein „humanoider“ Roboter, dem wir Menschen nun dankbar sein sollen, dass er uns die schwere Bildungsarbeit abnimmt. Wir werden jedoch gar nicht gefragt, ob wir einen Roboter im Hörsaal haben wollen, er wird einfach reingefahren. Algorithmen werden ebenso aus dem Grund eingesetzt, dass es sie nun gibt und dass sie viel besser als jeder Lehrende wissen, was gut für uns ist. Ob das aus bildungsphilosophischer Perspektive Sinn ergibt, wird erst gar nicht diskutiert. Dabei bieten gerade Algorithmen Anlass, sich über Fragen jenseits der eingesetzten Technik zu verständigen: Wer programmiert den Algorithmus, mit welchem Bildungsverständnis im Hinterkopf? Wer darf den Code einsehen und verändern?

Geht es dabei tatsächlich um Bildung? Oder geht es um Manipulation des Menschen? Was verstehe ich eigentlich unter Bildung? Habe ich überhaupt ein klar definiertes Bildungsverständnis, so wie etwa Ingenieure ein Verständnis von Thermodynamik haben? Oder kann man das gar nicht vergleichen? Ich versuche mich trotzdem an einer Klärung meines Bildungsverständnisses.

Bildung umfasst im Kern für mich zwei Aspekte: Es geht darum, mich als Mensch zu entwickeln, zu entfalten oder auch zu befreien (zum Beispiel von den Eltern). Das passiert, indem ich mich mit der Welt und mit anderen Menschen um mich herum beschäftige. Das kann auf ganz verschiedene Weise geschehen und niemand, auch kein Computer, kann dies vorhersehen. Bildung kann man nicht verordnen oder befehlen, wir bilden uns einfach, indem wir uns in der Welt bewegen. Bildung ist auch mehr als Lernen, Kompetenz oder Wissen. Bildung ist Ausdruck von Persönlichkeit. Der zweite Aspekt betrifft nicht die einzelne Person, sondern alle Menschen zusammen. Es geht um das Menschenbild, das heißt um die Vorstellung, die wir von uns als Gattung haben. Was macht uns Menschen aus? Was unterscheidet uns von Tieren oder Robotern? Ebenso wie bei der ersten Kategorie kann sich auch das Menschenbild im Laufe der Zeit ändern. Technik spielt dabei eine große Rolle, was im Bild vom Homo Faber zum Ausdruck kommt. Mit der Digitalisierung ändert sich das noch einmal. Haben wir nun den Homo Digitalis, wie er uns in der Webdokumentation bei Arte präsentiert wird? Was macht ihn aus? Wie lange bleibt er bestehen? Was kommt danach?

Algorithmen werden ebenso aus dem Grund eingesetzt, dass es sie nun gibt und dass sie viel besser als jeder Lehrende wissen, was gut für uns ist. Ob das aus bildungsphilosophischer Perspektive Sinn ergibt, wird erst gar nicht diskutiert.
Markus Deimann
Markus Deimann (Foto:privat)

Markus Deimann

Diese und weitere Fragen werde ich in dieser Kolumne diskutieren und mir dabei Themen wie Fake News und Hate Speech anschauen. Dahinter stehen technologische Innovationen der künstlichen Intelligenz, die uns auf fundamentale Weise herausfordern. Wir sollten uns dazu kritisch verhalten. Das bedeutet für mich, dass wir weder in die Rolle des passiven Konsumenten, der brav alle neuen Geräte kauft, noch in die des mahnenden Verweigerers, der sich selbst und alle anderen vor der Digitalisierung schützen muss, verfallen. Stattdessen geht es mir um die aktive Beschäftigung mit dem aktuellen Diskurs und um die Reflexion sozialer, politischer und ökonomischer Veränderungen. So werden immer wieder neue „Trends“ lanciert, die eigentlich nichts anderes sind als alter Wein in neuen Schläuchen. Oder es werden quasi revolutionäre Errungenschaften mit dem Aufkommen neuer Technik verbunden, etwa in Bezug auf das Lernen und Lehren. Konsequent weitergedacht laufen diese Ansätze allerdings auf eine Reversion von Bildung hinaus. Es geht dann nämlich nicht mehr um Autonomie und Emanzipation, sondern um Anpassung und Manipulation.

Es steht uns also eine spannende Reise in eine ungewisse Zukunft bevor. Ich freue mich, wenn Sie mich dabei begleiten. 

Bildung trotz(t) Digitalität

Illustration: Irene Sackmann

Markus Deimann beschäftigt sich seit 2001 mit Bildung und Digitalisierung. Er arbeitete an verschiedenen Hochschulen und promovierte und habilitierte im Fach Bildungswissenschaft. Er provoziert gerne mit Texten, Vorträgen oder im Podcast „Feierabendbier Open Education“. Es geht ihm um eine sachlich-kritische Auseinandersetzung mit Technik, jenseits von Hype und Untergangsphantasien. Seit 2017 gehört er zum Kernteam des Netzwerks für die Hochschullehre im Hochschulforum Digitalisierung (HFD). Auf MERTON schreibt er als Dr. D. eine regelmäßige Kolumne mit dem vieldeutigen Titel Bildung trotz(t) Digitalität. 

Markus Deimann auf Twitter.